Ein Sancho Pansa gegen die Banalität des Bösen

Claude Lanzmann im Gespräch mit dem „Judenältesten“ Benjamin Murmelstein

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Handlanger oder Held, Heuchler oder Märtyrer, Überlebender oder Kollaborateur, Marionette oder Verräter: wer war Benjamin Murmelstein? Lange wurden diese Zuschreibungen, die ein prekäres Spannungsverhältnis beschreiben, zu Ungunsten Murmelsteins aufgelöst. Claude Lanzmann hat in dem 2013 fertiggestellten Interviewfilm Der Letzte der Ungerechten, der nun in Buchform vorliegt, den umstrittenen Zeugen in ein neues Licht gerückt.

Spätestens seit Hannah Arendts im Kontext ihres Eichmann-Buchs geübten Kritik an den „Judenräten“, die als instrumentalisierte Personen zwischen der nationalsozialistischen Besatzung und den Bewohnern der Ghettos verhandeln sollten, wird deren Rolle kontrovers diskutiert. Während etwa der jüdische Gelehrte Gershom Scholem noch die Todesstrafe für Murmelstein als letztem „Judenrat“ in Theresienstadt forderte, beschrieb der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici die von den Nationalsozialisten eingesetzten „Judenräte“ als „Instanzen der Ohnmacht“. Sie handelten unter einem Zwang, wiewohl sie ihre Macht wie Murmelstein unübersehbar genossen. An diesem Schnittpunkt von Macht und Ohnmacht ist der Dialog zweier hochintelligenter und umfassend gebildeter Gesprächspartner situiert.

Benjamin Murmelstein (1905–1989) verkörperte unterschiedliche Funktionen, er war Rabbiner, Hochschulgelehrter, ein wichtiger Funktionar von Adolf Eichmann und ein sogenannter „Judenrat“ im Ghetto Theresienstadt. Zunächst war er stellvertretender, schließlich der letzte „Judenrat“. Gewiss, das von Lanzmann konturierte Bild Murmelsteins bezieht in Zwischentexten immer wieder Position: Murmelstein, der selbst hätte fliehen können, blieb zurück, um seinerseits Hunderttausenden zur Flucht zu verhelfen. Lanzmann zeichnet uns Heutigen das Bild eines Mannes, der Sorge dafür trug, dass Theresienstadt zu einem Musterghetto avancierte. Derweil Murmelstein als Ohnmachtsgestalt den „Mann zwischen Hammer und Amboss“ figuriert, verbindet Lanzmann Raum und Zeit in gekonnter Weise, um auch Namenlosen sowie unbekannteren Orten des Unglücks ein Denkmal zu setzen.

Das Gespräch mit Murmelstein kann als Postskriptum zu Lanzmanns monumentalem Dokumentarfilm Shoah über die Todesmaschinerie der Konzentrationslager verstanden werden. Murmelstein war bereits 1975 sein erster Gesprächspartner, doch das Interview wurde schließlich nicht in die Dokumentation aufgenommen, weil Shoah ohne Zusatzinformationen frei von Kommentaren auskommt. Insoweit kann das Gespräch nun als Epilog, aber auch als Metatext gelesen werden, bei dem verschiedene Schauplätze den chronologischen Gesprächsverlauf durchkreuzen.

Aufbau und Struktur der Kapitel folgen unterschiedlichen Orten und Zeiten. Das in Rom 1975 geführte Interview wird dreimal von der Jetztzeit (2013) unterbrochen, die Lanzmann dramaturgisch mit historischen und weithin übersehenen Schauplätzen der Erschütterung besetzt: Bohušovice, Nisko und Prag-Theresienstadt. Diese Schauplätze verstehen sich als Szenarien jener Geschichte, die die Katastrophe, Entrechtung und perfide Logik der Nationalsozialisten nicht aus dem Blickfeld entlassen. Der Letzte der Ungerechten dekonstruiert im Gespräch jenes weithin bekannte Bild Eichmanns als banal-bösen Bürokraten, das sich seit Arendts Studie Eichmann in Jerusalem im kollektiven Gedächtnis festgesetzt hat. Kaum jemand konnte das so genau wissen wie Murmelstein, der ihn als dessen wichtigster Funktionär als korrupten, erpresserischen „Dämon“ entlarvt.

Thema dieses Dokumentes ist wie das des gesamten Werks Lanzmanns etwas Nichtverhandelbares. Selbst für die Lesenden ist in dem Gespräch der von großer Empathie getragene Grundton für den „Letzten der Ungerechten“ nicht zu überhören, genauso wenig die für das Gesamtnarrativ leitende Motivation: historische Gerechtigkeit für diesen Rabbiner. Diese hält sich in einer Spannung zweier Selbstzuschreibungen Murmelsteins, die er sich im Gespräch gibt: Er, der Märchenerzähler, war auch der „Sancho Pansa“, eben jener „Realist, der rechnet und der, während die anderen, wie Don Quichotte die großen Pläne machen, der berechnende Realist ist.“ Und dennoch wusste Murmelstein: „Ich habe überlebt, weil ich ein Märchen erzählen sollte.“ Die hohe Kunst des von Lanzmann geführten Interviews besteht darin, diese Spannung nicht aufzulösen.

Titelbild

Claude Lanzmann: Der Letzte der Ungerechten.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
126 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783499632105

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch