Ästhetiken des Krieges und der Nation

Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge, von Jeanne E. Glesener und Oliver Kohns herausgegeben, ergänzen den ‚Erinnerungsmarathon‘ an den Ersten Weltkrieg

Von Frank EstelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Estelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sammelband fasst die Ergebnisse einer Ringvorlesung zusammen, die zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg im Jahr 2015 an der Universität Luxemburg abgehalten wurde. Folgt man den Angaben der Herausgeber, ist darin vor allem zweierlei zu erkennen. Zum einen wurde der „Abneigung“ gegenüber Ansätzen Ausdruck verschafft, in denen der Erste Weltkrieg als „geschichts- und kulturphilosophisch beschworene[] Unvermeidlichkeit“ betrachtet wird. Zum anderen wurde „der komparatistisch geweitete Blick auf ganz Europa statt nur auf Deutschland oder nur auf Frankreich“ geworfen. Dies vorausgesetzt, sollten „Narrative um den Ersten Weltkrieg“ im Vordergrund stehen, die insbesondere durch zwei Merkmale gekennzeichnet sind: durch „Strategie[n] der Problematisierung von Darstellbarkeit“ sowie durch eine Konzeption der Literatur als „Medium, das die Erfahrung der ‚einfachen’ Menschen jenseits der notorischen Verlogenheit der Politik“ zum Ausdruck bringt.

Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes haben sich an einem solch ehrgeizigen Problemaufriss freilich nicht oder nur zum Teil orientiert. Schon Daniela Lieb zeigt in ihrem den Band einleitenden Beitrag, dass die Darstellbarkeit des Krieges nicht immer das Problem war, an dem sich die historischen Akteure abgearbeitet haben. Sie analysiert eindrucksvoll, wie unproblematisch die sinnhafte Aneignung des Weltkriegs für nationale Narrative und andere ideologische Zwecke war, die den unmittelbaren Kontext des Krieges thematisch und zeitlich übersteigen. Ihr geht es konkret um die Darstellung der Großherzogin Marie Adelheid in der luxemburgischen Weltkriegsliteratur und -publizistik bei Autoren wie Gust van Werveke, Meisy Mongenast-Servais, Willy Goergen, Nicolas Konert oder Camille Zimmer. Als „polarisierende Herrschergestalt“ wird Marie Adelheid dabei in eine Perspektive gerückt, die von der Literatur des Weltkriegs, in dem Luxemburg offiziell Neutralitätsstatus innehatte, bis in die Unabhängigkeitsliteratur des Landes reicht. Auch aufgrund des „diplomatischen Eklats“ ihres Empfangs des deutschen Kaisers bei Kriegsbeginn und ihrer „Präferenz für die konservative Rechte“ in Luxemburg sehr umstritten, erscheint Marie Adelheid als „Denkfigur“ in den Debatten um eine nationale Identität des Landes. Diese Debatten gipfelten im Januar 1919 in der Proklamation der ephemeren Republik Luxemburg, die die Herrscherin zur Abdankung zwang. In der darauffolgenden Literatur veränderte sich das Herrscherbild allmählich. Marie Adelheid wurde mit Bezug auf ihr Engagement für die Armenfürsorge und Krankenpflege nun stärker christlich gedeutet und schließlich bei der Überführung ihrer Überreste in die Krypta der hauptstädtischen Kathedrale ganz für das nationale Gedächtnis beansprucht.

