Erfinder, Techniker und Unternehmensgründer

Der Historiker Johannes Bähr hat eine Biografie über Werner von Siemens geschrieben

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Werner von Siemens sei „in seiner Sphäre ebenso vorbildlich für das deutsche Volk wie Bismarck in der seinigen“ gewesen: „Er besaß in höchster Vollendung Kräfte, denen die Deutschen ihre besten Erfolge verdanken, und die sie weiter pflegen müssen, wenn sie im Daseinskampfe bestehen sollen.“ Zu derart steilen Vergleichen würde sich heute niemand mehr versteigen. Aber damals, im letzten Jahrzehnt des Kaiserreichs, empfand man das keineswegs als deplatziert. Richard Ehrenberg, ein der Wirtschaft außerordentlich wohlgesonnener Professor der Nationalökonomie, hatte mit solchen Wendungen den Rang seiner Studie über die „Unternehmungen der Brüder Siemens“ markieren wollen. Über einen ersten, bis 1870 reichenden Band ist er jedoch nicht hinausgelangt.

1906, als Ehrenbergs Buch publiziert wurde, war die Firma Siemens den eng gewordenen Schuhen der Gründungsphase längst entwachsen, die deutsche Wirtschaft war in die Epoche eines sich verzweigenden, hochgradig sich organisierenden Kapitalismus übergewechselt und erfreute sich bereits seit Jahren an den Früchten einer anhaltenden, robusten Konjunktur. Deutschland, das vergleichsweise spät in den Kreis der Nationalstaaten eingetreten war, strebte nach dem „Platz an der Sonne“ und wollte den etablierten Kolonialmächten mindestens ebenbürtig sein. Zum gesellschaftlichen Klima und den bürgerlichen Mentalitäten dieser Zeit gehörte es, erfolgreiche Unternehmer zu nationalen Lichtgestalten zu erheben. Kein Zufall, dass davon auch der Nachruhm von Werner Siemens, seit 1888 Werner von Siemens, profitierte, schien er doch geradezu idealtypisch deutsche Innovationskraft, deutschen Erfindergeist und technologische Überlegenheit zu verkörpern.

Siemensʼ Geburtstag jährte sich am 13. Dezember 2016 zum 200. Mal. Aus diesem Anlass, angeregt und gefördert vom Historischen Institut der Firma Siemens, hat ihm Johannes Bähr eine Biografie gewidmet, die einleitend ein „neues, zeitgemäßes Bild“ verspricht. Das ist einigermaßen ambitioniert, mit Blick auf etliche seiner Vorgänger wirkt es ein wenig vollmundig. Denn aufregende, den bisherigen Kenntnisstand prinzipiell erweiternde Einsichten bietet das Buch kaum, aber dadurch, dass es intensiver als bisher üblich das private Umfeld des Protagonisten einbezieht und ausleuchtet, gewinnt es ein hohes Maß an Geschlossenheit. Naheliegend ist diese Perspektive insofern, als Werner Siemens tatsächlich ein ausgeprägter Familienmensch mit ebenso ausgeprägtem Sinn für Pflicht und Verantwortung war. Er wuchs als viertes von insgesamt 14 Kindern im Haushalt eines nicht eben von Erfolg verwöhnten Gutspächters auf und übernahm nach dem Tod der Eltern wie selbstverständlich die Rolle als Beschützer und Versorger, Erzieher und Ratgeber. Von Haus aus nicht mit materiellen Gütern gesegnet, fiel ihm das in den frühen Jahren seiner beruflichen Existenz nicht leicht. Die familiären Bindungen blieben auch fürderhin außerordentlich eng. Davon zeugen die vielen Briefe, die er regelmäßig mit den Geschwistern austauschte, auch die Zuwendungen, wenn Not am Mann war, vor allem aber die Beteiligung einiger Brüder an seinen Projekten.

Damit kommt eine zweite, sehr wesentliche Dimension in Bährs Biografie ins Spiel. Sie gilt dem Typus, dem Operationsmodus und den fortwährend sich ausweitenden Aktivitäten des Unternehmers Werner Siemens. Ein Fabrikant oder Geschäftsmann, der ausschließlich auf Profit und Profitmaximierung aus ist, war er nicht. Siemens selber hat das wiederholt betont. Gewiss, nach „Gewinn und Reichtum“ habe er schon gestrebt, bekennt er in seinen 1892 erstmals publizierten, seither mehrfach bis in unsere Tage aufgelegten „Lebenserinnerungen“: aber nicht um des Genusses willen, sondern um die nötigen Mittel für die Realisierung neuer Projekte zu gewinnen. Im „Geschäft“ sei Gelderwerb nicht der einzige und schon gar nicht der vorrangige Zweck. In erster Linie habe er ein „Reich“ gegründet, um es „ungeschmälert“ seinen Nachkommen zu überlassen, die ihrerseits darin zum Wohl des Ganzen weiter weben und streben sollten. Das war, geschrieben kurz vor dem Tod, sicher ein gutes Stück Selbststilisierung, der Versuch, die Deutungshoheit über die eigene Lebensgeschichte in der Hand zu behalten – aber völlig aus der Luft gegriffen war es nicht. Für Johannes Bähr bestätigen sich in dieser Bemerkung die wesentlichen Prinzipien, an denen Siemens sein Handeln ausrichtete: „das Streben nach einem höheren Ziel, der Drang, Dauerhaftes zu schaffen“ und die Familie „als Fundament unternehmerischen Wirkens.“

Insofern war es kein Zufall, dass er sich bis zum Schluss dagegen sperrte, die Firma in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Diesen – in der Welt des modernen Kapitalismus schon aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit überfälligen – Schritt vollzog erst sein Bruder und Nachfolger auf dem Chefsessel, Carl von Siemens. Das Kapital blieb zunächst allerdings zur Gänze im Besitz der Familie, 1914 hielt sie noch immer 64 Prozent. Dazu passte, dass es Werner Siemens vermied, sich von Banken abhängig zu machen. Deren immer wichtiger werdende Funktion bei der Finanzierung industrieller Projekte lag quer zu den eigenen Denk- und Wahrnehmungshorizonten. Gegen die Börse und das, was er „Börsenschwindel“ nannte, hegte er deutliche Aversionen, sein Ideal war der Fabrikant, nicht jedoch der spekulative Kaufmann. „Reelles und nicht nur Geldinteresse muss man an einem Geschäft haben, wenn es befriedigen soll“, schrieb er 1863 seinem Bruder Wilhelm.

Bähr charakterisiert den Porträtierten als „Erfinderunternehmer“, als einen Mann, der Unternehmer wurde, um eigene Entdeckungen zur Produktionsreife zu bringen und im Markt zu etablieren. Seinen Erfolg sah Werner Siemens wesentlich darin, dass „die Fabrikation zum großen Teil auf eigenen Erfindungen“, mindestens ebenso sehr aber auch auf Weiterentwicklungen und Verbesserungen von Patenten Dritter beruhte. Das Bild, das er von sich hatte und vermittelte, reichte über einen Nur-Industriellen weit hinaus; er suchte die Nähe von kongenialen, technologisch bewanderten Zeitgenossen, mit dem Physiker Hermann von Helmholtz war er befreundet, und die Berufung in die Preußische Akademie der Wissenschaften empfand er, so Bähr, als „Krönung seiner Biographie“. Weniger Freude weckte dagegen der 1870 verliehene Titel eines „Geheimen Kommerzienrates“, denn er habe sich, wie er in seinen Lebenserinnerungen betont, stets mehr als „Gelehrten und Techniker“ betrachtet und gefühlt. Mit dieser Selbsteinschätzung korrespondiert die Überzeugung, dass die „Industrie eines Landes niemals eine international leitende Stellung“ würde behaupten können, wenn dieses „nicht gleichzeitig an der Spitze des naturwissenschaftlichen Fortschritts“ stehe.

Schon früh profitierte Siemens von transnationalen Vernetzungen, von der Kooperation mit Partnern jenseits der deutschen Grenzen. Das gehörte zu den Globalisierungstendenzen des 19. Jahrhunderts. Auch hierbei bewährte sich der enge Verbund der Brüder. Dem acht Jahre jüngeren Wilhelm gelang es in London, die Rechte an Werners erstem Patent, einem Vergoldungsverfahren, für die Summe von 1.600 Pfund zu verkaufen. Der Aufstieg der Firma Siemens begann 1847 in der rasch sich entwickelnden Telegrafie mit der Konstruktion eines Zeigertelegrafen, dann zunehmend mit der Verlegung von Telegrafenkabeln zu Land und zu Wasser, die gegen Störungen mit Guttapercha ummantelt waren. In Deutschland besorgte das die Telegrafen-Bauanstalt Siemens & Halske (letzterer ein erfahrener Mechaniker als Kompagnon), in England Wilhelm, in St. Petersburg Carl Siemens. Das Telegrafengeschäft war abhängig von Staatsaufträgen, wesentlich von solchen aus Preußen und Russland, die nicht zuletzt den Kommunikationsbedürfnissen des Militärs folgten. Da Werner Siemens bis 1849 in der preußischen Armee war, fungierte er zeitweilig in Personalunion als Offizier, der mit der Staatstelegrafie eng verbandelt war, sowie als privatwirtschaftlicher Unternehmer. Telefon und Starkstromtechnik eröffneten dann gegen Ende der 1870er-Jahre ungeahnte Chancen, die Siemens mit neuen Erfindungen und Produkten nutzte: Dynamomaschinen, Lichtanlagen, elektrische Straßen- und Hochbahnen, Kraftwerksbau. Die ursprüngliche Telegrafen-Bauanstalt Siemens & Halske verwandelte sich in einen elektrotechnischen Großkonzern, der in vielfältigen, zumal expandierenden Geschäftsfeldern unterwegs war.

Als dritte, vergleichsweise knapp gehaltene Dimension in Bährs Studie figurieren die Politik und der homo politicus Werner Siemens. In dem, was er dachte und für was er eintrat, unterschied er sich kaum von den Gesinnungen und Haltungen der Mehrheit unter seinen Berufsgenossen. Er war ein standesbewusster Bürger, der sich aus relativ bescheidenen Verhältnissen mit Können und Willenskraft kontinuierlich nach oben gearbeitet hatte, die gesellschaftlichen Konstellationen beobachtete, sich zeitweilig auch aktiv einmischte. Der Revolution von 1848 begegnete er anfangs mit Sympathie, die allerdings rasch erkaltete. Er war ein Liberaler, der die Einheit Deutschlands unter preußischer Führung favorisierte. Für die Fortschrittspartei saß er von 1862 bis 1866 im preußischen Abgeordnetenhaus. Deren Konfrontationskurs gegen den Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzler Otto von Bismarck behagte ihm jedoch nicht, weshalb er in das Lager der nach rechts orientierten, entschieden industriellen Interessen verpflichteten Nationalliberalen einschwenkte. Für die Sozialdemokratie hatte er nichts übrig, wohl aber für bestimmte Formen einer betrieblichen, freiwillig erbrachten und nicht gesetzlich normierten Sozialpolitik, um die Arbeiter und Angestellten in begrenztem Umfang an den Erfolgen des Unternehmens zu beteiligen, was – nebenbei – den Effekt haben sollte, die Bindung an die Firma zu stärken und die Fluktuation unter dem qualifizierten Personal einzudämmen. Das war – so bereits 1969 die Formulierung des Historikers Jürgen Kocka – Ausdruck eines „liberalen Patriarchalismus“.

Den im deutschen Bürgertum im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts obwaltenden Mentalitäten entsprach Werner Siemens auch insofern, als er nicht frei war von antijüdischen Stereotypen. „Im Ganzen“, offenbarte er 1890 seinem Bruder Carl, fürchte er die Juden „wie die Schlangen“. Zuvor hatte er zwar einen Aufruf von „Berliner Notabeln“ gegen den anschwellenden Antisemitismus unterschrieben, aber privatim beklagte er, dass ihm dessen „pastorale und weinerliche Form“ nicht zusage. Schließlich habe die Aversion gegen die Juden eine „gewisse Berechtigung“. Wegen ihrer „spekulativ angelegten Natur“ konzentrierten sich bei ihnen mehr und mehr „Kapital, Bildung und Macht“. Bei „aller philosophischen, mathematischen Begabung“ fehle ihnen freilich der „mechanisch praktische Sinn der Germanen“ – mithin das, was er selber stets für sich reklamiert hatte.

Werner Siemens gehörte zu den führenden Figuren der deutschen Industrialisierung. Daran lässt Johannes Bähr keinen Zweifel, aber ebenso gewiss ist, dass unternehmerisches und organisatorisches Ingenium vor den Irrungen und Wirrungen des Zeitgeistes keinen oder nur geringen Schutz boten.

Titelbild

Johannes Bähr: Werner von Siemens. 1816-1892. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
576 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406698200

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