Die dunkle Seite von Buenos Aires

Mit ihrem Erzählband „Was wir im Feuer verloren“ erweitert Mariana Enríquez die literarische Landschaft Argentiniens

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Argentinien war bis Mitte des 20. Jahrhundert stolz darauf, zu den reichsten Ländern des Kontinents zu zählen. Die Bewohner von Buenos Aires verwiesen voller Genugtuung auf ihr hohes Bildungsniveau und empfanden sich eher als Europäer denn als Lateinamerikaner. Ihre Überheblichkeit gegenüber den ,unterentwickelten‘ Nachbarn war sprichwörtlich bekannt.

Das alles änderte sich, zum Teil sehr brüsk, in der zweiten Jahrhunderthälfte: Die Rückkehr von Juan Perón aus dem Exil 1973 bedeutete eine katastrophale neue Präsidentschaft, Folge war die Militärdiktatur von 1976-1983 mit zigtausenden von „Verschwundenen“, Folter-, Terror- und schließlich Kriegsopfern der Malvinas (Falklandkrieg). Dann kam die neoliberale Präsidentschaft von Carlos Menem der neunziger Jahre, die ihrerseits zum totalen Zusammenbruch der Wirtschaft 2001 führte – für Argentinien schien es vor allem einen Weg zu geben: den nach unten.

Inzwischen hat sich das Bild wieder gewandelt, die letzten 15 Jahre brachten Aufschwung und Hoffnung für viele, desgleichen aber auch wachsendes Elend für Millionen Menschen. Die Wunden der Militärdiktatur sind nur oberflächlich verheilt, und Argentinien versucht sich neu zu (er)finden, in der Politik, als Gesellschaft und auch in der Literatur.

Die vorliegenden zwölf Erzählungen des Bandes Was wir im Feuer verloren von Mariana Enríquez (geb. 1973 in Buenos Aires) sind dafür ein herausragendes Beispiel. Gleich die erste Geschichte „Der schmutzige Junge“, die man ebenso als Mikroroman lesen kann, führt uns in die trostlose Aktualität: Viele Menschen leben auf der Straße, so auch der schmutzige Junge und seine drogenabhängige Mutter. Er ist hungrig und allein, und die Erzählerin nimmt ihn einmal mit nach Hause und gibt ihm zu essen, erfährt mehr von seinem Leben, in dem die Gewalt alles beherrscht. Der unterkühlte, klare Stil, in dem sie dieses Schicksal berichtet, jagt dem Leser Schauder über den Rücken: Der alltägliche Horror ist kaum zu ertragen.

Mariana Enríquez erzählt von Jugendlichen, die unvermittelt in die Drogenabhängigkeit gleiten, weil ihnen unter Menem zwischen 1989-1994 nichts anderes geboten wird („Die Jahre im Rausch“), sie berichtet von Kindheitserinnerungen an verwunschene Häuser – ein Privathaus oder ein Gasthaus, vielleicht eine Erinnerung an die Diktatur, in der Menschen ,verschwanden‘? Sie berichtet von den Selbstverletzungen einer Jugendlichen („Vor den Ferien“), von der Staatsanwältin auf der Suche nach zwei verlorenen Kindern („Tief unten im schwarzen Wasser“) oder den öffentlichen Selbstverbrennungen der Frauen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen („Was wir im Feuer verloren“).

Jeder Text ist in seiner Vermischung von Alltagssituationen mit phantastischen, irrealen oder makabren Konnotationen  beeindruckend. Alle Erzählungen werden in der Ich-Form und fast immer von Frauen erzählt, was eine große Nähe zum Geschehen erzeugt. Die Autorin führt die sozialen Themen in einer kompakten, dichten Prosa vor und überlässt es dem Leser, seine eigenen Überlegungen zu der aktuellen Ungleichheit, der unübersehbaren Ungerechtigkeit und der Hoffnungslosigkeit vieler Bewohner von Buenos Aires anzustellen. 

Mariana Enríquez zählt mit Samanta Schweblin, Selva Almada, Maria Sonia Cristoff oder Inés Garland zu der Gruppe argentinischer Autorinnen, die in den letzten Jahren bemerkenswerte Bücher vorgelegt haben. Als Argentinien 2010 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, erschienen viele Romane junger Autoren, die sich intensiv mit der unmittelbaren Vergangenheit ihres Landes beschäftigt hatten – Martin Kóhan, Pablo Ramos, Alan Pauls, Felix Bruzzone. Jetzt, nur wenige Jahre später, kommen neue Themen zur Sprache: Sie sind persönlicher, auf indirekte Weise politisch. Das bedeutet  eine spannende Erweiterung der literarischen Szene von Buenos Aires, und der vorliegende Band – von Kirsten Brandt souverän übersetzt – ist eine verführerische Einladung, sie zu erkunden. Diese starken, schönen Geschichten wird man nicht leicht vergessen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Mariana Enríquez: Was wir im Feuer verloren. Erzählungen.
Aus dem Argentinischen übersetzt von Kirsten Brandt.
Ullstein Verlag, Berlin 2017.
240 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783550081606

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