Spielarten ernster Liebe meisterhaft erzählt

S. Corinna Billes Erzähltexte erscheinen in neuer Übersetzung

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Schweiz, aus deren französischsprachigen Landesteil sie stammte, schaffte es S. Corinna Bille 1996 auf eine Briefmarke. In Deutschland ist die 1979 verstorbene Schriftstellerin aus dem Wallis, die auch in der Schweiz und in Frankreich erst gegen Ende ihres langen Schriftstellerinnenlebens zu einem gewissen Ruhm kam, immer noch weithin unbekannt. Abhilfe dafür bietet der Zürcher Rotpunktverlag. Der kümmert sich seit gut fünf Jahren mit ansprechenden gebundenen Büchern um das Œuvre der 1912 geborenen Bille, die schon früh, als 15-Jährige beschloss, Autorin zu werden. Ihr Vater war ein reich erbender Maler, umgeben von Bohèmefreunden. Ihre Mutter stammte aus einer Walliser Bergbauernfamilie. Zwischen diesen beiden Polen spielte sich das Leben Billes ab, die ihren Geburtsnamen Stéphanie durch Corinna ersetzte, in dem Corin, der Geburtsort ihrer Mutter, anklingt. Seit 1947 war Bille mit dem bekannten Walliser Dichter und Umweltaktivisten Maurice Chappaz verheiratet, mit dem sie drei Kinder hatte. Chappaz überlebte Bille um drei Jahrzehnte, gab postum ihre Gedichte heraus und widmete ihr 1986 Le livre de C. Pour Corinna Bille, das 1994 auch in deutscher Übersetzung erschien.

Der jüngst publizierte Band, die erstmals ins Deutsche übersetzte Erzählsammlung Für immer Juliette, enthält acht Liebesgeschichten und zählt zum Spätwerk Billes. Er bietet eine gute Gelegenheit für deutschsprachige Leser, die Autorin wiederzuentdecken, die zwar weit in der Welt umhergereist war (nach Afrika und Russland, nach Nepal, England, Irland, Deutschland, Italien und in den Libanon), deren Erzählungen in diesem Band gleichwohl bis auf eine italienische Strandgeschichte immer in ihrer alpinen Heimat angesiedelt sind. Trotz dieser vermeintlich provinziellen Enge der Bergwelt entfalten diese in den bewegten Jahren um 1970 entstandenen Erzählungen ein erstaunlich vielfältiges Panorama zu Spielarten des Liebens wie auch des Leidens an dieser doch nicht immer lustigen Leidenschaft.

Mit feiner Beobachtungs- oder Vorstellungsgabe baut die Autorin in der Titelerzählung (wie auch in der weiteren Geschichte Der Gast Gottes) psychologisch versiert Geschichten über erste und letzte Lieben sowie über das Älterwerden, das damals zumindest vor allem für Frauen oft schmerzlich ausfiel. In Für immer Juliette erzählt die Stimme einer irritierten, sentimentalen und leicht eifersüchtigen Mutter. Sie beobachtet am Strand die erste Liebe ihrer Tochter Juliette zum jungen Italiener Romano, vergleicht deren Turteln mit ihrem eigenen Liebes(un)glück. Schließlich beendet sie das jugendliche Strandglück durch abrupte Abreise. Heftiger noch dominiert eine rätselhafte, obsessive Altersliebe in der Szenerie der dezent von Flüchtlingen, Holocaust und Weltkrieg geprägten Erzählung Der Gast Gottes eine so seltsame wie elegante alte Dame. Ihre vielleicht mehr fantasierte als reale Liebesgeschichte hat sie in die ärmliche, ruppige Bergwelt verschlagen, wo sie noch immer auf ihre große Liebe, Herrn Karl (und auf ihren ersten Sex) wartet. Unter welchen Umständen der Liebhaber und die ersehnte Liebe sich dann doch noch überraschend einstellen, sei hier nicht verraten. Jedenfalls entfaltet diese Erzählung ein nahezu surreal anmutendes, unerhörtes Szenario der Liebe, wie es kaum je literarisch beschrieben wurde.

Ähnliches kann man auch für die mit 100 Seiten längste der hier versammelten Geschichten konstatieren, die mit In die wilde Rose beißen poetisch schillernd überschrieben ist. Er handelt von der immer heftiger aufflammenden Leidenschaft einer 35-jährigen Lehrerin, die sich während ihres Sommerjobs bei einer alpinen Kinderferien-Pension in einen 13-jährigen Franzosen verliebt. Unglücklich mit ihrem lieblosen Dauerverlobten, einem armen Architekten, der sich die Ehe immer noch nicht leisten kann, verfällt die Betreuerin dem Charme dieses Jungen, der sich gerade auf der Schwelle zwischen Kind und Mann befindet. Den nur gelegentlich dezent angedeuteten historischen Hintergrund bilden auch hier der Zweite Weltkrieg und das vom NS-Deutschland besetzte Frankreich, aus dem der Junge in die neutrale Schweiz gekommen ist. Mit erzählerisch geschickt eingesetzten Mitteln, durch zahlreiche Dialoge und Gedankenprotokollsätze werden die anfängliche Abneigung Helenes sowie ihr Umschlag in eine Obsession für Laurent minutiös entfaltet. Wie dieses Begehren, das durchaus der Selbstkritik und Verachtung der Protagonistin unterliegt, schließlich endet, soll hier nicht vorschnell preisgegeben werden. Eine eigenartige historisch-tektonische Diskursspannung ergreift und irritiert wohl jeden heutigen Leser, wenn er diese um 1970 geschriebene Geschichte einer mit einigem Einfühlungsvermögen dargebotenen Episode weiblicher Pädophilie, die in den 1940er-Jahren spielt, im frühen 21. Jahrhundert liest, das aus der berechtigten Sorge um das Kindeswohl alle sexuellen Beziehungen Erwachsener im Hinblick auf Kinder unter Tabu und Strafe stellt. So eine Geschichte würde heute vermutlich kaum mehr geschrieben und publiziert. Und die Literatur wäre um ein bemerkenswertes Stück Prosa ärmer.

Cäcilias Tagebuch ist eine Erzählung, die in der ersten Person in gebrochener Perspektive vom psychischen Taumel einer schwer angeschlagenen jungen Frau Zeugnis ablegt. Die offenbar vom Geliebten (oder von den Geliebten) Verlassene sitzt in einer Art Sanatorium in den Schweizer Bergen und notiert seltsame Ereignisse: Besuch von Freunden ebenso wie Praktiken mit tropfenden Eiszapfen, bei deren surrealen Aspekten der Leser nie weiß, welche Art von Phantasma, Projektion oder Realitätswahrnehmung hier aus der Feder der Traumatisierten fließt. Ein Text, der die Verfahren unzuverlässigen, erratischen Erzählens für die Darstellung von Selbstzweifeln, Beziehungswunden und Liebeswahnsinn einsetzt.

Eine exaltierte, Klassenschranken überschreitende Liebesgeschichte steht unter dem Titel Die Geschichte eines Geheimnisses. Während Cäcilias Tagebuch die entscheidenden Ereignisse und auch die Hintergrundinformationen zu den Beziehungsverläufen seiner unzuverlässigen Erzählerin bis auf die letzte Seite (und in mancher Rätselhaftigkeit auch darüber hinaus) kunstvoll in der Schwebe hält, beginnt Die Geschichte eines Geheimnisses gleich mit der Beerdigung der Protagonistin. Die sexuelle Transgression der eigentlich standesgemäß (freilich mit einem doppelt so alten Baron) Verlobten mit einem dreisten Arbeiterjungen führt hier also zum gleich vorweg berichteten Tod. Doch bleibt es äußerst spannend und beunruhigend, wie sich diese Amour fou, die vielleicht doch nur eine Laune und jugendliche Ausschweifung der Abiturientin ist, entwickelt – und welche Folgen sie zeitigt.

Alte, geschnitzte Masken sind die Objekte des Begehrens der gleichnamigen Geschichte, die einen frisch Verheirateten auf einer Wandertour von Dorf zu Dorf treiben. Seine erschöpfte, schwangere Frau vermag er wegen seiner fetischistischen Jagd nach den seltener werdenden Handwerkskunststücken kaum mehr wahrzunehmen. Dem Mann, der auf den Namen Clément getauft wurde, geht genau diese Tugend der clementia (Milde, Sanftmut oder Schonung) vollkommen ab. Mittels Dialogen und knappen Szenen gelingt es Bille, ein eindringliches Bild der kargen, verletzlichen Liebe der beiden prekär beschäftigten, armen Leute zu entwerfen.

Die längsten Tage spielt erneut an einem heterotopischen Ort, nicht im trauten Heim, sondern im Spital. Hier reflektiert die nun zur Bürokraft und Pflegerin ihrer Mutter mutierte Ex-Schauspielerin Guyane über ihr Leben und ihre Lieben – und verschießt sich ein wenig in einen der Ärzte. Wie einige medizinische Untersuchungshandgriffe, die nur wegen eines operablen Kropfs sich unter (vermeintlich) weiter schlimmeren Krankenschicksalen befindende Patientin berühren und verstören, das indiziert wieder eine jener wenig alltäglichen Spielarten der Liebe oder des Begehrens, die in der Autorin Bille eine kundige Kennerin fanden. Die Schweizer Schriftstellerin erfindet auch für außergewöhnliche Gefühlslagen eine eindringliche Sprache, die im Kontext ihrer kurzen Erzählungen meist eher lakonisch als pathetisch operiert.

Den Ausbruchsversuch einer immer wieder Hintergangenen aus einer scheinbar offenen Ehe mit Kindern, in der sich die Frau doch als die Überarbeitete, schlecht Weggekommene fühlt, verarbeitet der den Band abschließende Text Flucht im Dezember. Zwar werden hier im letzten Monat des Jahres Bilanzen gezogen; die Geschäfte mit alten Möbeln laufen dabei besser als die Paarbeziehung, die sich zu einer Kameradschaft jenseits der Verliebtheit zu entwickeln scheint. Doch bleiben die Abschlussbilanz und das weitere Schicksal dieser Beziehung am Ende kunstvoll in der Schwebe. Ebenso wie die Liebe hier von der Protagonistin als Projektionsübung begriffen wird, so scheint die Erzählung auch den Monat Dezember und das Weihnachtsfest als Familienbrennpunkt für ein Spiegelkabinett an wechselseitigen Wünschen, Projektionen und Verfehlungen zu erachten.

Die von Lis Künzli besorgte, gelungene Übersetzung liest sich flüssig. Leider haben die in schön geriffelten blauen Karton gebundenen Bücher kein Nachwort, so dass wir uns die Erzählungen dieser noch ziemlich unbekannten Autorin ohne mitgelieferte Zusatzinformationen ganz alleine erschließen müssen. Sachdienlich wären auch Hinweise zu den Erstveröffentlichungen der Einzeltexte in Zeitschriften. Als Erzählband erschien Juliette éternelle erstmals in Lausanne 1971. Fast 50 Jahre später haben diese nun endlich auch auf Deutsch zugänglichen Texte durchaus noch Einiges vom Reiz ihrer experimentellen Liebeserkundungen bewahrt.

Titelbild

S. Corinna Bille: Für immer Juliette. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Französischen von Lis Künzli.
Rotpunktverlag, Zürich 2017.
292 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783858697417

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