Der unvollendete Walter

Lorenz Jäger legt eine prägnante, stellenweise aber auch fragwürdige Benjamin-Biografie vor

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unbestritten spielt Walter Benjamin eine zentrale Rolle für die aktuellen Geistes- und Kulturwissenschaften. Als deutsch-jüdischer Denker schrieb er im Horizont der intellektuellen Strömungen seiner Zeit. Mit seiner dichten, häufig rätselhaften Prosa erweist er sich als luzider Diagnostiker der kulturellen Umbrüche und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sein wechselvoller Denkweg führte ihn von einer religiösen Esoterik in der Zeit des Ersten Weltkriegs über eine eigenwillige Literaturkritik während der Weimarer Republik bis hin zu einer avantgardistischen Medientheorie des Films im Angesicht des Faschismus. Seine Arbeit zum Drama des 17. Jahrhunderts erkennt die Modernität des barocken Trauerspiels, sein Prosaband Einbahnstraße montiert Straßeneindrücke und philosophische Aphorismen zu Konstruktionen der Gegenwart und sein fragmentarisches Passagenwerk erkundet die Urgeschichte der kapitalistischen Moderne. Die späten Thesen zum Begriff der Geschichte wiederum verknüpfen marxistische Positionen mit jüdisch-messianischen Denkfiguren und vereinen so die Widersprüche eines Denkers, dem es um Konstellationen des Heterogenen im Spannungsfeld von Theologie und Materialismus zu tun war.

So verwundert es kaum, dass die akademische Beschäftigung mit Benjamins Werk nach wie vor floriert und auch das Interesse am widersprüchlichen Leben des Ausnahmedenkers nicht abebbt. Vor diesem Hintergrund hat Lorenz Jäger eine neue Studie zum „Leben eines Unvollendeten“ – so der Untertitel – vorgelegt. Noch eine Benjamin-Biographie? Lassen sich in dieser so vielfach ausgeleuchteten Vita noch dunkle Stellen ausmachen, anhand derer man neue Erkenntnisse formulieren kann? So fragt man sich unweigerlich beim ersten Zugang zu Lorenzʼ Buch. Schließlich sind in den letzten Jahren mit Jean-Michel Palmiers Walter Benjamin. Leben und Werk (deutsche Übersetzung 2009) sowie Howard Eilands und Michael W. Jenningsʼ Walter Benjamin. A critical Life (2014) zwei intellektuelle Biografien von beeindruckendem Format erschienen. An ihnen muss sich jede Neuerscheinung zum Thema messen lassen. Allerdings ist Palmiers Arbeit trotz einer Länge von mehr als 1.300 Seiten ein Fragment geblieben, und das ambitionierte Werk der beiden amerikanischen Literaturwissenschaftler und Benjamin-Übersetzer harrt noch ihrer Übertragung ins Deutsche. Eine gleichermaßen sorgfältige wie gut lesbare Einführung in Benjamins Lebens-Werk bleibt daher weiterhin ein sinnvolles Anliegen.

An dieser Stelle setzt Jägers Biografie ein. Sein Anspruch besteht darin, die Entwicklungen in Benjamins Denken konsequent mit den Stationen seines wechselvollen Lebensweges zu verknüpfen. Intellektuelle Entscheidungen und publizistische Strategien sieht Jäger als Auswirkungen persönlicher Begegnungen und intimer Erfahrungen. Diese entwickelt er anhand von Benjamins Freundschaft mit berühmten Autoren wie Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, aber auch mit eher weniger bekannten Figuren wie Florens Christian Rang oder Ernst Schoen, und nicht zuletzt mit von Benjamin geliebten Frauen wie Dora Pollak und besonders Asja Lacis, die im Kapitel „Im Weinberg der Ingenieurin“ als zentrale Instanz für Benjamins Hinwendung zum Kommunismus und als inspirierende Kraft für seine Prosa-Miniaturen in der Einbahnstraße dargestellt wird.

Im chronologischen Nachvollzug solcher Konstellationen entwirft Jäger das Lebensbild eines unvollendeten Denkers. Sein Parcours führt ihn von Benjamins bürgerlicher Herkunft um 1900 über Avantgarde-Begegnungen in der Schweiz und die Auseinandersetzung mit Bertolt Brechts „Theater der Gesten“ bis hin zur Erfahrung des Exils in den letzten Lebensjahren. Besonders interessieren ihn die intellektuellen Verbindungen von Heterogenem – neben der bekannten Spannung zwischen jüdischem Messianismus und marxistischer Geschichtstheorie insbesondere die Nachwirkungen einer frühen Metaphysik, die sich Benjamin in den Jahren der Jugendbewegung um 1914 aneignete und nach Jägers Sicht nie ablegte.

Diese Denkexperimente sowie die ihnen inhärenten Spannungen stellt Jäger mit grundsätzlicher Sympathie, aber auch mit kritischem Blick und betonter Distanz dar. Nicht um eine bewundernde Hagiografie des genialen Denkers, sondern um die Rekonstruktion eines Lebens in Beziehungs- und Denk-Netzwerken ist es ihm zu tun. Dabei bemüht er sich um eine präzise Darstellung und wendet sich an interessierte, aber nicht an spezialisierte Leser. Keineswegs will er die Benjamin-Kenner mit originellen Trouvaillen beglücken, vielmehr richtet er sich an ein weiteres Publikum, um ihm das Leben eines Rätselhaften näherzubringen. Das geht nicht ohne Akzentuierungen vonstatten: Jägers essayistisch verdichtete Biografie übergeht einige Aspekte von Benjamins Leben, behandelt manches nur kursorisch und blendet die Kontroversen der Benjamin-Rezeption seit den 1960er-Jahren nahezu vollständig aus.

