Nicht ins Schwarze getroffen

Thomas Raab verfehlt mit seiner Anthologie sein Thema grandios

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So, wie es Klassiker gibt, die dazu anregen, parodiert oder für die Gegenwart adaptiert zu werden – meist sind es Erzählwerke oder Dramen –, können manche auch von ihrem Konzept her von Grund auf neu geschrieben werden. Der Österreicher Richard Schuberth hat dergleichen vor ein paar Jahren (und leider ohne Resonanz gefunden zu haben) mit Das neue Wörterbuch des Teufels (2014) auf der Basis von Ambrose Bierces 1911 erschienenem Devil’s Dictionary versucht. Herausgekommen ist eine alphabetisch geordnete Aphorismensammlung, die vor allem zu den Stichwörtern unserer Zeit in bester Bierce’scher Manier zynisch-bissige Erläuterungen liefert. Ein Landsmann Schuberths (und überdies noch Jahrgangsgenosse), der 1968 geborene Grazer Thomas Raab, hat nun Ähnliches mit der Neufassung eines nicht minder berühmten Kompendiums der „dunklen“ literarischen Moderne vorgelegt: André Bretons, 1940 zuerst publizierter Anthologie des Schwarzen Humors.

Dieses Unterfangen ist weit ambitionierter, handelt es sich doch hier um einen Begriff, der zum einen mit Bretons Textsammlung erst als ästhetische Kategorie etabliert wurde und zum anderen in einem besonderen geistesgeschichtlichen Kontext, dem Surrealismus, steht. Es liegt auf der Hand, dass man nicht wie bei einer zu aktualisierenden Anthologie mit Katzengeschichten einfach neue Texte zusammenstellen kann, als sei ohne Weiteres klar, was unter „schwarzem Humor“ heute zu verstehen ist – will man nicht Gefahr laufen, Bretons hohen literarischen Anspruch zu unterbieten.

Weder dessen Anthologie noch die vorliegende von Raab haben etwas mit leicht zu konsumierenden Humor-Anthologien nach Art von Witzsammlungen zu tun. (Die gibt es auch: zum Beispiel die längst vergriffene Sammlung … und treiben mit Entsetzen Scherz. Die Welt des Schwarzen Humors von Reinhard Federmann, 1969.) Genau wie Breton nicht ohne ein Vorwort und ausführliche Einleitungen zu jedem der Autoren auskommt, hat auch Raab dies beibehalten, ja mit seiner „Vorrede zum schwarzen Humor“, die samt einem ausführlichen Literaturverzeichnis 26 Seiten umfasst, einen veritablen Essay mitgeliefert, der auch für sich stehen könnte. Er ist kurioserweise interessanter und gehaltvoller als die Textsammlung selbst: Raab, gelernter Naturwissenschaftler und Philosoph, erspart uns darin in bester österreichischer Essay-Schreibart modischen Theoriejargon ebenso wie ledrige Germanistenprosa.

In der Vorrede findet sich auch die Begründung dafür, dass sich die ursprünglich aristokratisch-elitäre Kunstform des schwarzen Humors als normbezogenes Phänomen mit der Bindung an ein bürgerlich-konservatives Publikum seit dem klassischen Modernismus kultursoziologisch und ästhetisch verschoben hat und neu gefasst werden muss. Die in Bretons damals sofort verbotener Anthologie versammelten Texte haben heute längst an Provokationskraft verloren, weil in der liberalen Massenkultur vieles Anstößige und Tabuisierte mehr und mehr enttabuisiert worden ist – seltsamerweise fällt der naheliegende Begriff Tabu in Raabs theoretischen Überlegungen an keiner Stelle. Er schreibt:

Der schwarze Humor ist von der endemischen in die epidemische Phase übergetreten […] Die einst, mit der bürgerlichen Vorherrschaft mögliche Provokation versickert in den vielen Kleinmilieus. Kurz, die soziale Zielscheibe des schwarzen Humors ist nicht mehr starr genug, um Provokation im großen Stil möglich zu machen. Es fehlt das humorlose Publikum!

Wir kennen diese Dynamik vom Phänomen der Avantgarde und ihren Aporien, der in der Konsum- und Mediengesellschaft gleichsam die Spitze abgebrochen ist, wie auch Raab selbst in seinem Buch Avantgarde-Routine (2008) dargelegt hat: Der ständige Bruch von ästhetischen Konventionen und sittlichen wie Geschmacksnormen in der Popkultur entwertet den Tabubruch in künstlerisch ambitionierten Genres der Hochkultur beziehungsweise macht ihn überflüssig. So sind bekanntlich die Tabuverletzungen des Regietheaters im Gestus des Epater le bourgeois längst erwartbar-harmlos und zu einer neuen Konvention geworden.

