Lehrjahre eines Sprachgenies

Eine neue Edition präsentiert den vor 250 Jahren geborenen Wilhelm von Humboldt als Briefschreiber

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

250 Jahre nach seiner Geburt ist aus Wilhelm von Humboldt ein bildungspolitisches Markenzeichen geworden, ähnlich wie Pisa oder Bologna. Auch Humboldt polarisiert: Verabschiedet „Die Zeit“ Humboldt als Namensgeber eines ‚neuhumanistischen‘ Ideals, das letztlich konservativ-universitäre Forschung gegen die geringer geschätzte Lehre ausspiele, so holt der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ an der von Besagtem einst mitgegründeten Universität zu schrankenlosen Elogen aus. Auch er reduziert das Geburtstagskind doch sehr weitgehend auf die Verbindung von Lehre und Forschung. Anders als Trabant räumt dessen Kollege Heinz-Elmar Tenorth dann doch mit einigen Humboldt-Klischees auf: An den Gelehrten, den Gesprächspartner Goethes und Schiller solle heute verstärkt erinnert werden, an einen Bildungspolitiker, dem es lebenslang auch um die eigene Bildung, die vollkommene Ausbildung der Persönlichkeit zu tun war.

Humboldts Lehrjahre, die in der Tat weitgehend eine Epoche des Selbststudiums mit allen Begleiterscheinungen nicht akademischer, sondern aristokratischer Einsamkeit und Freiheit waren, lassen sich nun in ihren aufs Ganze gesehen wohl substantiellsten Dokumenten aufs Neue studieren. Der von Unsicherheit gepeinigte, von der Notwendigkeit eines Brotberufs aber bis auf Weiteres befreite junge Mann publizierte bis zu seinem 30. Lebensjahr kaum. Er wählte als Forum für den Austausch gelehrten Wissens beinahe bis hin zum Format der Abhandlung ein literales und literarisches Genre, das seit ein paar Jahrzehnten mehr und mehr für seine Eignung zum Instrument des Emotionsausdrucks geschätzt wurde: den Brief. Der Humboldt-Spezialist Philip Mattson hat die drei ersten einer auf etwa 30 Bände angelegten Edition von Wilhelm von Humboldts Briefen vorgelegt. Gut 500 Briefe sind nun philologisch zuverlässig und reich kommentiert zugänglich; es ist weitestgehend das dritte Lebensjahrzehnt – die erweiterten Lehrjahre –, dessen geistige Highlights beinahe lückenlos erfasst sind. Ob das allerdings zu großen Teilen nicht unbekannte Material am gängigen Humboldt-Bild etwas ändert, ist doch stark zu bezweifeln. Zwar gelten seine Briefe an die Verlobte und spätere Gattin Karoline von Dacheröden seit jeher als Muster aufklärerisch-empfindsamer Liebeskorrespondenz (einschließlich jener didaktischen Avancen, die man von Heinrich von Kleists Briefen an Wilhelmine von Zenge her kennt), doch zeugt das Gros der hier versammelten Episteln vom tiefen Ernst, der auf gründlicher Kenntnis der Antike beruhenden Gelehrsamkeit eines jederzeit auf den Rückzug aus der Welt der Geselligkeit gepolten jungen Mannes.

Dass in den Briefen viel Prominenz begegnet, kann nicht verwundern. Dieser junge Mann (zudem mit dem jüngeren Bruder Alexander im Schlepptau) kommt aus gutem Hause, er schließt sich erst in Berlin, dann auf Reisen und vor allem in Jena und Weimar den Besten unter seinen Zeitgenossen an, diskutiert (oft schriftlich), studiert, lernt, schreibt. Diese ‚Besten‘ unter den Zeitgenossen zu kontaktieren und bei ihnen gut anzukommen, war für ihn, den Strebsamen, offenbar immer schon eine Selbstverständlichkeit. In seinen Briefen gibt er sich als geistiger Überflieger zu erkennen. Das Diskussionsniveau steigt von der Reminiszenz ans Alltägliche aus sogleich in höchste Höhen philosophischer Abstraktion. Berührt werden die lebenslangen Lieblingsthemen Humboldts, die Sprachen, ihre Vergleichbarkeit und ihre Geschichte, das Wissen von der Antike und anthropologische Fragen wie die nach dem menschlichen Charakter.

