Die Essenz des Daseins

In „Die Affekte“ erzählt der bolivianische Autor Rodrigo Hasbún in nur wenigen Worten eine hochdramatische Familiengeschichte

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist erstaunlich, wie es dem bolivianischen Autor Rodrigo Hasbún gelingt, den Leser mit nur wenigen Worten und einer radikal fragmentarischen Erzählweise vollständig in seinen Bann zu ziehen. Denn die Frage, wie man einen wenig bekannten, indes hochdramatischen historischen Stoff literarisch darstellen kann, haben sich schon viele, deutlich prominentere und erfahrenere Autoren als der 35-jährge Hasbún gestellt – und sind dabei gescheitert. Warum überhaupt eine Geschichte nacherzählen, die man mittlerweile recht lückenlos auf Wikipedia nachlesen kann, wenn man es denn möchte? „Die Affekte“ liefert die Antwort: Weil gerade durch die radikale Verdichtung der Stoff erst zum Leben erweckt und damit zu großer Literatur wird.

Erzählt wird von Leni Riefenstahls Kameramann Hans Ertl, der in den 50er Jahren nach Bolivien ausgewandert ist, um dort mit seiner Frau und seinen drei Töchtern ein neues Leben anzufangen. Ertl, ein Abenteurer alter Schule, einer von vielen, die im 20. Jahrhundert Lateinamerika gleichzeitig als zwangsläufiges Exil und persönliche Herausforderung gesehen haben, plant gigantomanische Exkursionen in den Urwald, die er zu filmen und als Dokumentarfilme an staatliche Institutionen in Bolivien zu verkaufen gedenkt. Doch nach und nach gleiten ihm seien Pläne und dann auch sein Leben aus der Hand, und für die Familie beginnt eine sich langsam entwickelnde Katastrophe, die am Ende, nach den vielen Jahrzehnten, die in diesem nur 140 Seiten dicken Buch abgedeckt werden, nur Opfer gefordert haben wird.

Das berühmteste von ihnen ist Ertls Tochter Monika, die aus einer unglücklichen Ehe mit einem anderen deutschen Einwanderer heraus beginnt, sich für den politischen Kampf in Bolivien zu interessieren und im Laufe der 1960er Jahre zu einer berüchtigten Guerillera wird. Die anderen beiden Töchter, Trixi und Heidi, versinken wiederum nach dem plötzlichen Tod der Mutter im persönlichen Unglück, während der Vater aus dem Leben der Familie verschwindet, um mit seiner ehemaligen Assistentin auf einer entlegenen Finca ein neues Leben zu beginnen.

Erzählt wird diese wahrhaft epische Handlung erstaunlicherweise eben gerade nicht mit dem langen Atem eines Epos, sondern als fragmentierter Roman mit ständig wechselnden Erzählperspektiven. In chronologischer Reihenfolge bekommt der Leser in den einzelnen Kapiteln jeweils nur einen kurzen Ausschnitt serviert: Die junge Liebe zwischen Heidi und dem Draufgänger Rudi, die dann doch unglücklich endet. Die erste Zigarette, die Tochter Trixi mit ihrer Mutter teilte und die ihre wichtigste und gleichzeitig schmerzvollste Erinnerung bleiben soll. Der gescheiterte Versuch Monikas, ihre Kampfgenossen auf der väterlichen Finca zu verstecken, was letztlich zum endgültigen Bruch zwischen dem Vater und seiner Lieblingstochter führt.

Der Leser muss erst diese einzelnen Fragmente miteinander verbinden, sie einem der zahlreichen Erzählstimmen zuordnen, um ein Gesamtbild der Familientragödie zu bekommen. Doch Hasbún – der bereits mehrere Erzählbände und einen weiteren Roman (leider alle noch nicht ins Deutsche übersetzt) veröffentlicht hat – ist ein derart begabter Autor, dass er es ihm nicht sonderlich schwer macht. Denn der ruhige, mal distanzierte, dann wieder hoch emotionale Stil ist das wahrhaft Magische an diesem Buch. Das Ergebnis ist ein Familienepos, komprimiert auf die absolute Essenz. Die auch – man kann es sich denken – eine Allegorie auf die Essenz des Daseins darstellt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Rodrigo Hasbún: Die Affekte. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
142 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427644

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch