Wer bin ich, Israel?

Dmitrij Kapitelman erzählt in seinem autobiographischen Debüt „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ mit Leichtigkeit von Heimat, Vaterliebe und Nahostkonflikt

Von Franziska RauhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Rauh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland oder Israel: Sowohl Vater als auch Sohn stehen in Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters vor dieser Wahl. Der Vater in den 1990er Jahren, als es darum geht, seine Heimat, die Ukraine, zu verlassen, die ihm als Jude keine Zukunft bietet. Der Sohn in der Gegenwart, am Ende einer Israelreise, auf der er die wahre Identität seines Vaters und damit auch die eigene zu finden hofft.

Erzählt wird von dieser generationenübergreifenden Suche nach Heimat in einer Mischung aus Reisebericht und Roman. Kapitelmans Text ist erkennbar autobiographisch, lässt sich aber in keine Gattungsschublade stecken (und trägt auch keine Gattungsbezeichnung von Seiten des Autors oder des Verlags).

Deutschland, das ist das Land, in dem der Sohn Dmitrij aufwächst: Als er acht Jahre alt ist, emigriert die Familie aus der Ukraine, nicht wie ursprünglich geplant nach Israel, sondern nach Deutschland, wo sie als „Wiedergutmachungsjuden“ aufgenommen werden, wie Dmitrij es ausdrückt. Seine Darstellung der Flucht überrascht, weil sie sich von den heutigen Fluchtbiografien syrischer und nordafrikanischer Flüchtlinge so sehr unterscheidet: Das sächsische Flüchtlingsheim, in dem Dmitrijs Familie unterkommt, ist „voller Osteuropäer, die sich, über Kapital verfügend, für Deutschland als beste Option unter mehreren entschieden hatten. Die auf der Busfahrt in die BRD zwei Mel-Gibson-Filme geglotzt hatten und denen man erklären musste, dass es nicht die beste Idee ist, im Hugo-Boss-Anzug beim Sozialamt vorstellig zu werden.“

Die Emigration, die in ein besseres Leben führen soll, wird für Dmitrij zur Enttäuschung: In Kiew hatte er Freunde, in Leipzig-Grünau nicht. In Kiew spielte er draußen Fangen, in Grünau wird er von Neonazis gejagt und verprügelt. Auch beim Vater Leonid stellt sich schnell Ernüchterung ein: Der Sohn erlebt ihn in der Ukraine trotz Diskriminierung als lebenslustigen, geselligen und unabhängigen Mann, der sein Geld damit verdient, zu „spekulieren“, eine verschleiernde Bezeichnung für halblegale Geschäftchen aller Art. In Deutschland zieht sich Leonid immer mehr in sich zurück, geht nicht mehr aus, wird misstrauisch, ablehnend. Der erwachsene Dmitrij leidet an den Paradoxien dieses Vaters. Der ist im einen Moment warmherzig und schwingt im nächsten rassistische Parolen, lobt stolz sein „Judenglück“ und hält zugleich den jüdischen Glauben für „Quatsch“. Der Sohn ist überzeugt: Der Vater, wie er eigentlich ist, ist unsichtbar, vor allem in seiner jüdischen Identität. Der Sohn will ihn aus der Reserve locken, ihn zu fassen bekommen. Deshalb überredet er ihn zu einem Selbstfindungstrip nach Israel.

Israel, das ist für den Vater das Sehnsuchtsland, das er zu Heimat aller Juden verklärt. Angesichts antisemitischer Anfeindungen, sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland, ist der Gedanke tröstlich: „Aber es gibt Israel“. Dennoch lässt Leonid sich erst auf Drängen seines Sohnes und anfangs äußerst unmotiviert auf die Israelreise ein, zu gefährlich scheint ihm der Aufenthalt in der Krisenregion – oder ist das wiederum nur eine Ausflucht? Die unklare Haltung zu Israel zählt zu den vielen Widersprüchlichkeiten, die den Vater prägen und den Sohn verwirren. Auch für Dmitrij ist Israel kein einfaches Thema. Als Sohn eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter ist er im orthodoxen Sinn gar kein Jude – was umso mehr zu seiner existenziellen Orientierungslosigkeit beiträgt.

Er weiß weder, wer er ist, noch, wo er hingehört, und sieht sich ständig mit seinem „Inneren Gericht“ konfrontiert, das über Qualität und Rangfolge der Schichten seiner Identität verhandelt – deutsch/ukrainisch/jüdisch: „Falschjude Dmitrij K., eigentlich mit allem und mehr ausgestattet, um glücklich zu sein, wird aufgrund von Eigenverschulden zu einem kläglichen Leben ohne Selbstverständnis verurteilt!“ Es ist letztlich die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, die Vater und Sohn nach Israel führt. Und so begeben sie sich auf einen klischeeverdächtigen Trip: Totes und Rotes Meer, See Genezareth, Sabbat-Schnäppchenjagd, Granatapfelsaft auf dem Basar, Diasporamuseum und Klagemauer, Bar-Mizwa inklusive.

Dass diese Identitätssuche nicht in den Kitsch abgleitet, ist dem neutral-sachlichen, humorvollen Ton zu verdanken, in dem der Journalist Kapitelman berichtet. Es ist der durchaus mutige Witz in Sprache und Szenengestaltung, der die Erzählung trägt: Da gibt es eine „Zwei-Schalen-Lösung“ für die Paella und in den Palästinensergebieten ein „Intifada-Städtele“, Dmitrij ist hin und her gerissen zwischen „spiritueller Impotenz“ und einem „Glaubensquickie“ – nichts ist dem Autor zu ernst oder zu heilig, um es zu verspotten. Damit schrammt Kapitelman stellenweise knapp am Albernen vorbei, bewahrt aber die Erzählung davor, an ihren großen Themen zu scheitern.

So rast besagte Bar-Mizwa am Infostand einer Gruppe orthodoxer Juden „mit dem Tempo einer Döner-Bestellung“ an Dmitrij vorbei, während der Vater das Schaufenster einer Fleischerei bestaunt. An der Klagemauer haben Vater und Sohn trotz Kippa und Gebetsriemen sichtlich Probleme damit, das erste Mal in ihrem Leben ein Gebet zu sprechen:

Gewaltsam schubse ich einige Brocken Hebräisch aus meiner Brust und denke bereits daran, wann es wohl wieder okay sein wird, das Gebetsequipment abzulegen. Ich schaue kurz zu Papa, aber er ist so sehr mit seinem eigenen Glaubensfasching beschäftigt, dass von ihm kein Rat zu erwarten ist. Ich simuliere noch etwa drei Minuten, dann laufe ich wieder zum Stand der Orthodoxen und entledige mich des viel zu fest gespannten Bandes.

Der ironisch-skeptische Blick Dmitrijs auf seine Umgebung, seinen Vater und nicht zuletzt auf sich selbst verhilft den schweren Themen der Reise – Identität, Heimat, Vaterliebe, Nahostkonflikt – zu einer Leichtigkeit, die stellenweise herausfordert. Sie konfrontiert den auf ‚political correctness‘ getrimmten Leser mit seiner eigenen Sensibilität in Bezug auf diese heiklen Themen: Darf man so locker von so Ernstem sprechen? Man darf, wenn man wie Kapitelman die Balance zwischen Einfühlsamkeit und Witz zu halten weiß. Alles, was nach Pathos riechen könnte, wird spätestens im nächsten Kapitel ironisch gebrochen. Und so folgt auf den Identitätsrausch, als man Dmitrij erklärt, er könne als Jude sofort rechtmäßiger Bürger Israels werden, notwendig der „Identitätskater“.

Dmitrij wird klar, dass es zwei Israels gibt: Das verklärte Israel, potenzieller Zufluchtsort und imaginäre Heimat für Dmitrijs Vater und so viele andere Juden, die sich in den Ländern, in denen sie leben, nicht zugehörig fühlen. Und das „unverstellte Gegenwartsisrael“, das Dmitrij zunehmend befremdet, seinen Vater aber kaum zu interessieren scheint. Die Rede von „Blutsverbundenheit“, der alltägliche Rassismus, die untragbaren Lebenshaltungskosten, die politische Agitation – all das stößt Dmitrij auf. Allein – und gegen den Willen des Vaters – macht er sich auf den Weg, die andere Seite des Konflikts kennenzulernen, und reist in die Palästinensergebiete des Westjordanlands. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist Kapitelmans Familiengeschichte auch ein explizit politisches Buch.

Der Autor stellt die Toleranz und die Gastfreundschaft der Palästinenser heraus, die in Kontrast zum unreflektierten Araberhass seiner jüdischen Bekannten stehen: „Ich hasse nicht die Juden. Ich hasse die Zionisten, die mir mein Land weggenommen haben. […] Ich weiß, dass wir alle Menschen sind. Dass wir alle gleich sind und nur etwas Glück finden wollen in dieser Welt.“, heißt es da im palästinensischen Ramallah – und im israelischen Netanya: „Wie soll man mit diesen Leuten sprechen? Diesen Monstern!“. Trotzdem scheint klare Parteinahme nicht das Ziel des Autors zu sein. Er zeigt vielmehr die Frustration auf beiden Seiten und die Absurditäten, die der Krieg hervorbringt, dessen Allgegenwart fröhlicher Ausgelassenheit immer wieder ein Ende setzt und grenzüberschreitende Liebe behindert – wie die Annäherung von Dmitrij und der Palästinenserin Dina.

Und der Vater? Zerschmettert auf sympathische Weise ein ums andre Mal die Erwartungen seines Sohnes an die große Selbstfindungssause. Der Leser zweifelt: Gibt es ihn überhaupt, den „unsichtbaren“ Vater, den „warmherzigen Allerweltsfreund“? Oder ist er eine Wunschvorstellung seines Sohnes, der zu viel von seinen eigenen Identitätskonflikten auf den Vater projiziert? Es tut der Geschichte gut, dass nicht alle Pläne des Sohnes aufgehen. Dass der Vater sich anfangs mehr für die Qualität von eingelegten Gurken und Granatapfelsaft interessiert als für das Heilige Land. Dass er sich in seinem neuen israelischen Heimatgefühl überhaupt nicht davon stören lässt, dass er kein Hebräisch spricht. Dass er den Sohn immer wieder mit offenen Widersprüchen irritiert („Es ist gut, sich mit vielen Juden zu umgeben.“ – „Zu viele Juden hier.“). Dass er das Diaspora-Museum langweilig und vor allem viel zu teuer findet. Dass er lieber nach Eilat, an den israelischen Ballermann, fahren möchte als nach Bethlehem.

Eine große Stärke der Erzählung liegt in der Zeichnung dieser Vater-Figur. Ein authentisch wirkender Mix aus Warmherzigkeit und Angst, Sturköpfigkeit und Pragmatismus (Sohn: „Warum sind wir bloß an dem schrecklichen Ort geblieben?“ – Vater: „Die Häuser in Grünau waren großartig gedämmt.“) prägt Leonid Kapitelman. Er bleibt bis zum Schluss eine widersprüchliche Person. Die Reise bringt Vater und Sohn sich selbst und einander näher – aber sie beantwortet keinesfalls alle offenen Fragen.

Den Lesefluss stören Flüchtigkeitsfehler, die auf ein nicht allzu gründliches Lektorat hindeuten. Ein oder zwei Kasusfehler fallen dabei nicht ins Gewicht. Störend ist hingegen, wenn in einem Buch, das sich die Ergründung einer jüdischen Identität auf die Fahne schreibt, Fehler in der Darstellung der jüdischen Geschichte unterlaufen: So verwechselt der Autor die beiden Tempelzerstörungen und schreibt die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. fälschlicherweise den Babyloniern und nicht den Römern zu. Auch der Titel Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters scheint nach der Lektüre unangemessen poetisch und bedeutungsschwanger. Kapitelman, der als freier Journalist unter anderem für die ZEIT tätig ist, schreibt viel klarer und schlichter, als es der Titel vermuten lässt.

Sein Buch bleibt Bericht: Sicherlich literarisiert, aber konkret, auf Pegida und Netanyahu Bezug nehmend, in der Gegenwart verhaftet. Eine überzeitliche Gültigkeit, wie man sie großer Literatur zuschreibt, kommt dem Text daher sicher nicht zu – aber diese beansprucht er auch gar nicht. Vielleicht ist gerade das der richtige Weg, um sich so großen Themen wie Heimat, Identität, Zugehörigkeit zu nähern: Vom Konkreten, Greifbaren, von den eingelegten Gurken und dem Granatapfelsaft ausgehend. Bei Kapitelman jedenfalls gelingt diese Herangehensweise. Seine Identitätssuche ist lebendig und anschaulich, ohne flach zu sein – und was kann man von einem Reisebericht mehr erwarten?

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Dmitrij Kapitelman: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
286 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446253186

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