Joachim Heinrich Campe war einer der Erzieher der Brüder Humboldt, die Berliner Salonnière Henriette Herz eröffnete dem auf Schloss Tegel nahe der Hauptstadt Aufgewachsenen den Zugang zu den an geistigem Austausch Interessierten. Väterliche Freunde und Mentoren suchte Humboldt in jenen Lebensjahren mit besonderem Nachdruck: Friedrich Heinrich Jacobi, Georg Forster, Carl Theodor von Dalberg, schließlich den Hallenser Philologen Friedrich August Wolf, bald auch Friedrich Schiller, dann, durch diesen vermittelt, endlich auch Johann Wolfgang von Goethe, den er in altertumswissenschaftlichen Fragen beriet. Zu den gleichaltrigen Freunden zählten der konservative Publizist und spätere Staatsmann Friedrich Gentz sowie der schwedische Diplomat Carl Gustav von Brinkman – zwei illustre Figuren im kulturellen Leben der Berliner Spätaufklärung.

Nach kurzem Studium in Frankfurt/Oder und Göttingen entschied sich der kaum 24-Jährige zu einer standesgemäßen Liebesheirat und verbrachte den Rest seines dritten Lebensjahrzehnts in Thüringen als Privatgelehrter. Sein Bildungsideal der „Anspruchlosigkeit“ konnte er so, bei zweifellos hinreichendem Finanzpolster, ungestört ausleben. Bald schon nach dem zunächst begonnenen Jurastudium wurden die Klassischen Sprachen und die Alte Geschichte seine zentralen Bildungsinhalte. Wir lernen in den Briefen den adeligen Dilettanten (im Sinne des 18. Jahrhunderts) und Autodidakten kennen, noch nicht den weltläufigen Diplomaten, Sprachwissenschaftler und Bildungspolitiker, als der er in die Geschichte eingehen würde. Schiller rief ihn – wie fast zeitgleich auch August Wilhelm Schlegel – nach Jena, für dessen „Horen“ Humboldt publizierte. Schillers philosophische und lyrische Unternehmungen begleitete und kommentierte er ausführlich, dies lässt sich in zahlreichen, oft sehr ausführlichen Briefen nachlesen.

Der 26-Jährige diskutierte mit Schillers Jugendfreund Christian Gottfried Körner über Bildung, jenes „fruchtbarste und schlechterdings […] reizendste Feld des Nachdenkens, den Menschen, in dem ganzen Umfang seiner genießenden und wirkenden Kräfte, erst empirisch-philosophisch betrachten, untersuchen, was eigentlich (welcher Grad der Kräfte in welchem Verhältniß?) Ideal der Menschheit genannt zu werden verdient? Und welche Uebung der Kräfte diesem Ideale nähert? dann hiermit historisch den Menschen in verschiedenen Zeitaltern und Nationen vergleichen und den Zusammenhang der Weltbegebenheiten mit kritischem Auge verfolgen“. Damit war ein Forschungsprogramm formuliert, auch wenn es vorläufig bei Studien blieb.

Wir begegnen in seinen Briefen zwei Personen in einer: dem Privatgelehrten, der auch Alltagsthemen wie Freundschaft und Liebe auf die philosophische Ebene hebt und „ausdiskutiert“, dem Anhänger Kants, Wolfs, Schillers – und dem selbstunsicheren, die eigene Unfruchtbarkeit beklagenden und nun im Ausdruck von Liebe und Freundschaft glänzenden jungen Mann. Die Briefe an Karoline ließen die Geltung Humboldts als literarischer Briefschreiber schon vor einem Jahrhundert wachsen. Es sind Ausnahmen. Nicht nur er selbst schrieb sich ein kaltes und melancholisches Wesen zu und sprach von Einsamkeit im Rückzug auf seine Studien.

Familienbriefe sind kaum überliefert, insbesondere das (offenbar gute, offene) Verhältnis zu Alexander lässt sich nur über wenige Bemerkungen erschließen. Bei aller Zurückgezogenheit und Grämlichkeit spielten erotische Vergnügungen durchaus eine Rolle in seinem Leben, und dies nicht nur vor seiner Heirat (Karoline war allerdings ebenfalls einer Liebschaft nicht abgeneigt). Karoline von Dacheröden war ein Glücksfall für den Eigenbrötler, diese Einsicht und dieses Gefühl vermitteln viele seiner Briefe an sie: „Reiner Genuß seiner selbst und des liebenden Wesens gibt wohltägige Ruhe, heitere, stille Freude, sanften, süßen Kummer. Diesen Genuß sah ich so oft in dem himmlischen Blick Deines Auges, diesen teiltest Du meinem Wesen mit.“

Am Ende des dritten Bandes ist Humboldt 30; die Lehrjahre sind abgeschlossen, die Wanderjahre beginnen. Nach dem Krebstod seiner Mutter verlässt er zusammen mit seiner Familie Deutschland gen Paris, noch immer als wohlhabender Privatgelehrter von adeliger Abkunft.

