Letzte Fragen am Strand

Christopher Nolans Film „Dunkirk“ als Einführung in die Ethik des Entscheidens unter Knappheitsbedingungen

Von Urban WiesingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Urban Wiesing

Man könnte meinen, dieser Film handelt vom Krieg. Falsch, er handelt von den Bedingungen und Herausforderungen des menschlichen Lebens schlechthin, vom Überleben. Christopher Nolans Dunkirk ist kein Kriegsfilm, sondern ein Überlebensfilm. Der Krieg spitzt die Bedingungen unserer Existenz nur zu. Und ein Film über den Krieg vermittelt stets Botschaften, die weit über den Krieg hinausreichen – auch in die heutige Zeit. Worum geht es? Britische und französische Soldaten sind „vom Feind“ umzingelt und am Strand von Dunkirk gelandet. Sie sind aussichtslos unterlegen und können nur noch über den Ärmelkanal fliehen – oder sterben oder zumindest in Gefangenschaft gehen. Es geht in ihrer Situation um das Überleben unter Knappheitsbedingungen, denn rettende Boote sind viel zu wenige vorhanden. Nicht nur die sind knapp, sondern auch die Zeit, um zu entscheiden. Es geht um Entscheidungen unter Handlungsdruck, denn abzuwarten bedeutet die eigene Vernichtung, bestenfalls Gefangenschaft. Dabei benennt Christopher Nolan die Wehrmacht im Film bezeichnenderweise gar nicht als die Bedrohung. Der Vorspann spricht nur von einem „Feind“. Allenfalls die Flugzeugtypen und die Umrisse der Helme schattenhaft auftauchender Soldaten, die einen Piloten der Royal Air Force in der letzten Szene verhaften, lassen auf die Wehrmacht schießen.

Das Leben des Menschen ist geprägt von der ständigen latenten Bedrohung, dass das Rettende nicht hinreichend vorhanden ist. Man darf nicht vergessen, dass es dem Menschen erst durch die Industrialisierung gelungen ist, die Häufigkeit von Knappheitssituationen (Hunger, Durst, sichere Behausung) deutlich zu reduzieren – und zwar vornehmlich für die reichen Länder. Wie reagiert der Mensch auf die Bedrohung, die genau genommen die Bedingung seiner Existenz ist? Davon handelt der Film. Er stellt vor allem Fragen und zeigt, wie unter der Bedrohung, die das Alltägliche weit überschreitet, der nackte Mensch zum Vorschein kommt. Es geht, noch einmal, um das simple Überleben.

Der Film eignet sich hervorragend als ein Grundkurs in Ethik, freilich dargebracht in schonungsloser Eindringlichkeit, untermauert durch grandiose Musik, einen eben solchen Schnitt und wenige Worte. Das ist zunächst einmal die Frage der Gerechtigkeit. Wer bekommt in einer Mangelsituation den Vortritt zum knappen Gut, zum Boot? Wenn man allen Menschen das gleiche Recht auf eine rettende Überfahrt ins Heimatland zubilligt, dann möge sich ein jeder anstellen – first come, first serve. Will man den Schwächsten den Vortritt geben, dann transportiere man die Kranken zuerst. Will man die Stärkeren bevorzugen, weil man sie für den weiteren Krieg braucht, dann lasse man die Verwundeten am Strand. „Ein Verwundeter nimmt den Platz von sieben gesunden Soldaten weg!“, heißt es in der betreffenden Filmszene, in der man den Verletzten den Vortritt lässt. Sollte man die Helfer der Verwundeten bevorzugen, weil sie diese auf das Schiff getragen haben? Und wenn ein Schiff an Überladung zu sinken droht, steht man unweigerlich vor der Frage, wer zuerst von Bord gehen muss, unfreiwillig und mit der hohen Wahrscheinlichkeit des Todes. Der Film verweist damit auf eine noch tiefer gehende Frage: Darf man Menschenleben gegeneinander aufrechnen? Ist ein utilitaristischer Nutzenkalkül zur Stärkung der Armee und für den Sieg des Vaterlandes überhaupt zulässig? Und wer maßt sich an, das in dieser dramatischen Situation und in höchster Erregung zu entscheiden? Ist so etwas überhaupt mit Gründen entscheidbar? Vor dieser Situation stehen die verzweifelten Soldaten am Strand von Dünkirchen.

