Menschliches, Tierisches

Eva Menasse erzählt in „Tiere für Fortgeschrittene“ Geschichten von Menschen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erzählungssammlungen sollen einerseits die gemeinsame Handschrift der Autorin aufweisen, andererseits abwechslungsreich genug sein, um das Interesse gerade beim romanlastigen deutschen Publikum hoch zu halten. Eva Menasse hat für dieses Problem eine – zugegeben charmante, aber eben doch gefährliche – Lösung gefunden: eine recht lose thematische Klammer. Tiere für Fortgeschrittene hat sie ihren Erzählband überschrieben, der dieses Frühjahr bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Und um ihr Titel-Versprechen zu halten, hat sie jeder Erzählung eine Präerzählung aus dem Tierreich beigegeben, die das vermeintliche Einzelthema vorgibt: Enten, die jeweils abwechselnd mit einem Auge wachen, Schmetterlinge, die die salzigen Tränen von Krokodilen trinken, selbstmörderische Raupen, Igel, die mit dem Kopf in leeren Eisbechern verhungern, Schafe, die man nicht mehr scheren muss, ein totes Opossum, dass ein Autofahrer wiederzubeleben versucht, ein Brand in einem Aquarium, an dem einige Haie zugrunde gehen, oder der übermäßige Aufwand, den Schlangen beim Klettern betreiben: Bloß nicht fallen!

Solche Geschichten, die Menasse Pressemeldungen entnommen hat, aber schreien nach einer Entsprechung in den Erzählungen, denen sie vorgeschaltet sind, wie eine Drohung: Richte Dich nach mir! Sag etwas, was ich meine! Erzähle das Richtige! Wehe also dem Text, der eine solche Vorgabe nicht zu erfüllen vermag, es sei denn, er kann sich auf eine andere Art herausreden.

Was also macht die Autorin mit ihrem selbstgewählten Problem? Sie ignoriert es. Sie verweigert die direkte Entsprechung von Prätext und Haupttext, mit ein, zwei Ausreißern, die allerdings in ihrer Kurzschlüssigkeit befremdlich wirken (Vom Opossum zum überfahrenen Reh? Die Igel, die aus den Joghurtbechern befreit werden müssen?). Hat sie diese Ausnahmen nötig?

Anscheinend, denn auch bei der Anlage und Durchführung der Erzählungen zeigen sich ähnliche Unregelmäßigkeiten. Die Erzählungen schwanken in Stil und Ausstattung derart stark, dass Grund zur Annahme besteht, dass Menasse für diese Textsorte ihr rechtes Maß noch nicht gefunden hat.

Ein Beispiel dafür ist die Erzählung über eine Gruppe von Stipendiaten. Diese machen sich unvermittelt in der gnadenlosen Hitze ihres Hospizes auf die Suche nach einer imaginären Aufgabe, die sie zu erfüllen hätten, was beinahe in einer Katastrophe endet, die dann einvernehmlich vertuscht wird, samt der Rolle des Ich-Erzählers. Eine langwierige Erzählung, die man sich nicht recht erklären kann.

Nur schade, dass das auch bei der Lektüre zu spüren ist: Man mag das Ungewisse der Erzählung mögen, auf die Stimmungslage verweisen, auf die sozialen Prozesse in derartigen wild zusammengewürfelten Gruppen, darauf, dass solchen Situationen die Absurdität eingeschrieben ist – und kommt doch nicht darum herum, die Erzählung erleichtert zur Seite zu legen. Als Fingerübung geht sie durch, aber eben nicht als gelungen.

Mehr noch: Für eine derart ausgewiesene Autorin wie Menasse, die in anderen Erzählungen eine treffsichere Sprache und eine präzise Beobachtungsgabe beweist, zeugt dieser Text davon, dass sie sich ihres Handwerks, ihrer Stärken und ihrer Themen nicht sicher ist. Oder einfach nur nichts weglassen konnte.

Ganz anders sind diejenigen Erzählungen, die in die Abgründe und Verwerfungen von Familien und deren Umfeld abtauchen. In diesen Erzählungen, zu denen die beiden Auftakttexte Schmetterling, Biene, Krokodil und Raupen oder die abschließende Erzählung Enten gehören, gelingt es Menasse nicht nur, genau und vorbehaltlos hinzuschauen und dabei ein gehöriges Maß an konzeptioneller Klugheit aufzubringen. Sie erzählt auch in all diesen Texten gegen die Erwartungen, die sich in ihrem Verlauf nach und nach anstauen.

Tom (in diesem Fall der Name einer Frau) und Georg sind ein Patchworkpaar und fahren in Schmetterling, Biene, Krokodil mit den Kindern in den Urlaub. Der Auftakt, in dem vom Tod eines Freundes von Tom berichtet wird, und der Hinweis auf die Hysterien der Exfrau Georgs, die sich stets lautstark darüber beklagt, dass die Sachen ihres Sohnes aus den Urlauben mit der neuen Frau stets zerstört wiederkehren, lassen ein böses Ende erwarten.

Konrads Streit mit seinen Töchtern Helena und Katharina macht den Auftakt in Raupen, aber der Abend scheint sich zum Guten zu wenden, als der Enkel Joshe auftaucht, unter dessen Einfluss Konrads demente Frau Grete aufblüht. In der darauffolgenden Nacht jedoch eskaliert die Situation. Grete schreit nach der toten Tochter Fiona, sie – sorry – scheißt sich ein, und am nächsten Tag ist auch noch das Geld für den Umbau weg.

Ben und Jenna fahren mit ihrem Jüngsten in den Urlaub, ein altes Paar, das anscheinend optimal zusammenpasst, und sich doch überlebt hat. Zu groß sind die Vorhaltungen und Missverständnisse, zu sehr hat der Kampf darum, wer recht und wer die Deutungshoheit in dieser Ehe hat, beinahe alles andere verdrängt. Der Rest ist Routine. Kein Wunder, dass Jenna eine Liaison hat. Und keine Frage, worauf die Erzählung hinsteuert. Und doch kommt alles anders. Die Ehen gehen nicht in die Brüche, die Männer und Frauen verlassen einander nicht, sie enden nicht in einer nie endenden, deprimierenden Resignation vor den Verhältnissen. Vielleicht müssen die Protagonisten sich davon verabschieden, ihre Lebenserzählung tatsächlich vollständig bestimmen zu können. Und die Erzählungen dienen dazu, diese Erkenntnis zu gewinnen. Aber viel mehr muss nicht geschehen. Die Texte enden einfach, mit kleinen Erkenntnissen immerhin.

Andere Erzählungen reichen an diese Beispiele heran, Igel zum Beispiel (trotz des Endes), in der die kurze Faszination einer jungen Frau zu einem älteren Mann erzählt wird. Oder Schlangen, ein Text, in dem ein Mann über den Verlust seiner Frau hinwegkommen muss. Auch Haie: Hier wird die Hetze auf den Sohn eines vorgeblichen Mafioso in einer Grundschule erzählt, zu der niemand beiträgt und für die niemand verantwortlich ist, bis der Junge eines Tages weg ist. All das sind erzählerische Kunststücke, die die Lektüre lohnen, und sei es, weil sie unsere Erwartungen nicht erfüllen.

Das aber macht das Besondere dieser Erzählungen – zumindest ihrer Mehrzahl – aus, dass sie weder fatal den darin ausgetragenen Konflikten folgen noch sich hingeben in das, was sich ihre Protagonisten gegenseitig antun. Die Figuren zeigen lediglich, dass sie nicht Herrscher und Herrscherinnen ihrer eigenen Lage sind, sondern sich so gut wie möglich darin bewegen. Immerhin, sie bewegen sich, sie gehen nicht unter. Lässt man die wenigen Missgriffe in diesem Band und den bedeutungslastigen Titel samt Vortexten beiseite, ist er voll von ungewöhnlichen und beinahe vollendeten Geschichten, die ihre eigene Logik aus ihren logischen Brüchen entwickeln. Besseres kann man über Literatur kaum sagen.

Titelbild

Eva Menasse: Tiere für Fortgeschrittene.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
320 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462047912

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