Feminismus, Bürgerkrieg und Liebe

Der S. Fischer Verlag publiziert das feministische Manifest der afroamerikanischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie und legt einige ihrer literarischen Werke neu auf

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immanuel Kant gilt zwar als Weltweiser und war zweifellos ein großer Aufklärer, von der Hälfte der Menschheit, den Frauen, hielt der Königsberger Hagestolz allerdings eher wenig. So führte er in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? „das ganze schöne Geschlecht“ als Beispiel für all jene Menschen an, die zu bequem und zu furchtsam seien, ihren eigenen Verstand zu benutzen. Überhaupt galt ihm die Furcht, die er wie alle Gefühle geschlechtlich codierte, als dezidiert weibliche Emotion. Eine andere, der Zorn, ist ihm zufolge hingegen ausgesprochen männlich, wie er in verschiedenen Bemerkungen und Notizen etwa im durchschossenen Exemplar seiner Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen vermerkte. „Der Zorn“ sei „eine sehr nöthige und dem Manne geziemende Eigenschaft“, ist dort etwa zu lesen.

Neu war diese Verknüpfung natürlich auch zu Kants Zeiten nicht, hebt doch schon ein großes Epos ganz zu Beginn der europäischen Literatur mit einem Hymnus auf den Zorn eines Heroen vor den Toren Trojas an. Allerdings kannte die antike Mythologie sehr wohl auch zornige Frauen respektive Göttinnen. So bekam Göttervater Zeus – oder genauer gesagt die von ihm auf vielfältige Weise verführten sterblichen Menschenfrauen – nicht eben selten den Zorn seiner eifersüchtigen Göttergattin Hera zu spüren. Und selbstverständlich leugnete auch Kant nicht, dass Frauen zornig werden können, doch sei es in ihrem Falle nur der aus der Hilflosigkeit eines „schwachen Menschen“ geborene Zorn, der sich allenfalls verbal äußern und nur gegen Geschlechtsgenossinnen, niemals aber gegen Männer richten könne. Zudem widerspreche „des Weibes Zorn“ seinen „Gesichtszügen“.

Auch heute noch, fast ein Vierteljahrtausend nach dem Wirken Kants, ist der weibliche Zorn unter den Herren dieser Welt nicht gut beleumundet. Das wird vielleicht nicht immer so deutlich gesagt wie noch zu dessen Zeiten, ist aber leicht an einem bestimmten „Tonfall“ herauszuhören, mit dem Männer nicht selten ein Streitgespräch mit Frauen zu führen pflegen, wie etwa die aus Nigeria stammende afroamerikanische Autorin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie erfahren mußte. „Zorn“, besagte der Tonfall eines sie kritisierenden Bekannten „steht insbesondere Frauen nicht an. Als Frau bringt man besser keinen Zorn zum Ausdruck, denn das wirkt bedrohlich.“ Adichie erzählte diese Anekdote während ihrer 2012 gehaltenen Rede vor der jährlich stattfindenden TEDxEuston-Konferenz und forderte ihre ZuhörerInnen entgegen der Auffassung ihres Bekannten auf, „wir alle“ sollten zornig sein, denn Zorn habe „schon oft zu positiven Veränderungen geführt“.

Aus diesem Vortrag ist ihr berühmtes Manifest We Should All Be Feminists hervorgegangen. Seit Herbst 2016 liegt es gemeinsam mit vier Kurzgeschichten unter der Überschrift Mehr Feminismus! auch in deutscher Übersetzung vor. Dass darauf verzichtet wurde, den Titel des Manifests, der zugleich derjenige der Originalausgabe des Buches ist, originalgetreu zu übersetzen, liegt wohl in dem Wunsch begründet, das generische Maskulinum der deutschen Sprache zu vermeiden.

Adichies Manifest legt in ebenso einfachen wie eindringlichen Worten nicht nur dar, warum wir alle zornig sein sollten, sondern, ganz dem Titel gemäß, auch und vor allem, warum wir alle FeministInnen sein sollten. Dabei kommt sie ganz ohne ‚höhere‘ Gendertheorie aus, begründet und illustriert ihre Feststellungen und Forderungen jedoch mit zahlreichen Beispielen. Dem Anlass entsprechend – sie hielt die Rede auf der Konferenz einer Organisation, die sich der Aufgabe verpflichtet hat, die Vielfalt, die Lebendigkeit und das Potenzial Afrikas zu feiern – wendet sich Adichie insbesondere an ein afrikanisches, vielleicht sogar überwiegend nigerianisches Publikum. Ihre entscheidenden Aussagen aber gelten universell, wie etwa die Feststellung, dass die Verteilung der gegenwärtigen Geschlechterrollen ein „schwerwiegendes Unrecht“ ist, weil sie den Menschen vorschreiben, wie sie sein sollen, statt anzuerkennen, wie sie sind. Eben darum setzt sie sich für „eine Welt voll glücklicher Männer und Frauen, die ihre wahres Selbst nicht mehr verbergen müssen“, ein.

Jenen, die sich angesichts dieses allgemeinen und umfassenden Ziels fragen, warum sie denn dann von Feminismus und nicht einfach von Menschenrechten spricht, erklärt sie, dass Frauenrechte selbstverständlich Teil der allgemeinen Menschenrechte sind, „aber sich für den verschwommenen Ausdruck Menschenrechte zu entscheiden“, hieße „spezifische und spezielle Probleme zu leugnen“. Anschließend erhellt Adichie ihren Punkt auf die für sie typische Art anhand einer Anekdote:

Bei einem Gespräch über Feminismus fragte mich ein Mann: „Warum müssen es deine Erlebnisse als Frau sein? Warum nicht als Mensch?“ Diese Art Frage bringt die spezifische Erfahrung einer Person zum Verstummen. Natürlich bin ich ein Mensch, aber in dieser Welt geschehen mir Dinge, weil ich eine Frau bin. Dieser Mann sprach oft über seine Erfahrungen als schwarzer Mann.

Etwa zur gleichen Zeit wie Adichies feministisches Manifest kam ein zweiter, ebenso schmaler Band der Autorin in die deutschen Buchhandlungen: Liebe Ijeawele. Es handelt sich um einen – offenbar nicht fiktiven – Brief an eine „frischgebackene Mutter“ aus ihrem Bekanntenkreis, die sie um Rat bat, „wie man ein neugeborenes Mädchen feministisch erzieht“. Ebenso wie Adichie ist die Adressatin eine Angehörige des im Südosten Nigerias ansässigen Volkes der Igbo. So, wie sich ihr Manifest an ein afrikanisches Publikum richtet, spricht sie hier also zu einer afrikanischen Mutter in Nigeria. Manchen ihrer Ratschläge merkt man an, dass sie sich auf eine Erziehung in einer Kultur Zentralafrikas beziehen. Doch sind auch sie meist von universeller Gültigkeit, wie etwa der, dem Kind nie zu sagen, es solle etwas tun oder lassen, weil es ein Mädchen ist.

Darüber hinaus gibt es noch eine weitere ins Auge fallende Gemeinsamkeit beider Texte: Ebenso wie im Manifest kommt sie auch in dem Brief auf ihren Zorn zu sprechen und erläutert diesmal, warum Sexismus sie zorniger macht als Rassismus:

Ich bin zornig über Rassismus. Ich bin zornig über Sexismus. Aber ich bin zorniger über Sexismus als über Rassismus. Weil ich mich mit meinem Zorn über Sexismus oft allein fühle. Ich liebe und lebe unter Menschen, die unrecht aufgrund von Rasse sofort anerkennen, aber nicht Unrecht aufgrund von Geschlecht.

Neben allen Ratschlägen greift sie auch schon mal ein feministisches Bonmot aus dem Kampf gegen das Abtreibungsverbot auf und wendet es originell: „Eine Feministin zu sein ist wie schwanger zu sein. Entweder man ist es, oder man ist es nicht.“

Adichies sprachliche Gewandtheit kann natürlich nicht verwundern, hatte sie sich doch schon lange, bevor sie als Feministin bekannt geworden ist, als Literatin einen Namen gemacht. Ihre Fähigkeit, nicht nur Aphorismen mit leichter Hand abzuwandeln, sondern wundervolle Bilder und Metaphern zu entwerfen, kann sie in der Literatur selbstverständlich noch weit besser entfalten als in Manifesten oder Briefen, wie auch die vier Kurzgeschichten zeigen, die gemeinsam mit dem Manifest in dem Band Mehr Feminismus! veröffentlicht wurden. Etwa wenn Frauen im „uferlosen Ozean“ ihrer „Nettigkeit“ unterzugehen drohen. Die Jahreszeiten Nordamerikas bieten ihr ebenfalls Gelegenheit, mit ihrer bildereichen Sprache zu brillieren. Der Sommer zum Beispiel, in dem „die Sonne sich Zeit lässt und bis weit in den Abend hinein flirtet“, oder der Herbst, in dem die Landschaften Neuenglands wirken, „als hätten die Blumen ihre Farben dem Laub der Bäume geliehen“. Da lässt Adichie natürlich einen Menschen sprechen, der in der immergrünen Nähe des Äquators wohnt, wo die Sonne jahrein jahraus fast pünktlich um 18 Uhr quasi von einem Moment auf den anderen hinter dem Horizont versinkt. Selbstverständlich sind diese Stories nicht weniger feministisch als das Manifest. Die Männer in den vier literarischen Texten wiederum sind ‚echte Männer‘. Das heißt, sie schneiden meist nicht allzu gut ab.

Das ist auch in Adichies nun neu aufgelegtem Erzählband Heimsuchungen nur selten der Fall, dessen Original 2009 als The Thing Around Your Neck erschien. Vermutlich stiftete die Erzählung Was dir die Kehle zuschnürt den Titel der Originalausgabe. Täuschen Frauen um der lieben Ruhe willen oder auch schon mal ihrem Partner zuliebe einen Orgasmus vor, so tut die Protagonistin dieser Geschichte so, als käme sie nicht zum Höhepunkt. Ein freundlicher Amerikaner wiederum, den böse Zungen wohl als Gutmensch charakterisieren würden, verzichtet auf den Genuss von Fleisch, weil es „Unrecht“ sei wie man Tiere tötet; „er sagte, das setze angsterzeugte Toxine in den Tieren frei, und diese Toxine würden die Menschen paranoid machen.“

Die Vereinigten Staaten von Amerika erscheinen manchen der EinwanderInnen als „Land der Kuriositäten und Derbheiten“, in dem eine „Mischung aus Ignoranz und Arroganz“ vorherrscht und „mit so viel Bequemlichkeit abgepolstert ist, dass es steril ist“. Es lässt sich aus den Geschichten also einiges darüber erfahren, wie das fremde Land jenseits des Atlantiks auf MigrantInnen oder BesucherInnen aus Zentralafrika wirkt.

Eine der Storys, Letzte Woche Montag, ist noch auf ganz andere Weise erhellend, thematisiert sie doch die gegensätzlichen Konnotationen, die dem Wort „Mischling“ in den USA und in Nigeria innewohnen. Der sich in ihm und manch anderem andeutende cultural clash wirkt zunächst einmal recht lustig. Dabei bleibt es allerdings nicht, wird die Geschichte doch zunehmend melancholischer. Aber auch darin erschöpft sich die Story keineswegs.

Die kurzen Erzählungen des Bandes spielen aber nicht nur in den USA, sondern ebenso oft in Nigeria. Die Geschichte Ein privates Erlebnis etwa ist in der nordnigerianischen und muslimisch geprägten Metropole Kano zur Zeit der Herrschaft Sani Abachas in den 1990er-Jahren angesiedelt. Zwei junge christliche Igbo-Frauen aus dem Südosten des Landes sind zu Besuch bei ihrer Tante. Als auf dem Markt plötzlich eines der fast regelmäßigen antichristlichen Pogrome losbricht, verlieren sich die Schwestern aus den Augen. Eine von ihnen flüchtet mit einer älteren Muslimin in ein verlassenes Geschäft, wo sie sich über soziale, ethnische und religiöse Schranken hinweg zu verständigen versuchen. Bei aller Verschiedenheit finden die Frauen zwar nicht gerade zueinander. Doch der cultural clash bleibt im Falle der beiden Frauen nicht nur aus, vielmehr findet trotz aller Verschiedenheit die eine von ihnen in der anderen eine Helferin, die ihr vermutlich das Leben rettet.

Die Story Jumping Monkey Hill wiederum fällt insofern aus dem Rahmen, als sie weder in den USA noch in Nigeria, sondern in Südafrika spielt. Sie wäre sogar das Highlight des Bandes, würden sich die anderen Erzählungen nicht zumeist auf ebenso hohem Niveau bewegen. Zu nennen wäre da insbesondere Die Ehestifterin, in der eine junge Frau leidvoll entdecken muss, was einer angehenden Braut vor der Ehe alles verschwiegen wird. Jumping Monkey Hill aber ist im Jahr 2000 angesiedelt und erzählt von einem zweiwöchigen Workshop „im Umland von Kapstadt“. Geladen sind eine Handvoll erfolgreicher LiteratInnen aus verschiedenen afrikanischen Ländern. Protagonistin ist die nigerianische Schriftstellerin Ujunwqa, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. Verhandelt werden der afrikanische Literaturbetrieb, Sexismus, Lesbenfeindlichkeit und am Rande auch ein wenig Rassismus. Bei alldem gibt sich die kurze Geschichte auf postmoderne Art selbstreflexiv, was in diesem Fall das Lesevergnügen nur noch erhöht.

Doch nicht nur die Handlungsorte, auch die Handlungszeiten der Geschichten sind weit gefächert. Sie kann sich wie im Falle der in Nigeria angesiedelten Story Die eigenwillige Historikerin schon einmal vom ausgehenden 19. bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts spannen. Auch sind die ProtagonistInnen Adichies keineswegs allesamt weiblich. So verleiht sie in Geister einem in der südostnigerianischen Universitätsstadt Nsukka lebenden 71-jährigen pensionierten Mathematikprofessor eine Stimme und in der Kurzgeschichte Apollo aus dem Band Mehr Feminismus! einem „pflichtbewussten Sohn“. Zelle Eins, die erste der zwölf Geschichten in Heimsuchungen wiederum erzählt von der Läuterung eines nigerianischen Rabauken aus besserem Haus.

So wunderbar die Kurzgeschichten auch sind, Adichie ist keineswegs nur eine Meisterin der kleinen Form, wie sie mit ihren bislang drei großen Romanen bewiesen hat, von denen zuletzt ihr jüngster, Americanah, in literaturkritik.de besprochen wurde.

In ihrem vorherigen Roman Die Hälfte der Sonne nahm die Autorin einige Motive aus den Kurzgeschichten des Erzählbandes Heimsuchungen vorweg. Allerdings ist es gut möglich, dass sie die Erzählungen bereits vor dem Roman verfasst hat. Der jedenfalls erschien 2006 unter dem Titel Half of a Yellow Sun, also drei Jahre vor dem Erzählband, und wurde bereits im Folgejahr in deutscher Übersetzung publiziert. Sein Titel spielt auf die Flagge von Biafra an, dem von SeperatistInnen des Igbo-Volkes 1967 im Südosten Nigerias gegründeten Staat. Die Fahne des nur drei Jahre existierenden Staates zeigt eine aufgehende – oder eben halbe – Sonne vor der mittleren der drei Landesfarben Rot, Schwarz und Grün.

Handlungsorte sind einige kleinere Städte und dörfliche Orte zwischen dem Nildelta und der Grenze zu Kamerun, wie das Universitätsstädtchen Nsukka, in dem die Autorin, die selbst dem Volk der Igbo angehört, studierte, aber auch die Millionenmetropole Port Harcourt. Die Handlungszeit reicht von den frühen bis zu den ausgehenden 1960er-Jahren und umfasst somit die Zeit vor und während des als Biafrakrieg traurige Berühmtheit erlangten (Bürger-)Kriegs, in dem Nigeria Hunger als tödliche Kriegswaffe einsetzte, der nach unterschiedlichen Schätzungen in den letzten beiden Kriegsjahren zwischen ein und zwei Millionen Igbo zum Opfer fielen. Weitere 750.000 Angehörige der Igbo – zumeist ZivilistInnen – wurden von nigerianischen Truppen massakriert.

Ökonomische Ungleichheiten entlang der Stammes- und Volkszugehörigkeiten vereint mit gegenseitiger Verachtung hatten eine entscheidende Rolle für die Separationsbestrebungen der Igbo gespielt. Einander durchkreuzende und überschneidende Stammes- und religiöse Gegensätze stachelten den gegenseitigen Hass weiter an, die in einem Putsch von Ingbo-Offizieren und einem Gegenputsch mündeten. Letzterer gipfelte in einem Massaker, bei dem 10.000 Igbo ihr Leben ließen. Es wurde zur Initialzündung für die Gründung Biafras. Doch auch die ehemalige englische Kolonialmacht, die vor und während des Krieges die nigerianische Zentralregierung unterstützte, hatte ganz maßgeblich ihre Finger im Spiel. Während des Krieges ergriffen zudem die USA, die Sowjetunion und Ägypten für Nigeria Partei, indem sie deren Militär mit Waffen versorgten. Allerdings wird den Engländern keineswegs die (alleinige) Schuld am Ausbruch des Kriegs angelastet. „Sie mögen Feuerholz gesammelt haben, aber das Streichholz angezündet haben wir“, bemerkt eine von Adichies Figuren zutreffend.

Zwar lässt der Roman die Entstehung und Entwicklung des Kriegs aus der Sicht der Igbos deutlich werden, dennoch ist es hilfreich, ein einschlägiges Geschichtsbuch zur gelegentlichen Konsultation zur Hand zu haben. Nicht, weil man damit objektivere Informationen bekäme, sondern weil sich dann die historischen Hintergründe besser verstehen lassen. Auch wird man bemerken, dass Adichie ihren Figuren hier und da eine beiläufige Begegnung mit der einen oder anderen historischen Persönlichkeiten gewährt hat.

Das Grauen des Bürgerkriegs und die psychischen Verheerungen, die die Massaker bei den Überlebenden hinterlassen, kann kein Geschichtsbuch so drastisch vor Augen führen wie Adichies Roman, der vielleicht gerade dann am eindringlichsten ist, wenn er im fast lakonischen Stil eines Zwischeneintrags von ihnen berichtet. Auch verdichtet die Autorin typische Geschehnisse oder Verhaltensweisen in kurzen, prägnanten Szenen. So schildert sie etwa die ebenso arrogante wie ignorante Haltung etlicher (westlicher) JournalistInnen am Beispiel von zwei US-amerikanischen Reportern, von denen einer angesichts von hungernden Kindern, die sich eine Ratte über einem Feuer grillen, vor sich hin murmelt, „die Nigger“ seien „noch nie besonders wählerisch gewesen mit dem, was sie essen“. Er gibt ihnen einige von den Schokoriegeln ab, die er gerade in sich hineinstopft, findet ihr Lächeln „hübsch“, schießt schnell noch Fotos und lässt dann von den ihn umringenden Kinder ab, die sich wieder ihrer gegrillten Ratte zuwenden. Es sind nicht sie, die ihn aufdringlich bedrängen, sondern umgekehrt: Er ist es, der – allen Erwartungen des ‚westlichen‘ Lektürepublikums zuwider – sie bedrängt, wie Adichie mit nur einem Wort deutlich macht. Zugleich zeigt die Szene, dass sich durch eine solche ‚Hilfe‘ rein gar nichts ändert.

