Res interpres sui

John Scheid und Jesper Svenbro gewähren einen Einblick in die generative „Werkstatt der Mythologie“

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich mit Mythentheorien beschäftigt, steht unweigerlich vor dem Problem, dass es nach wie vor keine anerkannte Definition von „Mythos“ gibt. Selbst Minimaldefinitionen sind mit Unsicherheiten behaftet, da in ihnen nicht selten die Heterogenität dessen wirkt, was man historisch und systematisch als Mythos zu bestimmen sucht. Im einen Fall lässt sich ein funktionalistischer Begriff erkennen, der Mythos als kulturellen Leistungswert ausweist. Vor allem aus religionswissenschaftlicher und ethnologischer Sicht wird die fundierende, legitimierende und weltmodellierende Funktion von lebendigen Mythen in schriftlosen Kulturen herausgehoben. Im anderen Fall lässt sich Mythos im Sinne der strukturalen Forschungen Claude Lévi-Strauss’ als narrativer Begriff fassen; diese durch Aristoteles eingeführte Verwendung bestimmt Mythos als strukturierte Rede und ist heute etwa im Französischen noch gleichbedeutend mit fable, légende oder mythe im Sinne von erfundener Geschichte. Eine weitere Variante, wie sie etwa in Hans Blumenbergs epochalem Werk Arbeit am Mythos zu greifen ist, bezieht sich auf literarische Mythen, insbesondere in der europäischen Mythentradition der abendländischen Schriftkultur. Anders als funktionalistische Mythen schriftloser Kulturen werden literarische Mythen ständig um-, weiter- und widergeschrieben. Mythos will gerade nicht als verbindlich und ein für allemal fixiert, sondern immer schon als in Weiterverarbeitung übergegangen verstanden werden. Somit beruht literarische Mythenrezeption nicht auf Unveränderlichkeit, sondern auf spielerischer, kreativer Variation.

So unterschiedlich diese Vorstellungen sind, einig sind sie sich in der Vorstellung vom narrativen Kern aller Mythen, einer Idee, aus der – über alle Epochengrenzen und Kulturräume hinweg – unterschiedliche Erzählungen entstehen konnten. Den radikalen Neuansatz eines Material turn verfolgen seit vielen Jahren die Altertumswissenschaftler John Scheid und Jesper Svenbro, denen zufolge Gedichte und Erzählungen nicht aus Ideen, sondern aus Worten gemacht werden. Ausgangspunkt ihrer Studien sind die Analysen des belgischen Religionswissenschaftlers und Altphilologen Marcel Detienne zum Mythos des Olivenbaums, der belegen konnte, dass ein materieller Gegenstand (der Olivenbaum) für sich allein einen Mythos darstellen kann (vor allem in Athen steht der Olivenbaum im Schnittpunkt wirtschaftlicher, religiöser und politischer Aspekte) und damit weitere Fragen provozierte: Kann es sein, dass die alten Erzählungen von der Gründung Athens, Karthagos (vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit) oder Roms, von Orpheus, von der Schildkröte und der Lyra erst viel später und um die Orte und die Gegenstände herum erfunden wurden? Verfolgt man Detiennes Perspektive weiter, tritt ein Mythos nicht zwangsläufig in Gestalt einer Erzählung mit narrativer Struktur in Erscheinung, die man traditionell als den Stoff ansieht, aus dem Mythologisches besteht. Vielmehr kann sich ein Mythos gewissermaßen materialisieren, in einem einzelnen, schlichten Gegenstand verdichten, der quasi „einen harten Kern“, seine „Matrix“ bildet.

Ist ein solcher Mythos ohne jede narrative Dimension jedoch überhaupt vorstellbar? In einer früheren Publikation, Le Métier de Zeus (1994), haben sich Scheid und Svenbro etwa dafür entschieden, anstatt die Protagonistin des Arachne-Mythos, eine Weberin aus Kleinasien, in den Mittelpunkt der Analyse der mythischen Erzählung zu stellen, in allgemeiner und zugleich konkreter Form die Mechanismen zu untersuchen, die einen materiellen Gegenstand – in diesem Fall das beim Weben erzeugte Gewebe – zum Status eines Mythos zu erheben und ihn mit nicht-narrativen Kategorien zu definieren, ähnlich wie es Detienne in seiner Studie zum Ölbaum-Mythos und Louis Gernet, der sich in einer wichtigen Studie zum Ziel gesetzt hatte, die mythische Auffassung vom Wert (griech. agalma) im alten Griechenland zu erforschen, vorgegeben hatten. Wie Scheid und Svenbro im zweiten Kapitel ihrer jüngsten Arbeit Schildkröte und Lyra sehr anregend belegen, bedeutet es, das Gewebte in seinem Status als Agalma in generativer Perspektive zu untersuchen, das heißt zu erkennen, dass der Gegenstand offenbar im Rahmen der Erzählung selbst seine Auslegung offenbart: res interpres sui.

Beide Autoren bezeichnen „diese Art, das Verhältnis zwischen der Bezeichnung des symbolisch befrachteten Gegenstands und der Geschichte, die er ‚generiert‘ (ins Leben ruft) zu rekonstruieren“, als „generativ“, jedoch ohne die Bedeutungskomponenten, die dieser Begriff in der Sprachwissenschaft umfasst. Scheid und Svenbro verwenden das Adjektiv „im Sinne einer Generierung, Genese, Ausarbeitung oder Erzeugung. Gemeint ist die Erzeugung von Sagen ebenso von Bildern und Ritualen bis hin zu deren Auslegung.“ So ist etwa die gedankliche Verknüpfung im bekannten Mythos von der Schildkröte und der Lyra (die stumme Schildkröte konnte nicht singen, vererbte aber der Lyra ihren Panzer und wurde so zum Klangkörper des schönen Instruments der Antike) eine mytho-logische Aktivität im engeren Sinne, insofern, als aus dem Mythos heraus eine Geschichte entsteht. Als Matrizen für die Entstehung dessen, was als Mythos bezeichnet wird, dienen also im Grunde genommen nicht die Geschichten als solche, sondern diese vorher schon vorhandenen symbolischen Verknüpfungen.

