Held namenlos, ein deutscher Visionär

Oliver M. Piechas Biografie des Weltbürgers Alfons Paquet

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt wahrscheinlich keinen deutschen Autor, der vielseitiger gewesen ist als Alfons Paquet. Das erschwert die Aufgabe eines Biografen. Denn wie kann man das Leben eines Menschen erfassen, der so vieles auf einmal war und in seinem Wesen eine Reihe von Widersprüchen vereinte, der als Schriftsteller Gedichte, Erzählungen, Romane und Theaterstücke schrieb, der sich zugleich als Soziologe, Journalist, Publizist betätigte, aber auch ein Reiseschriftsteller war sowie ein Kulturpolitiker ohne Parteibindung, ein Mystiker und gläubiger Christ? Paquet war in kriegerischen Zeiten Pazifist und konnte als Weltreisender und überzeugter Europäer  zugleich ein heimatverbundener Rheinländer und „der gute Eckart Frankfurts“ sein. Vor allem aber war er ein „sehr deutscher Visionär“ – wie sein Biograf Oliver M. Piecha gleich im Vorwort seines Buches Der Weltdeutsche bekennt – und ein intellektueller Zeitzeuge des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der NS-Diktatur. Am besten aber hat sich Paquet selbst in einem kleinen Gedicht charakterisiert, das den schönen Titel Kurze Biographie trägt: „In Wiesbaden bin ich geboren,/ In London pfiff mir der Wind um die Ohren,/ In Sibirien sah ich, was Fremde ist,/ In China wurde ich Christ,/ In Amerika Europäer./ So kam ich der Heimat wieder näher./ Europas Jordan ist der Rhein:/ Man kann ein Weltkind und gläubig sein.“

Einen „Held ohne Namen“ hat der Heidelberger Antiquar Thomas Hatry Paquet genannt und erklärt: „Warum Held? Einer der vier Aufrechten, die im Frühjahr 1933 der Akademie freiwillig den Rücken kehren. Ohne Namen, denn wer weiß schon von den Abenteuern eines der ersten europäischen Eisenbahnreisenden durch Sibirien, von den Berichten aus dem inneren Kreis der Bolschewiken, von den Hoffnungen in Weimar Kulturminister zu werden, von der Unbill in Gestapohaft, von der Resignation im zerstörten Frankfurt 1944.“ Und tatsächlich, man kann es kaum fassen, dass ein Visionär wie Paquet gegenwärtig fast ganz vergessen ist, obwohl er ein vereintes Europa dachte, wie es heute selbstverständlich scheint, zu einer Zeit, als der Rhein, sein Strom, ein Grenzfluss zwischen „Erbfeinden“ war. „Ich möchte am liebsten nichts von der verfluchten Grenze wissen, die mich von jenem Teil meiner größeren, tausendjährigen Heimat trennt, die aus den Falten des Taunus, des Westerwaldes und der Eifel zu den Ardennen, zu dem sonnigen Lothringen hinübergeht, und ich habe deshalb auch niemals Lust gehabt, diese Grenze mit Kanonen oder mit mühsam erbettelten Paßausweisen zu überschreiten“, schrieb er in seiner Skizze zu einem Selbstbildnis, die 1925 in dem Jahrbuch Der eiserne Steg erschien und die Albert Schweizer zu Recht als „ein Juwel der autobiographischen Literatur“ bezeichnete.

Der Dichter Herbert Heckmann bezeichnete Paquet als einen republikanischen Geist, einen „Frankfurter Weltbürger“ im besten Sinn. Er war ein Grenzüberschreiter, im Geistigen wie im realen Leben. „Das bloße Beschreiben und Darstellen der Dinge war mir nie die Hauptaufgabe, aber es war mir trotzdem ein Weg zum Wesentlichen, ein Stück Weltphysiognomik.“ Um die Physiognomie der Welt zu erkennen, reiste der Student Paquet 1903 als einer der ersten Deutschen mit der Eisenbahn durch Sibirien bis an den Rand des Stillen Ozeans, besuchte die Weltausstellung in St. Louis und bereiste die USA, danach die Mongolei und China. In diesen „Wildnissen lernte ich kennen, was Freiheit ist“, schrieb er später. 1913 war Palästina sein Ziel, während des Ersten Weltkriegs arbeitete er als Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Schweden und Finnland. Als er 1918 mit einer deutschen Delegation das revolutionäre Russland bereiste, war er einer der ersten, der über die Zustände im bolschewistischen Sowjetstaat berichtete; 1919 erschienen die Bücher Der Geist der russischen Revolution (Leipzig: Kurt Wolff) und Im kommunistischen Russland (Jena: Eugen Diederichs).