Selbst wenn Regeln gelten (zum Beispiel, dass die britische Armee den Verwundeten Vorrang einräumt), dann bliebe die Reichweite solcher Maßgaben in Extremsituationen zu klären. Gibt es einen Bereich, in dem allgemeine Regelungen außer Kraft gesetzt werden dürfen oder müssen? Not macht erfinderisch, und sofort suchen einige Soldaten nach Möglichkeiten, schneller als vorgesehen an einer Überfahrt teilnehmen zu können. Mit dem Trick, einen Verwundeten an der Warteschlange vorbei auf das Schiff zu bringen und selbst dort zu bleiben, versuchen sie sich unter dem Mantel des Helfens vorrangigen Zugang auf eines der rettenden Boote zu verschaffen. Hat der Geschickte ein Anrecht, weil er geschickt täuscht? Legt der Film dem Zuschauer hier die Entscheidung nahe, das betrügerische Handeln dieser Soldaten für rechtens zu halten? Oder soll alles explizit nach Regeln erfolgen, wie es in der Szene denn auch geschieht, da die Helfer zu ihrer Enttäuschung wieder von Bord müssen? Noch eine solche Szene: Angesichts der unmittelbar drohenden eigenen Vernichtung streift sich ein französischer Soldat die Uniform eines gefallenen britischen Kameraden über, um so auf die rettende Insel jenseits des Kanals zu kommen. Kann man es ihm als Zuschauer verübeln? Mit wem soll man als Zuschauer Mitleid bekommen und mit wem nicht?

Der Film wirft mit der vorgetäuschten Nationalität dieses Soldaten die Frage nach der Reichweite der Solidarität auf. Wie weit reicht unsere Verpflichtung anderen Menschen gegenüber? Die britische Armee transportiert zunächst ausschließlich ihre eigenen Leute ab, während die Franzosen in einer hoch emotionalen Szene an der Brücke schroff abgewiesen werden, unter Verweis darauf, dass sie eben Franzosen sind. Aber was für ein Grund ließe sich anführen, Engländer zu bevorzugen und Franzosen am Strand ihrer Vernichtung oder Gefangennahme zu überlassen? Kann Zugehörigkeit zu einer bestimmten Armee oder Nationalität ein hinreichender Grund sein, Menschen lebenserhaltende Rettungsmaßnahmen vorzuenthalten? Es bedarf nicht allzu viel Fantasie, um in der Szene eine Anspielung auf das zu sehen, was sich derzeit im Mittelmeer abspielt. Zu welcher Form der Ungleichbehandlung berechtigt eine Staatsbürgerschaft angesichts des drohenden Todes?

Der Film verwebt die Situation der Akteure am Strand, auf den Booten und in der Luft auf geschickte Weise. Die Lage aller Beteiligten ist vor allem dadurch geprägt, dass sie den Erfolg ihrer eigenen Handlungen nicht garantieren können. Sie können noch nicht einmal seriös abschätzten, ob ihre Taten dem Wohle der Gemeinschaft dienen oder nur den eigenen Tod beschleunigen. Der Film präsentiert mithin das klassische Handeln unter Unsicherheit. Ein Boot, vollgeladen mit Verwundeten, die bevorzugt gerettet werden sollten, wird von feindlichen Fliegern versenkt. Mit anderen Worten: Das Privileg der Rettung führte die Verwundeten in ihren Tod. Auf Handlungen unter Entscheidungsdruck und mit höchst ungewissem Ausgang lässt sich letztlich nur mit einer Haltung antworten. Aber welche Haltung? Mutig, halsbrecherisch oder vorsichtig sein? Ein britischer Gentleman wagt mit seinem kleinen Wochenendschiff eine Rettungsaktion unter lauter Zerstörern und U-Booten. Ist das mutig oder unvernünftig übermütig?

Solche Fragen sind es, die der Film stellt. Ihre Antworten weisen über den Krieg hinaus und führen das Publikum an die Grenzen dessen, was noch entschieden werden kann. Der Film schafft das auf grandiose Weise, anhand eines unmissverständlichen, eindringlich-düsteren, gleichwohl klaren Dramas der menschlichen Existenz. Nun wäre es zu viel von einem Film verlangt, klare Antworten auf diese Fragen zu liefern. Filme sind – zum Glück – keine Ethiklehrbücher!

Doch bei den Antworten auf die Herausforderungen haben sich in Dunkirk leider auch Elemente des seichten Geschmacks eingeschlichen, die so gar nicht zum Rest des Filmes passen wollen. Er präsentiert keine Antwort auf die schwierige Frage nach lebensrelevanten Entscheidungen unter Knappheitsbedingungen, sondern lässt die Knappheit unerwartet verschwinden. Und zwar durch eine Armada von Wochenendbooten, die plötzlich am Horizont vor dem todbringenden Strand auftaucht. Und so muss man dieses gepflegte Transportmittel des Wohlstands, der Freizeit, des gehobenen Genusses und des maritimen Sportsgeistes nur zur rechten Zeit zweckentfremden, und schon breiten sich Hoffnung und Jubel unter den Soldaten, ja Rührung unter ranghöheren Offizieren aus, schon sind sie gerettet. Der Hobbyskipper löst die Bedrohung des Menschen, jedenfalls in diesem einen Fall und zumindest für diesen Tag.

Als weitere Reaktion auf die dramatische Bedrohung der Soldaten durch „den Feind“ darf man erwartungsgemäß auf außergewöhnliche individuelle Leistungen vertrauen. Doch im Falle eines britischen Jagdfliegers, der sich durch ebenso kämpferisches wie selbstloses Verhalten auszeichnet, darf man dessen Darstellung auch nur als Konzession an den schlechten Geschmack und den unvermeidlichen Sieg des Guten betrachten. So geht dem mutigen Piloten einer Spitfire gegen Ende des Films der Sprit aus. Der nun folgende Sinkflug des Kriegsgeräts ohne laufenden Motor ist so episch lang, dass der Pilot dabei sogar noch einen feindlichen Jagdflieger abschießen kann. Merke: Tugendhafte Jagdflieger brauchen im entscheidenden Moment keinen Sprit! Audaces fortuna juvat – mit den Tapferen ist das Glück! Schön wär‘s.

Eine gleichermaßen unvermeidliche Antwort auf dramatische Herausforderungen ist in diesem Genre der Heroismus. Dunkirk preist ihn in extenso, zuweilen ins Peinliche verklärt. So gegen Ende des Filmes, wo sich Heldentum noch mit Anstand und Ehre paart. Der ranghöchste Offizier (Kenneth Branagh) verlässt mit lockeren Sprüchen als Letzter den gefährlichen Pier, nein, es kommt sogar noch besser: Er möchte auch noch persönlich auf die Evakuierung der Franzosen warten. (Das bedeutet seinen wahrscheinlichen Tod oder zumindest seine Gefangennahme.) Das Ganze garniert der Commander mit markigem militärischen Gruß und einem Lächeln auf den Lippen. Merke: Auf den ranghöchsten Offizier, seinen Humor und seine tadellosen Manieren kann man sich stets verlassen!

Der Film glänzt durch eine selten eindringliche und überwältigende Konfrontation der Zuschauer mit einer Herausforderung an den Menschen, mit dem simplen Überleben, wo nicht alle Überleben können, mit dem Zwang zum Entscheiden und den Grenzen des Entscheidbaren. Das hätte schon gereicht.

Dunkirk. Großbritannien / Frankreich / Niederlande. Regie: Christopher Nolan. Kamera: Hoyte van Hoytema. Musik: Hans Zimmer. Warner Bros. Pictures 2017, 107 Minuten.

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