Durch die Ozeane des Menschseins

Arno Heller porträtiert Herman Melville als einen Schriftsteller, der „seiner Zeit um ein Jahrhundert voraus war“

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Arno Heller seinen Protagonisten Herman Melville „den größten und am meisten besprochenen Schriftsteller Amerikas“ nennt, so wird man es dem angesehenen Literaturwissenschaftler glauben können. Dabei war Melville (1819–1891) nur rund elf Jahre seines Lebens als Prosaschriftsteller tätig, und in Deutschland ist er einem breiteren Publikum wohl nur als der Autor des Moby Dick bekannt. Immerhin hatte Melville mit gerade einmal 38 Jahren neun Romane und einen Erzählband veröffentlicht und galt durchaus, neben seinen Freunden Washington Irving und Nathaniel Hawthorne, als literarische Berühmtheit. Nunmehr erfasste ihn allerdings angesichts des mangelnden Verständnisses für seine Werke seitens seiner Zeitgenossen eine Depression, die durch Krisen im familiären Umfeld noch verstärkt wurde. Als sich auch mit kürzeren Beiträgen für Zeitschriften kein finanzieller Erfolg einstellte, übernahm Melville bis zu seiner Pensionierung mit 66 Jahren die Stelle eines Zollinspektors im New Yorker Hafen, während er sich künstlerisch mit dem monumentalen Versepos Clarel beschäftigte. Zum Zeitpunkt seines Todes war Melville weitgehend vergessen. Erst ein gewandelter ästhetischer Diskurs durch die Moderne und konkret die überraschende Entdeckung des nachgelassenen und bis dahin unveröffentlicht gebliebenen Manuskripts von Billy Budd im Jahr 1919 führten dann zum sogenannten „Melville-Revival – dem jahrzehntelangen Prozess der Wiederentdeckung und Erforschung von Melvilles Leben und der Neuherausgabe seiner Werke.“

Es gelingt Heller, die große Masse der Melville-Literatur für den deutschen Leser aufzubereiten und eine gut lesbare Biographie zu verfassen, die Leben und Werk des Autors vor dem neuesten Forschungsstand erhellt und angemessen in den kultur- und literaturgeschichtlichen Rahmen stellt. Er diskutiert die Besonderheiten und Brüche Melvilles chronologisch entlang der Werke und entzaubert nebenbei einige Legenden und Irrtümer. Beispielsweise etwa die, dass Melville eine Außenseiterrolle gespielt und vor allem in seiner Zeit als Zollinspektor frustriert, verarmt und von der Welt isoliert gelebt habe. Für seine Generalthese, dass Melville „eine für seine Zeit völlig neue offene Ästhetik der Unabgeschlossenheit und Fragmentarität“ entwickelt und „damit Elemente der Moderne und teilweise Postmoderne“ vorweg genommen habe, findet er vielfältige Belege.

Tatsächlich gehört Melville zu jenen Autoren, die zunächst Selbsterlebtes zum Gegenstand ihres Schreibens machen, im Falle Melville fast ausschließlich dessen vierjährige Reiseerfahrungen als Hilfs-Matrose im Südpazifik. In den Romanen Typee, Omoo, Mardi, Redburn und auch in Moby Dick befriedigte er durchaus das Bedürfnis der Leserschaft nach exotischen Abenteuern. Zugleich aber griff er darin auf Angelesenes zurück und überhöhte das Ganze allegorisch zum Menschheitsdrama, eine Verfahrensweise, die er in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Richard Henry Dana, dessen autobiographischer Seereiseroman Two Years Before the Mast ihn stark beeinflusste, selbstironisch kommentierte, indem er über Moby Dick berichtet:

Es wird aber doch, fürchte ich, ein seltsames Buch werden; Walspeck bleibt nun einmal Walspeck; obwohl man Öl daraus gewinnen kann, quillt doch die Poesie so zäh daraus hervor wie der Saft aus einem Ahornbaum; ˗ und um das Ganze aufzukochen, muss man schlechterdings eine Prise Phantasie beigeben, was nach der Natur der Sache so plump anmuten muss wie die Hopser und Walzer der Wale selbst.

Darüber hinaus wird Melville als politischer Kopf erkennbar, was ihn nicht zuletzt auch für die Gegenwart interessant macht. Wie sein Zeitgenosse Walt Whitman war er überzeugt von den Errungenschaften der amerikanischen Demokratie, die er allerdings durch Rassismus, Materialismus und Kolonialismus in Gefahr sah. Entsprechend kritisierte er die Sklaverei und den ungebremsten Expansionismus der USA, die er im Widerspruch betrachtete zu den Versprechungen der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung. Dem naiven Fortschritts- und Suprematieglauben seiner Zeitgenossen setzte er den tiefen Skeptizismus und Pessimismus eines Bartleby entgegen, dessen Mantra „I would prefer not to“ das Zeitalter des Absurden vorweg nimmt. Auch einige ausgedehnte Reisen ins Europa der Industriellen Revolution – 1849 besucht er unter anderem Köln und Paris, wo er noch auf Heinrich Heine hätte treffen können – und in den Nahen Osten, die eigentlich der körperlichen und geistigen Erholung dienen sollten, führten eher dazu, dass Melville die Missstände in den USA klarer sah und entsprechend kritisierte. Seine liberalen Moralvorstellungen stießen auf die entschiedene Ablehnung der Viktorianer: „Melvilles Phantasie ist krank, seine Moral verkommen, sein Stil unsinnig und ungrammatisch, und seine Figuren sind so weit entfernt von unserer Anteilnahme wie vom wirklichen Leben“, schrieb ein Rezensent.

Tatsächlich spielten Melvilles Romane oft weit vor ihrer Entstehungszeit, und auch der in Moby Dick so zentrale Walfang war längst überholt, weil man das Erdöl als Energiequelle entdeckt hatte. Gleichwohl zeichnete sich Melville aus durch sein Gespür für die rasanten Umbrüche und Übergänge seiner Zeit. In ihrer „polyphonen Stimmenvielfalt und undurchdringlichen Ambiguität“, die sich zu einem „ständig expandierenden, nie abgeschlossenen Netzwerk aus Bedeutungen“ verbinden, werden seine Werke zum Grenzgang, der auch unsere eigenen Grenzen sichtbar macht. Heller verweist auf viele Autoren und Autorinnen, die sich vom Werk Melvilles beeinflusst zeigen. Leider erwähnt er nicht, welche unmittelbare Wirkung Melville auf den kongenialen Jahrhundert-Roman Unter dem Vulkan von Malcolm Lowry hatte. Ein informativer Anhang, der, neben der wichtigsten Sekundärliteratur, auch die deutschen Übersetzungen aufführt und kommentiert, rundet die gelungene Werk-Biografie ab.

Titelbild

Arno Heller: Herman Melville.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2017.
320 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783650401892

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