Auf diese Weise entwirft Jäger ein über weite Strecken anregendes Porträt dieses widersprüchlichen Denkers. Erfrischend wirkt seine kritische Distanz, wenn er etwa an Texten wie der Metaphysik der Jugend die ostentative „Selbststilisierung Benjamins“ vermerkt oder das unsichere Navigieren im Zeitalter politischer Extreme skeptisch notiert. Es finden sich jedoch auch fragwürdige Einlassungen, die von einem ideologisch nicht unbelasteten Blick zeugen. In einer irritierenden Fußnote zu Kapitel II rückt Jäger die Benjamin’sche Konzeption des „Literaten“ in eine Nähe zu Adolf Hitlers Antisemitismus, ohne diesen Bezug zu erläutern. In Kapitel VII will er Benjamins Nationalcharakter eruieren – „In welchem Sinne war Benjamin deutsch, vom Bildungsgang und von der Staatsangehörigkeit einmal abgesehen?“ – und verwendet eine Bemerkung Gershom Scholems, um Benjamins „Deutschtum“ infrage zu stellen. Und im vorletzten Kapitel zu den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ behauptet er, Benjamin präsentiere sich als mitleidloser, die Opfer des Stalinismus verachtender Bolschewik, der im Falle eines kommunistischen Welterfolgs auf Seiten der Sieger stünde. Was bezweckt Jäger mit solchen Invektiven? Für Micha Brumlik, der die vorliegende Biografie in einem „taz“-Artikel verrissen hat, steht fest: „In der Summe vollzieht Jäger also eine postume Ausbürgerung Benjamins.“ So weit mag man nicht gehen, wenn man bedenkt, dass Jägers Studie abseits dieser fragwürdigen Stellen von einem intensiven Interesse an Benjamins Denken und einer grundsätzlichen Sympathie für seine Anliegen getragen wird. Nicht leugnen lässt sich gleichwohl, dass Jäger hier die Intentionen eines komplexen Werks verzerrt und vage auf (rechts-)konservative Vorstellungen von Identität rekurriert, die zwar angedeutet, aber nicht konsequent ausbuchstabiert werden.

Eine weitere Schwäche ergibt sich aus der konzeptionellen Anlage der Biografie. Zur Konzeption dieses vergleichsweise schmalen Buchs gehört es, Akzente zu setzen und manche Aspekte von Benjamins Lebens-Werk nur marginal zu behandeln. Diese Entscheidung ist sinnvoll, sofern sie intellektuelle oder lebenspraktische Details betrifft, die sich ohne Verzerrungen für das Gesamtbild vernachlässigen lassen. Sie wird allerdings problematisch, wenn sie dazu führt, dass zentrale Aspekte unterbelichtet bleiben. So verhält es sich mit dem Passagenwerk, Benjamins Opus Magnum in den letzten Lebensjahren: Jäger stellt das Exposé von 1935 in einem eigenen Kapitel („Erleuchtungen in Paris: Der Passagen-Plan“) vor, erwähnt jedoch Benjamins intensive Arbeit an dem unvollendeten Projekt nur nebenbei. Eine weitere Schwäche betrifft das Verhältnis von Leben und Werk. Entgegen seinem Anliegen, eine Geschichte von Benjamins Denken im Lichte seines persönlichen Lebens zu schreiben, gerät gerade dieses Leben nicht selten aus dem Blick. Häufig vertieft sich Jäger in Theorien, Konzepte und intellektuelle Konstellationen, während Benjamins persönliche Beziehungen und vor allem sein privater Alltag geradezu systematisch ausgeblendet werden. Wie Benjamin mit seiner Frau Dora lebte, wie er zu seinem Sohn Stefan stand? Jägers Biografie weiß es nicht und will es nicht wissen.

Aber vielleicht sind solche Schwächen auch eine Kehrseite der sinnvollen Entscheidung, sich auf ausgewählte Stationen in Benjamins Lebenslauf zu konzentrieren. Diese Entscheidung ermöglicht es, Akzente zu setzen und einen Zugang zu entwickeln, der trotz der erwähnten Defizite durchaus überzeugt. Einem essayistischen Stil verpflichtet, schreibt Jäger mit großer Anschaulichkeit und zugleich bemerkenswerter Prägnanz. Er nähert sich Benjamin aus wechselnden Perspektiven, scheut aber auch nicht vor Urteilen zurück. In denjenigen Passagen seines Werks, in denen die Integration von Leben und Denken glückt, entstehen Schilderungen von eindringlicher Sensibilität. So etwa bei Benjamins Selbstmord, der auf berührende Weise vor Augen gestellt und zugleich mit philosophischen Problemen des frühen Essays Metaphysik der Jugend enggeführt wird. Hier liegen eindeutig die Qualitäten eines essayistischen Zugangs, der Studien vom Format eines Michel Palmier nicht ersetzen kann, aber wohl auch nicht ersetzen will.

Titelbild

Lorenz Jäger: Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017.
398 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348211

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