Die Folgerung lautet: „Im Zeitalter des schwarzen Pophumors muss sich der schwarze Humor zwangsweise neu ausformen, komplizierter werden, und zwar nicht, um die Gruppendistinktion zu gewährleisten, sondern aus Selbstschutz. Aristokratie bleibt!“ Aus der Abgrenzung des echten schwarzen Humors von dem, was in Satiremagazinen, in Comedy und Kabarett oder im Internet unter dem Titel firmiert, aber nur geschmacklos und wohlfeil sei, gewinnt Raab ein Qualitätskriterium: „Schwarzer Humor mit gedanklicher Substanz bedenkt neben Selbstkritik inneren Widerspruch zwischen gelernten Werten und den, aus eigenen Einsichten abgeleiteten neuen Werten“.

Doch wichtiger ist: Welche Folgerung zieht der Autor/Herausgeber aus den beschriebenen kultursoziologischen Veränderungen? Was macht für ihn schwarzen Humor im Kern aus? Raab kommt nach Überlegungen zu psychischen und sozialen Aspekten des schwarzen Humors zu einer Strukturdefinition: „der Schwarzhumorist zweifelt an Gesetzen, die die Macht nicht nur für unumstößlich halten, sondern auf denen ihr Rückhalt in der, diese Gesetze glaubenden Masse beruht. Schwarzer Humor ist die implizite Behauptung der Kontingenz dieser Gesetze“. „Gesetz“ ist dabei äußerst weitgreifend zu verstehen; gemeint ist alles, was als „starr“ empfunden wird: Wissenschaftliche Dogmen fallen ebenso darunter wie repressive Staatsordnungen mit ihren Meinungsdiktaten. Der Preis dieser definitorischen Ausweitung ist sehr hoch, denn die „klassischen Gegenstände des schwarzen Humors wie Sex, Alter, Krankheit, Tod“ machen nur noch einen kleinen Teil aus.

Genau das zeigt sich auch in der Auswahl der insgesamt 73 Texte, von denen nur ein Zehntel (!) überhaupt als schwarzhumorig erkennbar ist. Sie eröffnen ein weitgespanntes Spektrum von verwandten Spielarten des Humors: von aggressiv, anarchisch, absurd über grotesk bis sarkastisch, subversiv, satirisch – Spielarten und Färbungen, die im Einzelfall auch ineinander übergehen können. Für all diese Formen gilt, was Raab an anderer Stelle als Spezifikum nur des schwarzen Humors anbietet: „Er rebelliert gegen etwas Starres, etwas Fixes, das er wenigstens ansatzweise begreift, aber durch eigenes Vorgehen nicht zu ändern vermag“. Dieses „Starre“ ist, neben den „Humormitteln“, auch didaktische Leitrubrik in den schematisierten, als Lesehilfe gemeinten Kommentaren, die der Anthologist den Texten jeweils voranschickt. Doch ist dieser Bestimmungsversuch derart allgemein, dass er nicht bloß das „Schwarze“ am schwarzen Humor verfehlt, sondern jede Art Literatur, die sich in irgendeinem Sinn als „kritisch“ versteht oder vom Spannungsverhältnis zwischen Ordnungssystemen und Individuum lebt, darunter fallen dürfte. Wären Franz Kafkas Romane zum Beispiel nicht ein Musterfall dieser Bestimmung? So gibt es unter den Texten auch nicht wenige Beispiele, die keinerlei humoristischen Anstrich aufweisen oder, wie die Textauszüge des Psychologen B.F. Skinner oder des Philosophen Max Stirner, nur gegen den Strich gelesen humoristisch wirken. Indem Raab die oben genannten Humor-Spielarten in terminologischer Ausdifferenzierung gar nicht in den Blick nimmt oder im Hyper-Begriff des schwarzen Humors aufgehen lässt, wird dieser völlig konturlos und berührt sich in den entsprechend ausgewählten Texten meistens auch nicht mehr mit einem landläufig-intuitiven Verständnis der Sache – eine definitionsstrategisch recht unglückliche Volte.

Wenn es einen Oberbegriff gibt, der für die Sammlung titelgebend sein könnte, wäre es am ehesten der Begriff des Subversiven, auf den der Autor selbst zurückgreift, wenn er die „schleichende Subversion“ als den „normale[n] modus vivendi des schwarzen Humors“ ausmacht. Subversion käme auch dem aufklärerischen Impetus entgegen, mit dem Raab seine Textsammlung grundiert. Nur damit wäre freilich kein Anschluss an Breton möglich gewesen – so aber, mit neuem Wein in alten Schläuchen, könnte man als Fazit festhalten, ist dem Anthologisten schlicht sein Gegenstand abhandengekommen. Es wäre besser gewesen, die beiden einleuchtenden wesentlichen Bestimmungen, die schon Gerd Henniger im Vorwort seines Breviers des schwarzen Humors (1966) angegeben hat, der bislang wichtigsten Anthologie zum Thema im deutschen Sprachraum, nicht ohne Not preiszugeben: das Sakrosankte und das Tabuisierte.

Was ebensowenig überzeugt, ist die zeitliche Ausweitung des schwarzen Humors, verdünnt zu einer „antigesetzlichen, antisozialen“ Einstellung, die Raab vornimmt – in dezidierter Absetzung von Breton, der seine Anthologie mit Jonathan Swift (1729) beginnen lässt: „Er ist sowohl zeitlich und kulturell eine anthropologische Konstante“. Etwas noch Allgemeineres wie Humor oder Subjektivität unhistorisch als kulturen- und zeitübergreifendes Universales zu begreifen, dürfte schon schwerfallen. Nun aber in vier Fragmenten des frühgriechischen Philosophen Demokrit aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. und in einem Todesgedicht eines japanischen Zen-Meisters aus dem 16. Jahrhundert schwarzen Humor entdecken zu wollen, beruht wohl auf einem kulturhermeneutischen Missverständnis, basieren doch das frühgriechische Denken wie die fernöstliche Geistesform samt ihrem Verhältnis zum Tod auf ganz anderen metaphysischen Prämissen als die europäische. Das gilt ebenso für ähnliche Grundbegriffe wie das „Groteske“, das „Absurde“ oder den „Kitsch“, die alle in der europäischen Ästhetik und Ideengeschichte ihren Ort haben. Es gibt gute Gründe, mit Gerd Henniger den schwarzen Humor erst mit der Neuzeit beginnen zu lassen, wenn mit der Erschütterung religiöser Weltdeutung und der aufklärerischen Erfahrung menschlicher Freiheit sich ein Spannungsfeld auftut, das den Humor in die Krise führt und ins Schwarze umschlagen lässt.

Wenn man das alles einmal als allzu akademisch und „starr“ auf sich beruhen lässt, ist Raabs Anthologie eine wahre Fundgrube für Abseitiges aller Art. Es sind weniger literarische Klassiker von Nikolai Gogol bis Samuel Beckett (für dessen Ergiebigkeit in puncto schwarzem Humor Raab offensichtlich keinen Sinn hat), die gut ein Drittel des Bandes ausfüllen und mit Textauszügen vertreten sind – sie sind meist qua Auskoppelung aus einem größeren Romankontext wenig prägnant –, als vielmehr herrliche Trouvaillen wie etwa eine Streitschrift des italienischen Futuristen Filippo Tommaso Marinetti gegen die Pasta, ein Plädoyer für den Popstar Prince als US-Präsidenten von Kathy Acker, Auslassungen von Frank Zappa über die romantische Liebe oder ein Drogenrezept eines Psychopharmakologenpaares. Und nicht zu vergessen die Beschreibung des „Kleinen Grazer Suizidkastens“ des österreichischen Autors Helmut Eisendle – das ist schwarzer Humor feinster Couleur. Eingestreute realsatirische Kurztexte aus der Presse und bizarre Forschungsmeldungen runden das Bild ab; hier wird schwarzer Humor in der heutigen technisch-wissenschaftlichen Lebenswelt greifbar.

Schade ist, dass der Herausgeber an den späten Gedichten von Ernst Jandl und der Kurzprosa von Thomas Bernhard vorbeigegangen ist; sie sind zwar längst keine literarischen Geheimtipps mehr, hätten sich aber hervorragend in den thematischen Kontext eingefügt. Doch solche Einwände sind müßig, lassen sie sich doch bei Anthologien und Lektürelisten immer vorbringen. Die von Patricia Grzonka als illustratorische Dreingabe ausgewählten zehn Kunstbeiträge zeitgenössischer KünstlerInnen erschließen sich dem Rezensenten leider weder in ihrem Zusammenhang untereinander noch in ihrem Bezug zu den Anthologietexten. Selbstreferentiell wird es, wenn Raab sich zu guter Letzt selbst in einem Biogramm in die Textsammlung einreiht und die Anthologie zu einem „Humormittel“ erklärt. Sollten wir seine „Theorie“ etwa ernster genommen haben als er selbst? Dann wäre dies wohl ein Fall von RAABenschwarzem Wissenschaftshumor.

Titelbild

Thomas Raab (Hg.): Neue Anthologie des Schwarzen Humors.
Mit zehn Kunstbeiträgen, ausgewählt von Patricia Grzonka.
Marix Verlag, Wiesbaden 2017.
396 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783737410427

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