Philip Mattson hat sich mit drei innerhalb von nur drei Jahren erschienenen umfangreichen Bänden als editorischer Einzelkämpfer vorgestellt und bewährt. Er hatte schon 1980 ein über 1.000-seitiges Verzeichnis von Humboldts Korrespondenz vorgelegt und 1990 Humboldts Briefe an Friedrich August Wolf herausgegeben. Ein Menschenalter später beginnt nun eine große Gesamtausgabe zu erscheinen, die langen Atem erfordert. Bei 5.000 Briefen in summa und angesichts der nunmehr vorliegenden gut 500 Stücke ist mit 30 Bänden zu rechnen. Dabei sind 90 Prozent der in den beiden ersten Bänden versammelten Briefe schon irgendwann einmal veröffentlicht worden, viele durch Albert Leitzmann, der bei aller philologischen Akribie doch auf Kürzungen und Normierungen nicht gänzlich verzichtete. Da zahlreiche Handschriften heute verschollen sind, muss der Herausgeber nach Abschriften (nicht selten solchen Leitzmanns) oder eben nach älteren Drucken edieren. Aus diesem Grund ergibt sich eine eher inhomogene Textgestalt, deren Abweichungen mittels unterschiedlicher Drucktypen aber transparent gemacht werden. Dies gilt begrenzt für die Metadaten, besonders für die jeweilige Druckvorlage, auf die nicht immer deutlich hingewiesen wird – der Begriff „Vorlage“ erscheint nur manchmal. Ob bei mehreren Drucken der letzte (der letzte und beste?) gewählt wurde, kann zuweilen nur vermutet werden. Zudem scheint ein in Klammern stehender Hinweis „alt“ bei der Bezeichnung des Handschriftenstandorts auf ehemalige besitzende Institutionen oder Personen hinzuweisen, doch besagt dies weder, dass der Brief heute verschollen ist, noch dass er neu transkribiert wurde.

Da im Unterschied zu den meisten bisherigen Einzeleditionen die Gegenbriefe nicht ediert werden, entschied sich der Herausgeber dafür, im Kommentar inhaltliche Bezüge aus früheren oder folgenden Briefen des Adressaten zitatweise aufzunehmen – ein teils sicher hilfreiches Unterfangen, das aber ein Problem der Edition offen zu Tage treten lässt, nämlich das Auseinanderreißen der brieflichen Dialoge. Freilich müsste jeder Verlag vor der andernfalls zu bewältigenden Materialmasse kapitulieren. Ohnehin stellt sich die Frage, ob die Edition mit digitalen Komponenten besser führe – obgleich an den Verdiensten des Unternehmens für Editor und Verlag kein Zweifel besteht. Inmitten einer Forschungslandschaft, die dem jüngeren Bruder Alexander seit Jahrzehnten zu Recht sehr wohlwollend gegenübersteht, sollte aber gelten, dass sich auch für die weitere editorische Erschließung von Wilhelm von Humboldts Briefwerk Fördermittel finden lassen.

Damit ist – dies noch einmal – nichts gegen die herkulische Leistung des Herausgebers gesagt, ganz im Gegenteil: Eine baldige Fortsetzung ist vielmehr dringend zu wünschen.

Titelbild

Wilhelm von Humboldt: Briefe. Band 1: 1781-1791.
Herausgegeben von Philip Mattson.
De Gruyter, Berlin 2014.
634 Seiten, 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783050063294

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Titelbild

Wilhelm von Humboldt: Briefe. Band 2: 1791-1795.
Herausgegeben von Philip Mattson.
De Gruyter, Berlin 2015.
545 Seiten, 279,00 EUR.
ISBN-13: 9783110375084

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Titelbild

Wilhelm von Humboldt: Briefe. Band 3: Juli 1795 – Juni 1797.
Herausgegeben und kommentiert von Philip Mattson.
De Gruyter, Berlin 2017.
656 Seiten, 149,95 EUR.
ISBN-13: 9783110460407

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