Die Identität des Hauses

Der portugiesische Autor Pedro Rosa Mendes erzählt in „Die Pilgerfahrt des Enmanuel Jhesus“ die mythisch-politische Kolonialgeschichte Ost-Timors

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuhinterst im Sundaarchipel liegt die Insel Timor, die seit 250 Jahren politisch zweigeteilt ist. Mitte des 16. Jahrhunderts hatten sich die Portugiesen hier festgesetzt, 200 Jahre später wurden sie von den Niederländern in den östlichen Teil der Insel verdrängt. Nach dem zweiten Weltkrieg fiel der westliche Teil Timors an Indonesien, Ost-Timor verblieb als Überseeprovinz unter der portugiesischen Kolonialverwaltung. Ende November 1975 rief die Revolutionäre Front FRETILIN die Unabhängigkeit Ost-Timors aus, was die indonesische Armee wenige Tage später zu einer Besetzung veranlasste. Ein Guerillakrieg und ein Völkermord waren die brutalen Folgen, die auch 1999 nicht verblassten, als die ost-timorische Bevölkerung für die Unabhängigkeit votierte.

Mit dieser Abstimmung setzt Pedro Rosa Mendesʼ Roman Die Pilgerfahrt des Enmanuel Jhesus ein. Mit Rückgriff auf einen mysteriösen Bericht desselben Titels legt er Rechenschaft ab „von vielen und gar seltsamen Dingen“, insbesondere „allerlei Dinge & die Mühen & Widerwärtigkeiten, die Alor zugestoßen sind, einem Jüngling von Jaua, der gesandt ward zum Reiche der Bellos“, also Timor. Eine knifflige Herausgeberfiktion weist den Roman als Untersuchungsbericht eines norwegischen Bischofs aus, der schließlich vom Autor Pedro Rosa Mendes redigiert und veröffentlicht wird. Acht unterschiedliche Personen kommen darin wechselweise zu Wort, um die Erinnerung an die bewegte Geschichte der Insel wach zu halten. Daraus ergibt sich ein ausgesprochen schillerndes, in Widersprüchen befangenes Bild, das von grausamer Unterdrückung, Armut und Gewalt erzählt. Unter den acht Stimmen finden sich timorische Widerstandskämpfer, ein indonesischer Pater, junge Timorer sowie ein indonesischer Offizier und Agent – der Vater des besagten jungen Architekten Alor.

Um ihn, beziehungsweise um sein rätselhaftes Verschwinden, dreht sich der Untersuchungsbericht. Alor hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein landestypisches Haus zu konstruieren, das räumlich die ost-timorische Identität verkörpern soll. Dabei erweist sich schnell, dass die Beziehung zwischen Haus und Bewohnern außerordentlich komplex ist und vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte erst recht irrationale Züge annimmt. In diesem „Land der rituellen Übergänge und der Übergangsriten, heiliger und profaner Türen“, erhält das Haus neue Bedeutungen: „es ist das Haus, das in einem Menschen lebt“. Das hat Folgen, wie Alor beschreibt: „euer Widerstand muss sich entscheiden, welcher Name es [das Haus] verdient“ und „welcher Hausbewohner dann eure Würde genießen soll“. Die Synthese erweist sich als schwierig, gerade auch angesichts der Tatsache, dass die Timorer alles andere als ein einiges Volk sind. Sie sind unter sich heillos zerstritten, sie „mögen sich selbst nicht“. Ihre Clans und Familien zermürben sich seit jeher gegenseitig, sodass die portugiesische Herrschaft jahrhundertelang wie ein einigendes Band wirkte. Durch die Unabhängigkeit wurde dieses Band zerrissen, wodurch „ihre Sache so heilig“ geworden ist, „dass sie immun gegen ihre Sinnlosigkeit ist“. Diese Bemerkung bringt Dalboekerk vor, der indonesische Agent, der allein um das Geheimnis weiß, das seinen Sohn Alor mit dem timorischen Volk verbindet und weshalb Alor eine Karte aus der historischen „Suma oriental de Tomé Pires“ auf seine Haut tätowiert hat.

Nach und nach kristallisieren sich die komplexen Beziehungsmuster innerhalb der timorischen Gemeinschaft heraus. Mendes lässt seine Figuren aus ihrer persönlichen Sicht reden, ohne speziell Rücksicht auf die Leser und Leserinnen zu nehmen. Diese werden gleichsam hineingeworfen in einen Teich voll mystischen Gemunkels und politischer Rankünen, in dem geräuschlos das timorische Fabeltier, ein Krokodil, schwimmt.

Die Pilgerfahrt des Enmanuel Jhesus bewahrt für europäische Leser auf irrlichternde Weise etwas Bizarres, Geheimnisvolles, an dem auch die fein lesbare deutsche Übersetzung von Kurt Scharf glücklicherweise nichts ändern will. Es ist, als ob die von der Vernunft beseelten Leser den eigenen Schatten auf das Buch werfen und dadurch den lichten Text selbst eintrüben und verdüstern. Mit ihrer Logik werden sie seiner nie ganz habhaft werden, weil sie die mystischen Tiefen der timorischen Seele, des „Matebian“, nur erahnen, nie restlos begreifen können. Dieser Matebian, notabene ein Berg auf Ost-Timor, steht auch für den Widerstandsgeist der Ost-Timorer, für die „Seele der Vorfahren“ sowie für die Lebenslinien, „die in einer Kette von tausend Wörtern die Timorer zu Familien zusammenschließen, die Familien zu Clans und die Clans zu Völkern“.

Es ist das große Verdienst von Pedro Rosa Mendes, dass er diesem poetisch schillernden Kosmos nie eine erklärende Eindeutigkeit überstülpt, sondern eher das Unbegreifliche herausarbeitet. Die unterschiedlichen Berichte bleiben opak und befangen in einem komplexen Amalgam aus Mythos, Ritual und Politik, dem eine tiefe Geringschätzung durch die Kolonialmächte eingeschrieben wurde.

„Aus der Schachtel stieg der Pesthauch einer brandigen Wunde auf. Ich spüre diesen Gestank immer noch, er blieb an mir haften, an uns, es sollte nicht so sein, aber das war der Geruch eines Landes im Moment der Geburt“. Mit dieser Aussage eines Veteranen der Widerstandsbewegung beginnt das Buch. Und es endet damit, dass diese Schachtel, in der „der Kopf eines Mannes lag“, den Agenten Dalboekerk nach der verlorenen Abstimmung auf seine indonesische Seite vertreibt. Wie das alles miteinander zusammen hängt? Und wohin Alor verschwunden ist? Es bleiben am Ende viele Fragen.

Die Pilgerfahrt des Enmanuel Jhesus erlaubt die Bekanntschaft mit einem Teil der Welt, der eine Zeit lang in den Medien herumgeisterte, doch am anderen Ende der Welt eine unbegreifliche Eigenständigkeit bewahrt hat. Auch Alor ist ein anderer als er scheint.

Titelbild

Pedro Rosa Mendes: Die Pilgerfahrt des Enmanuel Jhesus.
Weltlese, Band 18. Herausgegeben von Ilija Trojanow.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Kurt Scharf.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2017.
457 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783864060809

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