Ein weiteres treffendes Beispiel, das Scheid und Svenbro im fünften Kapitel ausführlich untersuchen, ist die Ambiguität des griechischen Wortes mélos, das mit dem Tod des Orpheus, des bedeutendsten Sängers und Dichters der griechischen Mythologie, verknüpft ist. Erbost über Orpheus’ Vertrautheit mit Apollon als größtem der Götter, schickte Dionysos dem Dichter die Bassariden (Mänaden), die ihn, einem Fragment des Ps.-Eratosthenes zufolge, „in Stücke rissen und seine melē in alle Winde zerstreuten. Die Musen sammelten sie wieder auf und bestatteten sie an einem Ort namens Leibethra.“ Deutlich wird: Orpheus wird von den Mänaden zerstückelt, ein Schicksal, das auch dem thebanischen Herrscher Pentheus in Euripides’ Bakchen beschieden ist, doch anschließend sammeln die Musen seine zerstörten Glieder (melē) wieder auf; gleichzeitig bedeutet mélos (Plural melē) nicht nur „Körperteil“, sondern auch „Gesang, Melodie, Gedicht“. Wenn also die Musen, die Göttinnen des Gesangs, die Körperteile des ermordeten Sängers wieder aufsammeln (synagagousai) und bestatten, dann sammeln und bestatten sie zugleich seinen Gesang, indem sie ihn und seine Lieder sozusagen in Form einer Anthologie symbolisch vereinen. Nach Scheid und Svenbro ist die de-/konstruktive Ambiguität des Wortes mélos generativer Kern der Erzählung über Orpheus’ Tod:

Offensichtlich wurde sie sogar wegen dieser Doppeldeutigkeit formuliert und diese effizient genutzt. Es ist schwer vorstellbar, dass die zweifache Bedeutung von melos erst im Nachhinein durch denjenigen entdeckt worden wäre, der die Geschichte als Erster erzählte, selbst wenn es so wirkt, als gewähre die griechische Sprache dem Erzähler diesen besonderen Bonus. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Verknüpfung von Bedeutungen, in diesem Fall ‚Körperteil‘ und ‚Gesang‘, auch diesmal als Ausgangspunkt für den Aufbau des mythischen Berichts dient.

Scheid und Svenbro sehen den Mythos demnach nicht als Geschichte, sondern „einfach als Verknüpfung, als Konkatenation von Kategorien. […] Diese Konkatenation erst schafft innerhalb einer bestimmten Kultur die Möglichkeit, ihre eigenen Mythen und Sagen, Bilder und Rituale zu erzeugen.“

Darüber hinaus ist es aus Sicht der beiden Forscher durchaus legitim, zu denken, dass auch ein Eigenname den „Mythenkern“ bilden kann: Als solcher umfasse er bereits eine Nominalphrase (den Eigennamen eines konkreten Individuums) und Verbalphrasen (den Eigennamen, der etwa bei Ödipus nacheinander auf den geschwollenen Fuß [griech. oidáō „anschwellen“, pous „Fuß“], das Hinken und das Rätsel der Sphinx [griech. oida „wissen“; Oi-di-pous: der „zweifüßige“ Ödipus, der um das in der Sphinx-Frage relevante Rätsel bezüglich der Anzahl der Füße „weiß“] hinweist. Damit ist man, wie Scheid und Svenbro zu Recht hervorheben, von der Vorstellung des Eigennamens als „bloße Bezeichnung“ weit entfernt. Dies belegen die beiden Forscher eindrucksvoll in ihren „botanischen Studien“ im dritten Kapitel sowie im sehr ausführlichen Abschlusskapitel zur „Macht der Namen“.

Abschließend ist zu sagen, dass es Scheid und Svenbro in ihrer großartigen Arbeit gelungen ist, ihr früheres Konzept einer generativen Mythologie im vorliegenden Band wiederaufzugreifen und ebenso wissenschaftlich präzise wie sprachlich luzide zu verdeutlichen, dass man Aufbau, Gestaltung und Umsetzung bestimmter mythischer Handlungen verstehen kann, ohne sie ideengeschichtlich zu hierarchisieren, also etwa die Sage als Erklärung eines religiösen Rituals zu sehen oder umgekehrt. In der weiteren Erforschung der Mythen wird man um ihre mytho-poietische Grundannahme, dass mythische Berichte ausgehend von einer einfachen Matrix, sei es eines Konglomerats oder einer Konkatenation, generiert werden, nicht mehr herumkommen. Die überzeugende Vorstellung, eine Sage entstehe aus einer einfachen, innerhalb der jeweiligen Kultur nachvollziehbaren Grundlage, auch wenn diese nicht zwangsläufig expliziert wird, stellt einen möglichen Neuansatz für die Erforschung der Mythen dar, der die Überlegungen der Vorgänger Detienne, Gernet, Lévi-Strauss oder Blumenberg nicht verabschiedet, sondern vielmehr produktiv erweitert – ein geistreicher Lese-Genuss auf höchstem akademischen wie literarischen Niveau!

Titelbild

John Scheid / Jesper Svenbro: Schildkröte und Lyra. In der Werkstatt der Mythologie.
Übersetzt aus dem Französischen von Birgit Beckschäfer.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2017.
222 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783805350624

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