Reflexion über das erkennende Subjekt

Was ist Objektivität? Wann entstand sie? Wie objektiv bilden Bilder unsere Welt ab? Und inwieweit verändert sie die Menschen, die die Bilder herstellen? Lorraine Daston und Peter Galison geben Antworten und stellen weitere Fragen

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem 17. Jahrhundert wird die Natur in wissenschaftlichen Atlanten abgebildet. Lorraine Daston, Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, und Peter Galison, Professor für Wissenschaftsgeschichte und Physik an der Harvard University, zeigen am Beispiel der Abbildungen in wissenschaftlichen Atlanten, wie die Geschichte der Herausbildung erkenntnistheoretischer Ideale mit alltäglichen Praktiken der Herstellung wissenschaftlicher Bilder einhergeht. Denn es sind gerade die Abbildungen in wissenschaftlichen Atlanten, die die Vorstellungen und Ideale spiegeln, die mit den empirischen Wissenschaften verbunden sind.

Daston und Galison betrachten sie nun neu, um die Geschichte wissenschaftlicher Objektivität zu enthüllen. Der Ursprung des Buches Objektivität reicht bis ins Jahr 1989 zurück, als die beiden Autoren in Stanford gemeinsam über wissenschaftliche Objektivität nachdachten und zunächst einen gemeinsamen Artikel planten. Zwischen 2002 und 2003 dann arbeiteten sie in Berlin und Cambridge ausführlich an dieser „Bildergeschichte der Objektivität als eine Darstellung von Arten des Sehens“.

Das Ergebnis ist ebenso opulent wie beeindruckend. Auf rund 530 Seiten spannen Daston und Galison den weiten Bogen von den Anfängen objektiver Anspruchshaltung in den Wissenschaften des 18. Jahrhunderts bis heute. Die Geschichte beginnt mit dem Atlas von Carl von Linné (1737) und hört mit Momentaufnahmen von Nanoröhrchen (2007) auf.

In den Kapiteln werden drei wissenschaftliche Ideale – „Naturwahrheit“ (Kapitel 2), „Mechanische Objektivität“ (Kapitel 3) und „Geschultes Urteil“ (Kapitel 6) – vorgestellt und miteinander verglichen. Zwischen diesen Polen befindet sich das „wissenschaftliche Selbst“ (Kapitel 4). Die Autoren reibt die Frage nach dem Selbstbild des Wissenschaftlers um, oder wie es Gerdien Jonker vom Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung Braunschweig beschreibt, „die Frage, was man tun und wie man den eigenen Körper disziplinieren soll, um die wahre, die objektive bzw. die geschulte Sichtweise zu reproduzieren.“ Sie schlussfolgert, dass dieses Buch Blicke öffne auf ein atemberaubendes Panorama, in dem nicht nur die Bilder, die die Welt abbilden sollen, Bedeutung erhalten und wieder verlieren, sondern auch die Akteure, die die Bilder herstellen, ihre Gestalt wechseln. Darüber hinaus beleuchtet Objektivität auch die Frage nach den gesellschaftlichen Reaktionen auf den fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. So zeigen die Autoren etwa auf, wie sich nationale Bildungssysteme auf die sich ändernden Wissenschaftsbetrachtungen reagierten oder wie sich diese darauf vorbereiteten.

Dass dieser Erkenntnisgewinn überdies mit einer unterhaltsamen Note vermittelt wird, ist eine der weiteren Stärken dieses Autorenpaares. Nicht nur ihr Schreibstil ist angenehm, sondern auch ihre reiche Auswahl Fotos und Illustrationen in der Buchmitte, mittels derer der Leser sein Verständnis nachprüfen und erweitern kann.

Klug, erhellend und anregend: Mit Objektivität haben Daston und Galison einen echten Augenöffner und ein Grundlagenwerk geschaffen.

Titelbild

Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivität.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christa Krüger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
531 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518584903

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