Adichie, selbst eine Igbo, idealisiert weder die ProtagonistInnen aus ihrem Volk noch dessen Unabhängigkeitskampf, sondern stellt neben dem Idealismus, der Solidarität und der Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen auch deren Eigensucht, die Vetternwirtschaft, die zunehmende Korruption, die verlogene Propaganda der Staatsführung Biafras sowie den zwischen den Igbo (die in Biafra nun, anders als ehedem in Nigeria, die Mehrheit bilden) und anderen Stämmen des Separatistenstaates grassierenden Rassismus ebenso dar wie den Sexismus. So beginnen Igbo-Soldaten gegen Ende des Kriegs, als sich die ihre Niederlage bereits abzeichnet, die eigene Bevölkerung zu tyrannisieren und (Igbo-)Frauen zu vergewaltigen. Die Verrohung durch den Krieg lässt auch einen der Protagonisten zum später von Gewissensbissen geplagten Vergewaltiger werden.

Adichie erzählt nicht rein chronologisch, sondern abwechselnd aus der Vor- und der Kriegszeit. So erreicht die Autorin, dass die katastrophischen Einschnitte umso deutlicher hervortreten, die der Krieg und die mit ihm einhergehenden Massaker an den Igbo für das Alltagsleben der drei ProtagonistInnen und alle anderen Figuren bedeuten. Eine erzähltechnische Maßnahme, die gar nicht unbedingt nötig gewesen wäre.

Anders als Adichies Erstling Blauer Hibiskus, der konsequent die Perspektive seiner heranwachsenden Ich-Erzählerin einnimmt, ist Die Hälfte der Sonne multiperspektivisch erzählt, was den Lesenden intime Einblicke in die Gemüts- und Motivlage der drei ProtagonistInnen gewährt, aus deren Perspektive jeweils erzählt wird.

Da wäre zunächst Ugwu, zu Beginn der Handlung ein Heranwachsender, der aus seinem Heimatdorf als Housboy des linksliberalen Intellektuellen Odenigbo in das Universitätsstädtchen Nsukka gelangt und sich dort zurechtfinden muss. Mit ihm lernen die Lesenden das Setting des Romans kennen. Zwar gelingt es Ugwu nicht, sich gesellschaftlich hinaufzuarbeiten, auch hält er an seinem Geister- und Wunderglauben fest, doch ist er äußerst wissbegierig, lernt lesen und bildet sich – bis die Kriegsereignisse ihn, wie alle anderen, überrollen. Lange Zeit bleibt er sexuell unerfahren und naiv. So glaubt er etwa, eine Frau, die er begehrt, mit Tränengas willfährig machen zu können. Dass es sich bei einer solchen Tat um eine Vergewaltigung handeln würde, kommt ihm nicht einmal in den Sinn. Als er Olanna, die Geliebte seines Herrn kennenlernt, reagiert er zunächst eifersüchtig, doch gewinnt sie bald sein Herz, zunächst durch ihre Schönheit und schon bald durch ihr freundliches, hilfreiches Wesen.

Olanna, die zweite Figur aus deren Perspektive erzählt wird, ist eine überaus attraktive Intellektuelle und Hochschuldozentin aus bester Familie, bei deren Vater, dem „halb Lagos“ gehört, Minister aus- und eingehen. Den Versuchen ihrer Eltern, sie standesgemäß zu verheiraten, verweigert sie sich ebenso, wie dem Ansinnen des Vaters, sie einem Minister für einen One-Night-Stand als Schmiermittel für die Bewilligung eines bedeutenden Geschäftes zuzuführen. Olanna widersteht beidem nicht nur, weil sie sich in den rebellischen Gerechtigkeitsfanatiker Odenigbo verliebt hat, sondern vor allem, weil sie eine selbstbewusste Frau ist, die auf eigenen Beinen steht. Während Odenigbos „Universitätshaus“ für Ugwu in nie gekanntem Luxus erstrahlt, erscheint es ihr „mit seinen grob geschnittenen Zimmern, der schnörkellosen Einrichtung und den Böden, auf denen keine Teppiche lagen“, ausgesprochen „schlicht“. Mag Olanna Odenigbo auch lieben, heiraten will sie ihn nicht, da sie fürchtet, eine Ehe „würde ihre Verbindung gewöhnlich werden lassen“. Der Krieg wird sie anders darüber denken lassen, wie er auch all die anderen Liebeshändel und -kämpfe, von denen im Roman ganz lebensecht nicht eben wenige toben, zwar nicht endet, sie aber sehr wohl gründlich verändert. Obwohl die Liebesbeziehungen stets nur aus der Sicht jeweils einer der PartnerInnen erzählt wird, gelingt es Adichie doch, die Lesenden an den manchmal ambivalenten und natürlich wandelbaren (aber auch stetigen) Gefühlen und Beweggründen aller Liebenden und deren AntagonistInnen teilhaben zu lassen, bis hin zum von einer Mutter arrangierten Liebesverrat ihres Sohnes.

Die dritte und letzte Erzählperspektive ist diejenige Richard Chamberlains, bei dem es sich um einen englischen Journalisten handelt, der lieber ein angesehener Literat wäre. Der schüchterne, etwas linkische und von Erektionsproblemen geplagte Mann interessiert sich zunächst vor allem für Artefakte der Igbo-Kunst, fühlt sich im Laufe der Handlung aber mehr und mehr dem Volksstamm zugehörig, ohne allerdings einer von ihnen werden zu können.

Das ProtagonistInnentrio wird durch ein umfangreiches Figurenkabinett ergänzt, von dessen Charakteren einige ebenso vielschichtig und tiefgründig gezeichnet sind wie Ugwu, Olanna und Richard. Neben Olannas weitläufiger Familie und diversen von Ugwe begehrten Frauen wäre da zum Beispiel Odenigbo, von dem bereits die Rede war. Der an der University of Nigeria in Nsukka lehrende Mathematiker hat einen Freundeskreis von Intellektuellen meist linker Couleur um sich geschart, die jeweils verschiedene Aspekte der vielfältigen Intellektuellenschicht in Nsukka personifizieren. Da wäre etwa Doktor Panel mit seinem „unordentlichen Haar, seiner zerknitterten Kleidung und seinen dramatischen Gedichten“ oder Professor Ezekas, dessen „unverhohlene Hochnäsigkeit“ und „Überzeugung, alles besser zu wissen als die anderen“, ihn zumeist „lieber schweigen“ lässt. Die vielleicht interessanteste Figur des Romans aber ist Olannas zweieiige Zwillingsschwester Kainene „mit ihren schlauen Kommentaren, ihrer scharfen Zunge und ihrem unerschütterlichen Selbstbewusstsein“. Dabei umgibt die Frau, von der man so viel mehr wissen möchte, stets eine gewisse „mystische Melancholie“.

Das aber gehört zu einem großen Roman, dass er den Lesenden nicht alles über seine Figuren verrät, sondern ihnen ein Geheimnis bewahrt. Und Adichies Die Hälfte der Sonne ist ein solches Meisterwerk, eines, das zudem in der Tradition des großen afrikanischen Autors namens Chinua Achebe steht.

Anders als dessen Romane sind ihre literarischen Werke jedoch nicht weniger feministisch als ihr Manifest. Was aber FeministInnen sind, definiert sie folgendermaßen: „Eine Feministin oder ein Feminist ist ein Mensch, der sagt, ja, heutzutage gibt es Probleme mit Geschlechterrollen, und das müssen wir korrigieren, und wir müssen es besser machen. Wir alle, Frauen und Männer, müssen es besser machen.“ Das ist natürlich eine Aufforderung auch an die Lesenden.

Titelbild

Chimamanda Ngozi Adichie: Die Hälfte der Sonne. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Judith Schwaab.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
640 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783596035489

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Chimamanda Ngozi Adichie: Heimsuchungen. Zwölf Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
301 Seiten, 10,99 EUR.
ISBN-13: 9783596185979

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Chimamanda Ngozi Adichie: Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories.
Übersetzt aus dem nigerianischen Englischen von Anette Grube.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
112 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783596036769

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Chimamanda Ngozi Adichie: Liebe Ijeawele. Wie unsere Töchter selbstbestimmte Frauen werden.
Übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
80 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783596299683

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