Hazel Hutchinson identifiziert in ihrem Artikel „Liberty’s bond. Joseph Pennell and the work of war“ als eine Folge des Ersten Weltkriegs tatsächlich einen „collapse of language“. Ihr geht es zunächst um die Illustration von einem in Flammen stehenden New York, mit der Freiheitsstatue im Vordergrund, das die „Fourth Liberty Loan“ von 1918 schmückte. Ihr Urheber, der bekannte graphische Künstler Joseph Pennell, war zu diesem Zeitpunkt ein assoziiertes Mitglied der „Division of Pictorial Publicity of the Committee on Public Information“ und mit den Werbestrategien gut vertraut, mit denen der Einsatz der US-amerikanischen Streitkräfte in Europa mitfinanziert wurde. Als Anschauungsbeispiel für die inneren Widersprüche, die den Eintritt der USA Präsident Wilsons in den Krieg im April 1917 kennzeichneten, wird Pennells Illustration nicht nur in den politischen Kontext der Mobilisierung der US-amerikanischen Öffentlichkeit gestellt, sondern auch in der intellektuellen Biographie des Künstlers situiert. Sie offenbart die jahrelange Auseinandersetzung Pennells mit dem Weltkrieg, die beispielsweise in einer Verdun-Reise im Jahr 1917 und in einem ebenfalls in 1917 in London erschienenen Band „Pictures of War Work“ manifest ist, dessen 51 kommentierten Zeichnungen und Lithographien Pennells eine Einleitung von H.G. Wells vorangestellt ist. Darin sind die destruktiven Folgen des Weltkriegs für die zeitgenössische Kunst fest im Blick: „[…] if we cannot contrive to put an end to war, blacknesses like these, enormities and flares and towering threats, will follow in the track of the tanks and come trampling over the bickering confusion of mankind.“ Die Autorin wirft am Schluss einen Blick in die Kriegserinnerungen, die in der 1925 erschienenen Biographie Pennells aus der Feder seiner Witwe Elisabeth enthalten sind, und in denen das Unbehagen angesichts der zurückliegenden Beteiligung der Künste am Krieg deutlich zu erkennen ist.

Katre Talviste setzt in „World War I in Estonian Literature. Victories and Losses“, in dem der enge Zusammenhang zwischen dem Weltkrieg und der estnischen Identität herausgearbeitet wird, den anfänglich mit der Literatur Luxemburgs eröffneten Blick auf die peripheren Weltkriegsliteraturen und deren Bedeutung als Episoden in nationalen Literaturgeschichtsschreibungen fort. Die untersuchte Periode setzt mit der Kriegsunterstützung der estnischen und mehrheitlich antideutschen Bevölkerung zu Beginn des Krieges ein, auf die die Formierung estnischer Regimenter auf russischer bzw. sowjetischer Seite in den Jahren 1917 und 1918 folgte. Es kam dann am 24. Februar 1918 zu einem kurzen Unabhängigkeitstag, als man das Interregnum zur Erklärung nationaler Autonomie nutzte. Der darauf folgende Unabhängigkeitskrieg (1918-1920) verlängerte im Blick der Autorin den Ersten Weltkrieg und hat dementsprechend die Literatur der Nachkriegszeit der 1920er Jahre geprägt. Gegenüber dem ikonischen Unabhängigkeitskrieg, dem in den künstlerischen Erzählungen vom estnischen nationbuilding allergrößter Wert beigemessen wurde, interessieren die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg jedoch nur am Rande. Sie werden, wie in Theodor Luts Film Noored Kotkad (1927), den Gedichten Gustav Suits, den Kurzgeschichten Friedebert Tuglasʼ und ausgewählten Werken des estnischen Expressionismus bis hin zum 2008 als Miniserie verfilmten Roman Nimed marmortahvili (1936) Albert Kivikasʼ als Ausdruck einer historischen Übergangszeit in das übergreifende Narrativ nationaler Selbstbehauptung eingebettet.

Daran schließt Monika Szczepaniak in ihrem Beitrag „Liebesmanöver im Krieg. Inszenierungen der soldatischen Liebe und Erotik in der polnischen Literatur zum Ersten Weltkrieg“ an. Er ist dem Zusammenhang von militärischer Metaphorik und „erzählerischen Liebescodes“ in der polnischen Weltkriegsliteratur gewidmet. Angesichts der Entwicklung der modernen Waffentechnik habe sich die klassische „Parallelisierung der Kriegs- und Liebeskunst“ zwar eigentlich erledigt, dennoch sei sie im untersuchten Korpus weiterhin zu finden. Dies kann vor allem auf die besondere literarische Figur des polnischen Ulanen zurückgeführt werden, der nicht nur Werte wie „Patriotismus, Katholizismus, Familie, Liebe zum Vaterland und Sehnsucht nach einem souveränen polnischen Staat“ verkörpere, sondern in den auch ein „sentimentaler Diskurs“ eingeschrieben worden sei. Die in den literarischen Ulanenfiguren vorhandene Spannung zwischen Liebesbedürfnis und Treue zum Vaterland, der „eine besondere Rolle im nationalen Mysterium der Polonia-Befreiung“ zukomme, zeichnet die Autorin in Werken wie Bolesław Zygmint Lubiczʼ Erzählung Sielanka (1916), Gustaw Daniłowskis Roman Tętent (1919), Andrzej Strukgs Roman Odznaka za wierną służbę (1929), Zygmunt Kisielewskis Roman Dni listopadowe (1935) bis hin zu Bolesław Wieniawa-Długoszowskis Gedicht Ułańska jesién (1938) nach. In diesen Werken zeige sich eine für die polnische Kriegsliteratur typische „patriotische Dreieckserotik“, die in die Liebesleidenschaft zwischen Mann und Frau „das größte militärische Projekt der Zeit – die Befreiung der ‚gequälten‘ Polonia – einbezieht und gleichzeitig idyllische Szenen der galanten Verführung inmitten einer national konnotierten Natur kultiviert“.

In seinem Beitrag „Im Schatten des kommenden Konflikts? Die Nationalisierung des Kubismus zwischen 1912 und 1914“ wendet sich Thomas Hunkeler gegen das aus seiner Sicht verbreitete Missverständnis, demzufolge die sog. historischen Avantgarden „in erster Linie als Gegensatz zum Nationalismus der Zeit um den ersten Weltkrieg interpretiert“ werden können. Diesem „Hauptnarrativ“ hält er die besondere Geschichte des Salonkubismus in Frankreich entgegen, die er im „Spannungsfeld zwischen Nationalismus und Internationalismus“ darstellt. Ausgehend von der Affäre Boronali im Frühjahr 1910, in der Autoren wie Roland Dorgelès mit der neuen avantgardistischen Ästhetik auch den steigenden Einfluss ausländischer Künstler auf den französischen Kunstmarkt veralberten, veranschaulicht Hunkeler die Entwicklung der Gruppe um Gleizes, Metzinger, Le Fauconnier und Léger, die sich im Rahmen des Salons der Unabhängigen und des Herbstsalons von 1911 unter der Bezeichnung Salonkubismus zusammenfand. Er unterstreicht, wie sehr solche avantgardistischen Strömungen in Frankreich „als a priori verdächtig, da antifranzösisch“ rezipiert wurden. Man warf ihnen und den beteiligten Künstlern vor, den „französischen Geschmack zu verderben, vor allem aber die Vorherrschaft im Bereich der Künste zu kompromittieren“. So ist bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine „aufgeheizte Stimmung“ zu beobachten, in der der Einfluss der Avantgarden als Gefahr für den französischen Geschmack und die Kunsthauptstadt Paris angesehen und zum Teil auch „im Rückgriff auf eine kolonial geprägte Begrifflichkeit“ bekämpft wurde – was in Traktaten oder Rezensionen der Vorkriegsperiode rekonstruiert wird. Salonkubisten wie Albert Gleizes oder André Mare legten selbst Wert darauf, gegenüber etwa dem italienischen Einfluss des Futurismus das keltische Erbe ihrer Kunst zu betonen, sich also mit dem sog. Celtisme der Zeit anzufreunden. Insofern kann der Salonkubismus als der Versuch gedeutet werden, den Kubismus in Frankreich „gleichsam einzubürgern und zu nationalisieren“.

