Das Leben einer Toten

In ihrem Roman „La Terre qui penche“ erzählt Carole Martinez die Geschichte eines jungen Mädchens aus einer ungewöhnlichen Perspektive

Von Veronika DyksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Dyks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem dritten Roman La Terre qui penche (auf Deutsch: die Erde, die sich neigt) wagt die französische Autorin Carole Martinez ein spannendes Experiment. Denn die Geschichte wird von einer Toten erzählt. Das kindliche Ich der kleinen Blanche („La petite fille“) und ihre alte Seele („La vieille âme“) teilen sich das Grab und wechseln sich dabei ab, ihre letzten Lebensjahre zu rekonstruieren.

Die zu Beginn des Romans elfjährige Blanche lebt im 14. Jahrhundert in Burgund. Ihre Mutter ist tot und das Mädchen hat keine Erinnerung an sie. Ihr Vater macht ihr das Leben schwer, zieht ihr die schönere Zwillingsschwester vor und verprügelt sie, wenn sie im Schlaf ungehorsame Dinge sagt oder den Pfarrer dazu überreden will, ihr das Lesen beizubringen. Denn wenn Mädchen lesen, lauert der Teufel, „agile et filou“ (flink und betrügerisch), zwischen den Seiten, bereit, sie zu verführen.

Doch Blanche ist sich sicher, dem Teufel die Stirn bieten zu können: Sie trifft ihn in der Gestalt eines Kinderschänders, der von allen nur „l’ogre“ (der Oger) genannt wird. Das Mädchen schafft es tatsächlich, den Mann zu besiegen und nimmt ihm seinen scharlachroten Umhang und sein Pferd. Denn wie ihre Amme schon immer gesagt hat, ist sie so rebellisch wie die Distel, sie ist „Chardon“. Ihren zukünftigen Schwiegervater, den Burgherren Haute-Pierre, hält sie zunächst auch für den Teufel, an den ihr Vater sie verkaufen möchte. Doch der Satan mit dem siebzehnfachen Kinn ist alles andere als „agile et filou“ und entpuppt sich als liebevoller Mann, der Blanche genauso ins Herz schließt wie seinen geistig zurückgebliebenen Sohn Aymon, der sich gerne mal wie ein Hund oder Fisch benimmt, und dem das Mädchen schon seit Jahren versprochen ist.

Hauptschauplatz des Romans ist Haute-Pierres Burg der „Murmures“ (Murmeln, Geplätscher) in der heutigen Region Franche-Comté, dort, wo die Loue entspringt. Carole Martinez erschafft in dieser Kulisse einen mittelalterlichen Ort voller Magie, in dem Flüsse eine Seele haben, eine rachsüchtige Fee Männer ertrinken lässt und eine Frau, die mit den Geistern ihrer verstorbenen Töchter im Wald lebt, die Jahreszeiten kochen kann. Die bergige Landschaft, in der sich die Erde neigt, durchlebt im Roman die Jahrhunderte.

Während das kleine Mädchen nur das erzählt, was ihr in ihrem Leben widerfährt, schreitet die alte Seele durch die Zeit und springt zwischen Erinnerungen an ihr Leben und Beobachtungen des Verfalls, Wiederaufbaus und Wandels hin und her. Manchmal erscheinen die Gedanken der alten Seele ein bisschen zu konstruiert, philosophiert sie doch sehr klischeehaft über das Gute bzw. Schlechte im Menschen und darüber, ob Gott wirklich existiert. Allerdings nehmen diese schwerverdaulichen Themen nur so wenig Platz ein, dass sie der Erzählung nicht den Schwung nehmen.

Die zwei Erzählerinnen reden nicht direkt miteinander: Die Kapitel sind entweder aus der Sicht des kleinen Mädchens oder der alten Seele geschildert, sodass die beiden Stimmen bis auf eine Ausnahme nie gleichzeitig auftauchen. Und doch scheinen sie gemeinsam zu sprechen, wechseln sich in ihrer Erzählung ab, machen da weiter, wo die andere aufgehört hat. Im Dialog der beiden steckt eine Liebe zur Poesie, zur Erinnerung und zur Kindheit. Die alte Seele wacht in ihrem Grab über das kleine Mädchen, wiederholt Verse, die wie ein Wiegenlied klingen. Gleichzeitig lauscht sie dem Kind und sehnt sich nach der Energie und den ungezügelten Emotionen des kleinen Mädchens, das sie einst war.

Ihr zufolge liegt die Reinheit der Kindheit gänzlich in „cette violence que tu disais sans détours“ (dieser Gewalt, die du ohne Umschweife aussprachst). Denn Blanche verkörpert nicht Unschuld, anders als ihr Name „die Weiße“ vermuten lässt. Sie ist so feurig wie ihre Haarfarbe, sie ist Chardon: Die ungezügelte Wut und Verzweiflung ihrem grausamen Vater gegenüber erwecken in ihr Mordfantasien, sie reitet das Schlachtross des besiegten Ogers, wird in ihrem Kopf von Wölfen begleitet und stiehlt sich ihren ersten Kuss vom schlafenden Aymon. Aymon, der von allen nur „l’Enfant“ (das Kind) oder „le Simple“ (der Einfache) genannt wird, sieht aus wie ein Engel und spielt so schön Flöte wie sonst niemand. Trotz, oder vielleicht wegen der Einfachheit seines Geistes kann Blanche nicht umhin, ihn zu lieben. Doch auch Éloi, der junge Dachdecker aus dem Dorf, ruft neue, eigenartige Gefühle in ihr hervor.

Man möchte sich ganz in dieser Kindheit verlieren, in der die Liebe zu einem Jungen dadurch entsteht, dass er die Wölfe sehen kann, die eigentlich nur in der eigenen Fantasie existieren. Man empfindet Blanches Freude, als sie erfährt, dass sie in ihrem neuen Zuhause lesen und schreiben lernen darf. Sie will endlich ihren Namen schreiben können, das B hat sie sich schon heimlich selbst beigebracht. Man wird genauso neugierig wie sie, als sie von der Fee der Loue, der „Dame verte“ (grüne Dame) etwas über ihre Eltern erfährt, die sich an diesem Ort kennengelernt haben sollen. Und doch liegt über der magischen Kindheit ein Schatten. Nicht nur der von irdischen Bedrohungen wie Männern, die in kleinen Mädchen schon Frauen sehen, oder der Pest, die durch das Land zieht, sondern auch der des Wartens auf das Ende, das Ende dieses kindlichen Lebens. Die alte Seele erinnert immer wieder daran, dass Blanches Tod unausweichlich ist, räsoniert über den Verfall des eigenen Körpers und beobachtet skizzenhaft den Verlauf der Zeit vom eigenen Tod bis in die Gegenwart.

La Terre qui penche ist ein Roman zum Eintauchen. Carole Martinez entwirft eine Welt, die von einer poetischen, aber einfachen Sprache und starken Bildern geprägt ist. Die alte Seele und das kleine Mädchen begegnen sich in einem sorgfältig konstruierten Dialog. Lieder und Reime schmiegen sich an die Erzählung, ohne den Lesefluss zu unterbrechen. Ein Kapitel ist allein aus Dialogfetzen zusammengefügt, und das so gekonnt, dass man als Leser das Gefühl hat, das Summen und Säuseln der Stimmen zu hören. Es ist der Autorin gelungen, ein absolut glaubhaftes Bild einer Kindheit zu kreieren, einer Kindheit, die noch nach dem Tod bestehen bleibt und berührt.

Man lässt sich fallen in diese fremdartige Verbindung aus Mythen und historischen Fakten, Mimetischem und Erfundenem. Der Fluss und das Ertrinken sind immer wiederkehrende Motive, Naturgewalten werden personalisiert, Magie ist allgegenwärtig, so wie auch der Tod. Beständig schwebt er über allem, reißt geliebte Menschen und Tiere aus dem Leben und entzieht sich in seiner Willkürlichkeit dem Verständnis der Figuren. Auch die Autorin macht aus dem Tod ihrer Protagonistin ein unlösbares Rätsel: Das Ende des Romans wirft mehr Fragen auf als es beantwortet. Ist das problematisch? Nicht unbedingt. Aber mitreißend ist es allemal.

Es bleibt nur zu hoffen, dass La Terre qui penche ins Deutsche übersetzt wird wie zuvor auch schon Das genähte Herz (Originaltitel: Le Cœur cousu), das preisgekrönte Debüt der Autorin.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Carole Martinez: La terre qui penche.
Französisch.
Éditions Gallimard, Paris 2015.
368 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9782070149926

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