Die Mühen der Ebene

Jan-Werner Müller erklärt den Populismus, Harald Welzer ruft zum Engagement gegen ihn auf

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – das Gespenst des Populismus. Dabei handelt es sich nicht um einen beliebigen Kampfbegriff, sondern der Populismus ist ein präzise beschreibbares Phänomen, wie das beispielhaft Jan-Werner Müllers kompakte Analyse Was ist Populismus? (2016) gezeigt hat. Unabhängig von nationalen Eigenheiten ist das Kernnarrativ immer gleich: Ein „wahres Volk“ sei bisher von einer kleinen „Elite“ ausgebeutet und manipuliert worden, sodass es diese Ausbeutung angeblich nicht bemerkt habe. Nun aber würde das „Volk“ zum Gegenschlag ausholen, und praktischerweise stehe dafür auch schon ein Anführer/eine Partei bereit. Diese Mission rechtfertigt letztlich jedes Mittel, und ja, demnach dürfe man genau dieselben „unterdrückenden“ Maßnahmen anwenden, die man bisher der „Elite“ unterstellt hatte, denn nun geschehe es ja im Namen eines höheren Ziels. In den meisten Fällen geht es zudem darum, eine bessere Vergangenheit „wieder“ herzustellen, in der der Nationalstaat und sein (in der Regel weißer, männlicher) Bewohner angeblich noch souverän über alles entscheiden konnten, ob man nun Kohleimporte besteuert, gegen den Nachbarn Krieg führt oder das Geschlechterverhältnis so bleibt, wie es schon immer war. Das, so Müller, ist keine genuin rechte oder linke, sondern eben eine populistische Erzählung, die Feinde braucht. Wie die letzten Jahre gezeigt haben, ist diese Erzählung sowohl bei den Trumps, Le Pens, Erdogans und Gaulands dieser Welt wie auch bei sich eher links verstehenden „Bewegungen“ wie der griechischen Syriza oder den italienischen „Cinque Stelle“ zu finden, wenn auch in unterschiedlichen Schattierungen. Auch Deutschland hat eine rechtspopulistische Partei, aber wirklich zu verstehen ist sie nur in diesem größeren Kontext.

Trotzdem, so argumentiert Harald Welzer, bilden Menschen mit diesen Überzeugungen in der deutschen Gesellschaft derzeit nur eine Minderheit von maximal 20 Prozent – viel weniger, als man nach der Berichterstattung in den Medien und nach der Rhetorik von AfD und Pegida annehmen könnte. Aktuelle Wahlumfragen scheinen Welzer zwar recht zu geben, auch wenn ein zweitstelliges Ergebnis bei der Bundestagswahl aus jetziger Sicht (Juli 2017) nicht auszuschließen ist. Welzer zieht die aktuelle Shell-Studie und Erhebungen der Friedrich-Ebert-Stiftung  vom vergangenen Jahr heran, also durchaus seriöse Quellen. Ermutigend findet er außerdem das breite bürgerschaftliche Engagement in der Flüchtlingshilfe seit dem Sommer 2015 und die kontinuierliche Abnahme der Angst vor Zuwanderung bei Jugendlichen. Zudem gehe es den Deutschen insgesamt so gut wie nie – nach 70 Jahren Frieden und wirtschaftlichem Aufschwung. Auch große Probleme wie die Wiedervereinigung habe man bewältigt, und so werde man auch Flüchtlingskrise und Energiewende meistern.

So beruhigend muss die Lage aber nicht bleiben, warnt Welzer. Vor allem muss man aus seiner Sicht dem Eindruck entgegentreten, die Rechtspopulisten sprächen für die „schweigende Mehrheit“, während sie in Wirklichkeit nur die Ansicht einer Minderheit verträten. Die wirkliche Mehrheit, so Harald Welzer, solle hingegen etwas anderes tun: sich bürgerschaftlich engagieren und politisch Position beziehen, um nicht den Rechten das Feld zu überlassen, die allmählich den Referenzrahmen der gesellschaftlichen Diskussion verschieben. Für sein Gegenkonzept wählt er Karl Poppers Begriff der „offenen Gesellschaft“, in der jeder nach seiner eigenen Auffassung leben soll. Für jeden Menschen sollten dabei die Grundrechte gelten, wie sie im Grundgesetz festgelegt sind. Welcher Organisation man beitrete, ist dabei für ihn zweitrangig, soweit sie sich für die liberale parlamentarische Demokratie einsetzt, wie wir sie kennen. So gesehen, ist Welzers kompakte Schrift Wir sind die Mehrheit ein dringend notwendiges Buch und hilft hoffentlich dabei, seine Leser von der Couch auf die Straße und ins konkrete, langfristige Engagement zu bringen.

Welzers Buch ist als Pamphlet, als Brandbrief zu verstehen; es ist damit einer Gattung zuzurechnen, die spätestens mit Stéphane Hessels Empört euch! (2011) wieder en vogue ist. Analysen spielen für ihn eine untergeordnete Rolle. Dies führt aber bei genauerer Lektüre zu Widersprüchen in der Argumentation. Zum einen kritisiert er die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte, die die Lebensverhältnisse vieler Menschen unsicherer gemacht und die Armut vergrößert habe – die zugkräftigsten populistischen Bewegungen fänden sich schließlich in Staaten wie Russland (man könnte ergänzen: den USA, Großbritannien), in denen ein entfesselter Kapitalismus die größte Armut produziert habe. An Stelle der Armutsbekämpfung sei selbst bei den sozialdemokratischen Parteien das Engagement für die Anerkennung von Minderheiten wie etwa den Schwulen und Lesben getreten, die aber ökonomisch nichts koste (was diese Anerkennung nicht falsch macht). Schön und gut, aber wie soll bürgerschaftliches Engagement allein diese Politik auffangen? Jedenfalls dann, wenn es über die Versorgung der Armen in Tafeln und anderer freiwilliger Sozialarbeit hinausgehen soll – denn das wäre ja nur die Verwaltung tatsächlich existierender Armut. Und dass keine momentan denkbare Bundesregierung Maßnahmen zur Abhilfe einleiten (sprich: die Agenda 2010 zurücknehmen) würde, kann man absehen. Und nein, auch die AfD nicht, wie Welzer zu Recht anmerkt, da viele ihrer Mitglieder und Wähler selbst zu denen gehören, die vom wirtschaftlichen Status Quo profitieren – und die Partei zugleich die Erregungsmaschine in Gang halten muss, die ihr immer neue Wähler zuführen soll.

Welzers leidenschaftliches Plädoyer für das praktische Engagement führt leider auch zum Ressentiment gegen die aktuelle Kulturwissenschaft als „Ätschebätsch-Theorie“, die jedwedes gesellschaftliche Phänomen als „kulturell konstruiert“ wegdiskutieren könne. Stattdessen gelte es, sich der wirklichen Welt zu stellen. Schön und gut, aber warum sollen Engagement und Theorie sich ausschließen? Um sich effektiv gegen den Populismus zu stellen, muss man ihn zuvor doch gerade analysieren. Dafür muss man sich zum Beispiel seine medialen Strategien und seine philosophischen Überzeugungen ansehen. Ähnlich wie die Nationalsozialisten oder die junge Sowjetunion bedienen sich auch die Populisten der jeweils neuesten Medien, um bereits etablierte Kommunikationskanäle zu umgehen und zugleich besonders modern zu erscheinen, auch wenn sich in den neuen Schläuchen vergammelter Wein befindet. Warum gibt sich etwa die Identitäre Bewegung einen betont hippen Anstrich, wenn sie inhaltlich Konzepte des 19. Jahrhunderts vertritt? Welche Folgen hat es, wenn Donald Trump mit seinen Untertanen, pardon, Wählern ausschließlich über Twitter und ihm geneigte Medien kommuniziert, gleichzeitig aber etablierte Kanäle wie CNN oder die „New York Times“ öffentlich diffamiert? Wie wichtig sind Argumente und objektive Wahrheit überhaupt für Wähler, die dem Populismus aus emotionalen Gründen anhängen und sich einfach nicht dafür interessieren, dass die Erde keine Scheibe ist und Wasser nicht bergauf fließt? Bei Stephen Bannon weiß man immerhin, wer ihn ideologisch inspiriert – der geschichtsphilosophische Pessimismus Oswald Spenglers und sein Denken in langfristigen Geschichtszyklen, oder der französische Nazi-Kollaborateur Charles Maurras. Aber auf welche Konzepte greift die Neue Rechte in Deutschland zurück, wenn sie einerseits behaupten muss, nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun zu haben, und trotzdem ein nationalistisches Masternarrativ etablieren will? Es gibt ja nicht nur die Ideen von 1933, sondern auch die von 1806, 1813, 1871 und 1914 – was ist mit diesen und inwiefern sind sie für die Neurechten in Deutschland relevant? Und schließlich: Wie verträgt sich Welzers Ansicht, dass es in jeder westlichen Gesellschaft stets etwa 20 Prozent Freiheitsfeinde gebe, mit der konkreten Erklärung der gegenwärtigen Misere durch die Politik des Neoliberalismus? Und wie passt die mit der Erklärung zusammen, den Deutschen gehe es so gut wie nie. Vielleicht könnte man diese Widersprüche auflösen, aber dafür lässt die Form des Pamphletes keinen Raum.

Die Analyse ist also, wie gesagt, nicht Welzers Stärke. Aber dafür gibt es ja Texte wie den von Müller. Welzers Aufruf zum konkreten Engagement für die Demokratie ist aber unbedingt richtig. Und wenn das Buch an diesem Punkt etwas bewegt, dann hat es sein wichtigstes Ziel erreicht.

Titelbild

Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
159 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518075227

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Harald Welzer: Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
128 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783596299157

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch