Stunden des gestörten Kinderglücks

Hermann Hesses Erzählung „Kinderseele“

Von Liane SchüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liane Schüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1918 verfasst, erschien Hermann Hesses Erzählung Kinderseele erstmals 1920 in Buchform, nachdem sie zunächst in der Deutschen Rundschau abgedruckt worden war. Der Plot ist denkbar schlicht: Ein 11-jähriger Junge bestiehlt seinen Vater und ist in den Stunden und Tagen darauf von Schuldgefühlen, Gewissensqualen und Angst geplagt.

Der Text beginnt unvermittelt: „Manchmal handeln wir, gehen aus und ein, tun dies und das, und es ist alles leicht, unbeschwert und gleichsam unverbindlich, es könnte scheinbar alles auch anders sein. Und manchmal, zu anderen Stunden, könnte nichts anders sein, ist nichts unverbindlich und leicht, und jeder Atemzug, den wir tun, ist von Gewalten bestimmt und schwer von Schicksal“. Von einem Tag, dessen Schatten „über alle Tage unseres Lebens“ fällt, berichtet darauf folgend der Ich-Erzähler. Seismographisch spürt er ein diffuses Unheil heraufziehen, ein Unbehagen und eine Ahnung, die er nicht dingfest machen kann: „Der Dämon schlich durchs Haus“. Dabei stehen die Beschreibung der Verlockung und des Diebstahls, Einblicke in die Gedankenwelt und Empfindungen (s)eines kindlich-jugendlichen Ichs und vor allem das ambivalente Verhältnis zum Vater im Vordergrund, der als vermeintlich unfehlbare Überfigur mit „Ruhe und Gelassenheit“ die (moralische) Entwicklung des Sohnes massiv beeinflusst – „unsichtbar stand hinter jeder Wand ein Geist, ein Vater und ein Richter“.

Das Thema der beginnenden Adoleszenz beherrscht den Text mit allen Motiven, die sich hier erwarten lassen: Kindlich-jugendliche Ungeduld, Unzufriedenheit mit sich und der Welt („verdammt widerwärtig war dies Leben“), Verzweiflung, Suche nach der Identität, Abgrenzung von den Eltern, Auseinandersetzung mit der Peergroup und sexuelles Begehren. Denn dass es sich bei dem gestohlenen Gut um „elende[] Feigen“ handelt, die im väterlichen Zimmer liegen, dürfte kein Zufall sein.

Das den Text grundierende Gefühl ist Angst, gepaart mit der Sehnsucht nach der „anderen“, erwachsenen Welt voller Geheimnisse. Von „Schwellen“ ist oftmals die Rede, von „Übergängen“ und „Bewusstwerdung“. Der Torbogen wird zum Symbol einer rite de passage (van Gennep), so dass auch die Topographie den Initiationsprozess als Schweben zwischen zwei Welten, vom Kind auf dem Weg zum Erwachsenen, abbildet. Im Wohnhaus ist die hierarchische Ordnung deutlich markiert und es verwundert kaum, dass die Mutter in den Räumen der unteren Etagen verortet ist, wo „harmlose Luft“ wehte, während das väterliche Studierzimmer erst über eine Treppe erklommen werden muss: „[H]ier oben wohnten Macht und Geist, hier waren Gericht und Tempel und das ‚Reich des Vaters‘“. Während die Mutter das Fundament verkörpert, ist der Vater im kindlichen Universum gottähnlich, jeder Weg zu ihm gerät zum Beicht- oder Bußgang.

Das alles ist spannend, aber nicht ungewöhnlich in Coming-of-age-Narrativen des frühen 20. Jahrhunderts, wie sie bei Robert Musil, Frank Wedekind und Lou Andreas-Salomé zu finden sind. Bemerkenswert ist in Hesses Erzählung, dass und vor allem wie in der Beschreibung des Initiationsprozesses des Ich-Erzählers nicht nur die „Kinderseele“ ihre Verletzlichkeit offenbart. Denn auch die erwachsene Instanz in der Figur des Vaters stößt durch überkommene und nicht aufzubrechende Verhaltensmuster an ihre Grenzen. Dies wird sichtbar, wenn der Vater, der die Zusammenhänge des Diebstahls längst durchschaut hat, den Sohn „zappeln“ lässt und die Strafe aufschiebt, weil er ein Geständnis des Sohnes erwartet oder erhofft. Vergleichbar mit den verängstigten Kindern in Michael Hanekes Film Das weiße Band (2007), denen der Vater die bevorstehende Strafe ankündigt, auf die sie dann einen ganzen Tag lang warten müssen, gerinnt das Warten auch in Hesses Erzählung zur Qual. Beiläufig scheinen die Watzlawick‘schen Axiome reflektiert zu werden − es kann nicht nicht-kommuniziert werden. Botschaften werden über nonverbale und atmosphärische Codes vermittelt, Erwartungen prallen aufeinander, Erhofftes und Unerfülltes, ein „qualvolles Aneinandervorbei-Lieben“ (Kleeberg) und ein Generationenkonflikt par excellence werden sichtbar: „Vielleicht zum ersten Mal in meinem kindlichen Leben empfand ich fast bis zur Schwelle der Einsicht und des Bewusstwerdens, wie namenlos zwei verwandte, gegeneinander wohlgesinnte Menschen sich mißverstehen und quälen und martern können, und wie dann alles reden, alles Klugseinwollen, alle Vernunft bloß noch Gift hinzugießen, bloß neue Qualen, neue Stiche, neue Irrtümer schaffen“.

In zahlreiche Erzählungen und Romane Hermann Hesses fließt Biographisches ein, werden Erfahrungen und Verarbeitungsprozesse in Sprachbilder transponiert. So wurde auch die Kinderseele vor allem autobiographisch gedeutet. Knapp drei Jahre nach dem Tod seines Vaters, kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges, liegt es nahe, auch diesen kurzen Text zum Sinnbild der Lebenskrise des Autors zu erheben. Das diffizile Verhältnis zum streng protestantischen Elternhaus mit dominanter Vaterfigur, eine gerade abgeschlossene therapeutische Behandlung bei einem Schüler C. G. Jungs und fundamentale familiäre Umbrüche in der eigenen Familie mögen in die Erzählung hineingespielt haben. Der Text funktioniert aber auch ohne Bezüge zur Biographie Hesses, indem er ein universelles und zeitloses Thema aufgreift, das der Autor in seinem Werk wiederholt umkreist: Das Erwachsenwerden, der Wille, sich zu positionieren und der Zwang, sich in einer Welt zurechtfinden zu müssen, deren Zusammenhänge, Verantwortlichkeiten und Regeln noch nicht verstanden oder verinnerlicht sind. Wer bestimmt worüber? Welche Rolle spielt der/die Einzelne dabei? Wie soll man allen Ansprüchen gerecht werden? Wie kann die Kluft zwischen Müssen und Wollen austariert werden? Ähnliches hat der Autor fast zeitgleich in seinem Roman Demian (1919) thematisiert.

Zugleich spiegeln beide Texte die Nöte einer Generation, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Zuviel an Verunsicherung erfährt. Die Traumatisierungen und „Erschütterungen“ des Ersten Weltkriegs und ihre daraus folgenden Krisen – nicht nur des kulturellen Bewusstseins – sind kaum bewältigt, als der ambitionierte Versuch einer ersten deutschen Demokratie vor der Tür steht. Beschleunigung, technische Entwicklung und der Verlust tradierter Werte führen zu einer allumfassenden Veränderung, denen das Individuum mit noch zu entwickelnden Strategien beikommen muss.

Die im Frühjahr 2017 erschienene bibliophile Ausgabe der Büchergilde Gutenberg mit schillerndem Einband, wahlweise in blau oder natur-rosa, gibt Hermann Hesses Erzählung Kinderseele eine reizvoll-irritierende zusätzliche Ebene. Die in Pastellfarben gehaltenen Illustrationen von Marie Wolf, die mit Reminiszenzen an ihre eigene Kindheit in den 1990er Jahren spielen (Gameboy, Kaugummiautomaten und Kiosk-Süßigkeiten) geraten zu Genrebildern, in denen familiäre Momentaufnahmen und die Vereinzelung des Protagonisten eingefroren scheinen. Die Architektur leerer Hochhausschluchten und das reduzierte Interieur gruppieren sich um menschliche Gestalten mit Tierköpfen. Der Protagonist erscheint als Affe, der erst im Kampf mit dem Klassenkameraden zum Gorilla mutiert, der Vater ist ein Adler mit strengem Blick, die Mutter und die Schwestern, betend am Esstisch sitzend, sind Ziegen. Das lädt zur Reflektion ein und verweist auf die andere Perspektive des kindlichen (Gedanken-)Universums. Im Spiel mit christlicher Symbolik fügt die Illustratorin der Erzählung Hesses in gelegentlich surreal anmutenden Bildern weitere Deutungshorizonte hinzu.

In ihrer Nachbemerkung erklärt Marie Wolf, dass sie versucht habe, über eigene Kindheitserinnerungen einen Zugang zu Hesses Erzählung zu finden: „gezuckerte Feigen hätten mich wahrscheinlich nicht so sehr in Versuchung gebracht wie ein Hamburger aus Gelatine […]. Doch die Geschichte […] ist keineswegs ein Relikt aus alten Zeiten. Kinderseelen bleiben Kinderseelen, zerbrechlich und fantastisch“. Das Ergebnis dieses Brückenschlags ist ungewöhnlich und sehr gelungen!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hermann Hesse: Kinderseele. Erzählung.
Mit Illustrationen von Marie Wolf.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2017.
76 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783864060663

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