Berge von Zitaten, kluge Abwägungen und vorsichtiger Zukunftsoptimismus

Über Dieter Borchmeyers Buch „Was ist deutsch?“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieter Borchmeyer beschäftigt sich in den zwölf Kapiteln seines 1000-Seiten-Werkes mit dem ‚Deutsch-Sein‘. Er widmet sich unter anderem dem Spannungsfeld zwischen Provinzialität und Weltgefühl, der „Phänomenologie des Deutschen“ aus der Sicht der anderen Nationen, den vielfältigen Mythen über ‚deutsches Wesen‘, den Verbindungen zwischen Deutschtum und Judentum, der deutschen Universität (und ihrer Herkunft aus der deutschen Philosophie) sowie den Deutschen seit der Wiedervereinigung.

Hervorzuheben sind vier Kapitel, die besonders detailreich und sehr gut lesbar sind. Zunächst das über die deutsche Klassik, in dem Borchmeyer nachweist, dass Deutschland die ‚echte Klassik‘ nie hatte, also jene kulturelle Blüte, die gleichermaßen sozial, politisch und literarisch geprägt ist (à la Elisabethanisches Zeitalter in England). Die sogenannte Weimarer Klassik sei aus dem Boden gestampft, nur eine Frucht von Johann Wolfgang von Goethes Italien-Erlebnis, das ihm den Kontakt mit der zeitlos antiken Welt verschafft hat. Sodann das Kapitel über die deutsche Nationalhymne, also das Deutschlandlied von Heinrich Hoffmann von Fallersleben, wobei auch die zeitweilig vorgesehenen anderen Hymnen besprochen werden, unter anderem der Text der DDR-Hymne von Johannes R. Becher (1949 bis 1972 in Gebrauch), den Borchmeyer „die vielleicht poetisch bedeutendste Nationalhymne überhaupt“ nennt. Interessant ist das Detail, dass Reichspräsident Friedrich Ebert, der 1922 das Deutschlandlied zur Nationalhymne erklärte, schon damals – ganz im Sinne unserer heutigen Einstellung – die dritte Strophe als die zentrale Aussage bezeichnete. Ferner das Kapitel über den deutschen Stil. Die Deutschen, so Borchmeyer, hätten keinen nationalen Stil. In der deutschen Kulturgeschichte gebe es einerseits den „hohen Stil“ der Fürstenhöfe und andererseits die „Innerlichkeit“ und Spontaneität des Bürgertums. Dieser zweifache Hintergrund lebe im unsicheren Ausdrucksvermögen der Deutschen weiter – anders als in Frankreich, wo der gehobene fürstliche Lebensstil eine „demokratische Verallgemeinerung“ erfahren habe. Entsprechend führt Borchmeyer aus, dass es bezüglich Bildung und Kunstverständnis keine deutsche nationale Tradition gebe, sondern dass immer von oben her, von Institutionen wie der Schule, dem Militär und den Behörden, vorgegeben worden sei, was als Stil und Bildung gelte. Schließlich das Kapitel über die Musik, ein Höhepunkt des Buches. Darin legt Borchmeyer dar, dass die deutsche Musik in enger Verbindung mit den Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache steht, und erinnert daran, dass diese so typische Musik weltweite Beliebtheit erfahren hat. Auf das Zusammenspiel von nationaler Eigenart und Weltbürgertum wird im Folgenden noch eingegangen.

Doch nicht alle Kapitel sind so flüssig und eingängig geschrieben wie die eben genannten,  Borchmeyers Buch ist zum Teil schwer lesbar. Es kann wohl nicht anders sein. Schon der Buchtitel Was ist deutsch? ist hier keine schlichte Frage, sondern ein Zitat, nämlich der Titel mehrerer Abhandlungen. Die berühmtesten von ihnen sind die von Richard Wagner (1878), Werner Sombart (1935) und Thomas Mann (What is German?, 1944). Borchmeyer beabsichtigt also nicht eigentlich, die Frage „Was ist deutsch?“ selbst zu beantworten, sondern er schlüsselt auf, wer alles diese Frage gestellt hat und wie die Antworten und die anschließenden Diskussionen ausgefallen sind. Er sucht also nicht – jedenfalls nicht direkt – nach der deutschen Nation, sondern er beobachtet sozusagen von außen „die Suche einer Nation nach sich selbst“, wie der Untertitel des Buches lautet. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass sehr viel zitiert wird und im Schnitt auf jeder vierten Seite Thomas Mann erscheint, fast genauso oft Goethe, Wagner, Nietzsche. So ist Borchmeyers Werk in vielen Abschnitten Sekundärliteratur oder Tertiärliteratur. Ja sogar Quartärliteratur stellt sich zwanglos ein, wenn zum Beispiel Borchmeyer interpretiert, was Thomas Mann über eine Passage von Friedrich Nietzsche bemerkt, in der es um eine Äußerung Friedrich Schillers über sein Dichten geht.

Was ist deutsch? kommt also geballt akademisch daher, zumal es bei allen, die zitiert werden, um Geistesgrößen handelt; außer den Genannten sind das beispielsweise Heinrich Heine, die Romantiker, Eduard von Keyserling, Martin Walser, der jüdische Philosoph Hermann Cohen, der jüdische Musikkritiker Paul Bekker. Es erscheinen auch Gottfried Benns Klage über die vornehmen Familien („sie schlagen mit die Juden tot“) und sein Wort von den „üblen völkischen Polemiken“ eines Joseph Goebbels, jedoch kein direktes Zitat von diesem oder gar Adolf Hitler.

Bei alldem ist zu bewundern, wie höchst kenntnisreich Borchmeyer sich durch die Geistesgeschichte bewegt und wie sorgfältig er seine Urteile abwägt. In Thomas Manns konservativem Essay Betrachtungen eines Unpolitischen entdeckt er die Anfänge eines sehr modernen politischen Denkens, in Mignons Lied von Goethe sieht er die wenig reflektierte Sehnsucht nach der Fremde, womit er sich auf die Seite des französischen Goethe-Kritikers Théophile Gautier stellt. Theodor Fontanes realistischen Roman Frau Jenny Treibel ordnet er in die Tradition jenes Briefes ein, der in Goethes Wilhelm Meister den Gegensatz von Adel und Bürgertum beschreibt.

Was die Abbildungen des Buches betrifft, so liefern sie einen guten Querschnitt durch die deutsche Geistesgeschichte. Leider sind sie alle von gleichem Format, sodass Mimik samt Zeigefinger von Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel genauso groß erscheinen wie das Werner’sche Monumental-Gemälde von der Kaiserkrönung in Versailles oder die subtile Landkarte von Tacitus’ Germania.

Die Vielfalt der Zitate und ihre Erörterungen haben neben ihrem akademischen Anspruch noch eine andere Seite. Sie verleihen Borchmeyers Werk einen Charakter der Offenheit, der relativen Sicht, und genau dieser Umstand ermöglicht es dem Autor in exzellenter Weise, die Leser zur Grundidee seines Buches hinzuführen. Diese ist: Dadurch, dass das Wort „deutsch“ ursprünglich nicht ein Volk oder einen Staat bezeichnet hat, dass es nie mit Sprachgrenzen konform gegangen ist, sondern ein Sammelname war für verschiedene und verschiedenartige Stämme, Gemeinwesen und Fürstentümer, stand es stets auch für Brüchigkeit und für gewolltes Einssein und hatte immer einen Anflug von Abstraktion und Unschärfe. Hieraus, so Borchmeyer weiter, ergeben sich zwei Tendenzen der Deutschen: Einerseits ihr Bestreben, das deutsche Staatswesen – oder die Sehnsucht danach – durch Mythen und Institutionen zu stärken, bis hin zur Anmaßung, zum Superioritätsdenken, zur Kriegstreiberei, zum Massenmord, und andererseits ihre Neigung zur Weltoffenheit, ihr Enthusiasmus für fremdes Kulturgut, ihre Bereitschaft zur kulturellen Mittlerrolle. Hier nennt Borchmeyer auch die deutsche Sensibilität für Humanität und Brüderlichkeit. Diese zweite Tendenz, also der für Deutschland typische Kosmopolitismus, ist für den Autor das Entscheidende, das er mittels vieler Zitate immer wieder zu belegen weiß.

Vor diesem Hintergrund blickt Borchmeyer eher optimistisch in die Zukunft. Er unterstreicht, dass Deutschland aus dem „beispiellosen Schaden“, den es im vergangenen Jahrhundert „in der Welt angerichtet hat“, gelernt habe, und sagt, indem er sich auf Äußerungen des türkisch-deutschen Schriftstellers Zafer Şenocak (geb. 1961) beruft, das heutige Deutschland sei in der Lage, „verschiedene kulturelle Identitäten zu einer dialektischen Einheit zusammenzuführen“. Auch sei Deutschland eine politische „Vormacht“ in Europa, und es könnte sogar eine „Friedensmacht“ sein, wenn es auf die Anziehung der deutschen Kultur setze und dabei „Bildung“ nicht mehr nur als „Ausbildung“ verstehe.

Borchmeyers Buch ist ein sehr lehrreiches Werk über die Geisteshaltung der Deutschen. Trotz schwieriger Passagen besticht es aufgrund des reichen Wissens des Autors, seiner Kunst des Argumentierens und seiner Begeisterung für die kulturelle Vielfalt.

Titelbild

Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017.
1055 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783871340703

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