Während Oliver Kohns Artikel „Franz Werfels politische Utopie an der Peripherie des Kriegs: Die vierzig Tage des Musa Dagh“ der Darstellung des armenischen Genozids bei Werfel gewidmet ist und anhand der Hauptfigur Gabriel zeigt, wie das armenische Volk in diesem als „Bildungsroman“ verstandenen Werk „das Subjekt seiner eigenen Geschichte“ wird, widmet sich Erol Köroğlu in „The past in the attic: World War One in Yakup Kadri Karaosmanoğlu’s novels“ anhand des Werks eines der kanonischen Autoren der modernen türkischen Literatur dessen Konversion zum türkischen Nationalismus im Ersten Weltkrieg und Anhängerschaft Mustafa Kemals im Unabhängigkeitskrieg. Er zeigt dies zunächst anhand von sechs Kurzerzählungen, die Yakup Kadri während des Krieges in der die Regierung unterstützenden Zeitung İkdam publizierte. Diese Erzählungen sollten als literarische Beiträge zu einem historischen Narrativ der Entstehung und Befreiung der türkischen Nation verstanden werden. Ähnlich gelagert sind die darauf folgenden Analysen der Darstellung des Ersten Weltkriegs in drei umfangreichen Werken des Autors: Mansion for Rent (1920/22), Sodom and Gomorrah (1928) und Stranger (13. Aufl. 1979). Mansion for Rent – dessen Handlung zwischen 1909 und 1906 spielt – zeigt anhand exemplarischer Figuren wie der des Hakkı Celis, der als Repräsentant der osmanischen Türkei in Gallipoli das Leben verliert, die osmanisch-türkische Gesellschaft auf dem Weg in die sichere Katastrophe. In dieser suizidalen Negativfigur kommt, so erweist sich, der Nationalismus des Autors zur Geltung, der im Ersten Weltkrieg eine Episode auf dem Weg zur nationalen Unabhängigkeit erkannte. Solche von einer „progressive conception of history“ bestimmten Text-Kontext-Relationen prägen dann auch die weiteren genannten Werke des türkischen Autors, die allerdings die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg zunehmend aus dem Panorama türkischer Selbstbehauptung im literarischen Medium ausschließen: „Yakup Kadri excludes the World War One experience from the historical narrative he develops in his novels because this war, which brought nothing but pain and destruction, was pushed into the darkness of the past by the National Struggle that followed it.“

Die einzelnen Beiträge im vorliegenden Sammelband sind instruktiv, grundsätzlich sorgsam ediert und geben aufgrund ihrer thematischen Breite der kritischen Beschäftigung mit Weltkriegskunst in den Literatur-, Kultur- und Kunstwissenschaften neue Impulse. Damit ist der größte Vorteil der Artikel in ihrer Summe bereits genannt: Sie erlauben die Ausweitung des Blicks über die konventionell im Vordergrund stehenden deutsch-, französisch- und englischsprachigen Literaturen hinaus insbesondere auf die Literaturen Osteuropas und der Türkei. Deren Ähnlichkeiten im Bezug auf die nationale Aneignung der Weltkriegserinnerungen sind in der Tat auffällig, gerade in ihrem Verhältnis zu den jeweiligen nationalen Diskursen, die sie sinnhaft stützen. Andere Beiträge haben es sich zur ebenfalls lohnenden Aufgabe gemacht, vermeintliche Sicherheiten in den Geschichten der Weltkriegsliteratur zu überdenken und anhand weniger bekannter Gegenstände – wie des Salonkubismus, der luxemburgischen Literatur oder der US-amerikanischen Propagandakunst – zu überprüfen. Dies ergibt ein zumindest thematisch differenziertes und originelles kritisches Panorama der Weltkriegsliteraturen.

Das immer wieder zu beobachtende Bemühen um neue „Zuordnungsversuche“ der fiktionalen und historischen Gattungen mit Blick auf den Ersten Weltkrieg, also um ein besseres Verständnis der ‚Schnittstellen‘ zwischen Geschichte und Literatur, bleibt dennoch Stückwerk, das der methodischen Verfeinerung und Schärfung erst noch bedarf. So dürfte es sich beispielsweise für die Untersuchung der problematischen Darstellbarkeit des Weltkriegs als dilemmatisch erweisen, dass die meisten zu Rate gezogenen Werke retrospektive Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg darstellen, also streng genommen zwar die mit ihm verbundenen Erfahrungen in künstlerischen Medien verarbeiten, allerdings in einer Gegenwart, die nicht mehr die des Ersten Weltkriegs selbst ist. Angesichts dessen verwundert mitunter, dass für die Beiträger Konzepte von kollektivem und kulturellem Gedächtnis keine große Rolle spielen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Oliver Kohns / Jeanne E. Glesener (Hg.): Der Erste Weltkrieg in der Literatur und Kunst. Eine europäische Perspektive.
Texte zur politischen Ästhetik 4.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
208 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770561018

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch