Wo Goldfische wandern und Männer zu Bäumen werden

Juliana Kálnay lädt in ihrem Romandebüt „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ zu einem surrealen Rundgang durch das Haus mit der Nummer 29 ein

Von Risto KesslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Risto Kessler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Juliana Kálnays Roman Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens passiert Merkwürdiges im Treppenhaus, auf den Fluren und in den Wohnungen. In der Souterrainwohnung, von deren Existenz die meisten Hausbewohner nicht einmal wissen, lebt Familie Moran in völliger Dunkelheit und erledigt ihr Tagesgeschäft zu einer Zeit, in der die Sonne längst untergegangen ist. Ronda wacht eines Morgens auf und kann sich nicht erklären, wie die Goldfische aus ihrem Aquarium in ihr Bett und ihre Kleidung gekommen sind. Der Obdachlose Tom bewohnt den Aufzug des Hauses und trifft bei Oscar aus dem vierten Stock zufällig auf einen Mitbewohner unbestimmter Herkunft, der einer Amphibie ähnelt. Und Lina ist fest davon überzeugt, dass ihr Ehemann Don nicht einfach fortgegangen ist, sondern nun in Gestalt eines Baums auf ihrem Balkon steht.

Kálnays Roman setzt den Leser vor ein Diorama des Hauses Nr. 29, das ihn in Wohnungen, Räume und manchmal auch in die Bewohner selbst blicken lässt. Die Perspektive ändert sich mit jedem Kapitel, deren Titel sich wie Regieanweisungen lesen („Souterrain: Untermieter“, „4. Stock, links: Geister“, „Treppenhaus, Kellereingang: Samstagsspiele“). Der Text ist szenisch aufgebaut, selten bleibt man als Betrachter lange an einem Handlungsort. Vielmehr wird das Gefühl vermittelt, körperlos durch Räume und Zeiten des Hauses zu geistern und mal hier, mal dort in die Wohnungen zu schauen oder das Treiben auf den Fluren zu beobachten, bevor sich das nächste Bild auftut.

So erfährt man zu Beginn von Maia, einem sonderbaren, stummen Mädchen, das vom Graben fasziniert ist. Es ist nicht unüblich, dass sie sich irgendwo im Garten oder in der näheren Umgebung ein Loch gräbt und dieses für einige Tage nicht mehr verlässt. An einem Abend aber kommt sie nicht mehr nach Hause. Die Bewohner des Hauses starten eine erfolglose Suchaktion. Maia bleibt unauffindbar. Und dennoch sind ab und an die Geräusche kleiner Schritte auf dem Flur zu hören.

Toni wiederum ist eines der älteren Kinder im Haus. Oft zieht er sich in die leerstehende Wohnung im vierten Stock zurück, um sich dort für eine Art Meditation auf den Boden zu legen und Ruhe zu finden. Einmal nimmt er seine Jugendfreundin Bell, die auch im Haus wohnt, mit dorthin; ihr macht die seltsame Atmosphäre der leeren Wohnung Angst. So setzt er seine Besuche im vierten Stock alleine fort, bis auch er eines Tages nicht mehr zum Essen kommt. Nur ein neuer Riss in der Tapete, der Bell auf der Suche nach ihrem Freund in der leeren Wohnung auffällt, erinnert sie an eine Narbe an Tonis Arm.

Und nichts, was im Haus geschieht, entgeht der alten Rita, die schon immer im Haus gewohnt hat und zahllose Bewohner ein- und ausziehen sah. Von ihrem Balkon aus und mithilfe des großen Spiegels, den sie dort zur besseren Einsicht der Straße aufgestellt hat, beobachtet sie das Treiben im und um das Gebäude. Zum Haus selbst hat sie eine beinahe physische Beziehung. „Es gibt Menschen, die sind ihr Haus, und es gibt Menschen, die wohnen nur darin“, denkt sie sich an einer Stelle und vergleicht sich mit einer Schnecke, die fest mit ihrem Gehäuse verbunden ist und ohne nicht überleben kann.

Ohnehin scheint das Haus selbst eine wichtige, wenn nicht sogar die zentrale Figur zu sein. Die Art und Weise, in der Rita über das Gebäude spricht, erweckt den Eindruck, der Bau habe seinen eigenen Willen und verfahre mit seinen Bewohnern auf die Art und Weise, die ihm gerade passt. Es zeigt ihnen Türen, die von jetzt auf gleich nicht mehr dort sind, oder hüllt die Geschehnisse durch Stromausfälle in Dunkelheit und wird dadurch selbst zu einem wichtigen Akteur.

Kálnay merkt im Nachwort ihres Romans an, dass sie sich in einigen Passagen stilistisch von Autoren wie Georges Perec, Julio Cortázar und James Joyce inspirieren ließ. Vor allem im Kapitel „Treppenhaus, Unfall“, in welchem eine der Figuren eine Begegnung auf dem Flur in Form eines schnell erzählten und ungefiltert wirkenden inneren Monologs Revue passieren lässt, ist das Erbe von Joyce spürbar. Die Autorin experimentiert mit einer Mischung verschiedener Stile, gibt jeder der handelnden Figuren einen individuellen Erzählstil und passt die Kapitel auch in der Form ihren Protagonisten an. So läuft der unglücklich verliebte „E“ fluchend durch die Flure und gibt dabei nur undeutliche Satzfetzen von sich,während an anderer Stelle zwei nicht näher benannte Personen einen Dialog führen, der auf formaler Ebene durch eingeschobene Textblöcke beinahe an ein Theaterstück erinnert.

Teile des Romans sind bereits vorab unter den Titeln „Drei Räume“ und „Stromausfall“ erschienen. Beide Veröffentlichungen tauchen im Roman auf und bilden hier einzelne Kapitel. Der Rest des Buches ist aus ähnlich fragmentarischen Teilen zusammengesetzt, die Erzählung folglich weder linear noch chronologisch. Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens ist kein leichtes Buch, sondern eines, das aufgrund seines ungeordneten Aufbaus Aufmerksamkeit einfordert. Gleichzeitig ist es diese Struktur, die die Erzählung abwechslungsreich und interessant macht.

Überhaupt hat die Art, wie Kálnay ihre Handlungsstränge miteinander verknüpft, nur wenig mit einer Chronik im eigentlichen Sinn zu tun. Die Spannung, die schon im Titel durch die Kombination von Sachlichem und schwer Greifbarem, Surrealem anklingt, setzt sich in der Erzählung fort. Zwar wird beschrieben, was mit dem Haus und seinen Bewohnern im Laufe der Zeit passiert; dies geschieht aber auf unkonventionelle Weise. Zahlreiche Vor- und Rückgriffe prägen die Erzählung und erst nach und nach erschließt sich, was es mit den einzelnen Figuren und Beziehungen auf sich hat und wie die Teile miteinander zusammenhängen. Ganz so, als würden sich die Regeln der Geschichtsschreibung nicht ohne Weiteres dort anwenden lassen, wo Menschen zusammenleben und Orten dadurch etwas Individuelles und Zeitloses verleihen.

Es ist dieses Zusammenleben und das gemeinschaftliche Erfahren dessen, was es heißt, ein Haus zu bewohnen, sich mit ihm zu identifizieren und durch das eigene Handeln zur Geschichte des Ortes beizutragen, was den Roman trotz der nur im Kontext zu verstehenden und kuriosen Vorfälle zugänglich macht. Das Leben in einer (Haus-)Gemeinschaft, das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Identifikation sowie die damit untrennbar verknüpften Gegensätze wie Aus- und Abgrenzung, Anonymität und Isolation – diese lebensnahen Themen machen es dem Leser leichter, sich in die Figuren hineinzudenken und die Handlungen nachzuvollziehen.

Spannend wird es dort, wo diesem thematischen Überbau der Gemeinschaft durch die unkonventionellen Geschichten und die ungewöhnlichen Beziehungen der Bewohner untereinander Tiefe verliehen wird. Konkret zeigt sich dies unter anderem am Motiv des Verschwindens, welches den meisten der Handlungsstränge zu Grunde liegt und innerhalb des Romans verschiedenste Formen annimmt. Einige Figuren scheinen ihr persönliches Verschwinden aktiv zu fördern, indem sie sich entweder dem Kontakt mit anderen oder dem Tageslicht entziehen, anderen wird in sonderbaren Begräbnisriten dabei geholfen, sich von der Welt zu lösen. Manchen passiert das Gegenteil, ihr „Verschwinden“ hat eher den Charakter eines kuriosen Unfalls oder, zumindest in den Augen der meisten Bewohner, eine klare und profane Ursache. Und letztendlich wird auch das Haus selbst nicht völlig unversehrt bleiben.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Juliana Kálnay: Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens. Roman.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017.
191 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783803132840

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