Der überzeugte Rheinländer gründete 1925  den „Bund Rheinischer Dichter“, hatte aber bereits 1919 Frankfurt am Main zu seiner Heimatstadt erkoren: „Ich mußte viele Städte gesehen haben, bis ich endlich in Peking und in Athen glücklich war. Wenn ich aber jetzt von Heimat spreche, meine ich Frankfurt.“ Paquet wurde zur festen Größe im Frankfurter Kulturleben, nicht allein als Redakteur der „Frankfurter Zeitung“, sondern auch als Sekretär des Kuratoriums des Frankfurter Goethepreises, der seit 1927 vergeben wurde. Paquet war maßgeblich daran beteiligt, dass Sigmund Freud 1930 den Preis erhielt.

Die Unabhängigkeit und Freiheit, deren Wert er auf seinen Reisen zu schätzen gelernt hatte, verriet er auch nach 1933 nicht, als sich die politische Situation schlagartig änderte. Erst 1932 in die Preußische Akademie der Künste gewählt, weigerte sich Paquet nach der Machtergreifung, die von Gottfried Benn eingeforderte Loyalitätserklärung gegenüber Adolf Hitlers neuer Regierung zu unterschreiben und versuchte unter den demokratisch gesinnten Mitgliedern der Dichtersektion Widerstand gegen die „Säuberung“ der Akademie zu organisieren. Ohne Erfolg. An seinen Freund Wilhelm Schäfer schrieb er im Juli 1933:

Vom gestrigen Deutschland habe ich nichts gehabt, vom heutigen verlange ich nichts als die Luft, um überhaupt noch atmen zu können, aber ich zweifle ernstlich, ob dies nicht eine zu hohe Erwartung ist, ich bin aber entschlossen, keinen Fußbreit von meiner inneren Unabhängigkeit und vom Recht vom Gebrauch des eigenen Verstandes aufzugeben ebensowenig wie den Erdboden, auf dem ich stehe. Ich könnte längst mit meiner Familie in Schweden, England oder sogar in Amerika sein, ich denke nicht daran, das Schicksal, dem Deutschland entgegengeht, ist das meine, aber zu reparieren gibt es nichts mehr.

Paquet ging den unbequemen Weg. Er blieb in Frankfurt, saß zeitweise in Gestapohaft, beobachtete und beschrieb in privaten Dokumenten den täglichen Terror des Dritten Reichs. Im Oktober 1941 wurde er Zeuge der ersten Deportation Frankfurter Juden von der Großmarkthalle aus. In einem Brief an die Soziologin Hanna Meuter schrieb er:

Ich habe gestern so bedrückendes erlebt, dass ich noch ganz krank bin. Als ich am Sonntagmorgen durch die Stadt kam, […] vernahm ich, dass eine grössere Aktion im Gange sei […]. So in kleinen Gruppen, in Zügen und Trupps wurden den ganzen Tag die Leute zur Grossmarkthalle gebracht. Das seltsame Gebäude, in weitem Kreise abgesperrt, lag grau da im dünnen Regen. An neugierigen Lungernden vorbei ging die trostlose Wanderung der mit ihren Bündeln, Rucksäcken, Koffern Beladen[en], man stellte sie am Rand des Platzes vor einen Schuppen, der an der Seite die grosse weisse Aufschrift trug SCHÜTZT DIE TIERE […]. Am erschreckensten aber war die Stumpfheit und der Hohn der Menschen. Es waren kleine Szenen, wie sie Goya gezeichnet hat. So hat Daumier die Menschen gesehen in ihrer groben wuchtigen Tierheit. Ich versuchte mit meinem Ausweis Zutritt in die Halle zu erlangen, wurde aber zurückgewiesen und ging fort. Der ganze Umkreis trug noch das Gepräge dieses Geschehens, an den Strassenbahnhaltestellen Leute, die stumm warteten, andere triumphierten gegen eine alte Frau, die dann wegging: Für Juden gäbe es keine Straßenbahn. Ist nun das alles der Abschluss einer tausendjährigen Episode in dieser Stadt? […] Es heisst, dass alle diese Unglücklichen nach Lodz, Litzmannstadt geschickt werden, dessen Ghetto längst überfüllt ist. Es wird eine Reise sein, die Wochen dauert, in Güterzügen, man wagt es nicht sich Einzelheiten auszumalen. […] Der vorige Krieg war noch mild dagegen. Aber die steinernen Tafeln der zehn Gebote sind zerschlagen, die Dämonen losgebunden worden.

Zu diesem Zeitpunkt war Paquet aus dem öffentlichen und kulturellen Leben der Stadt schon weitgehend  ausgeschlossen. Er starb im Februar 1944, 63-jährig, an Herzversagen im Luftschutzkeller seiner Wohnung Schaumainkai 17, dort, wo heute die Villa Metzler und das Museum Angewandte Kunst stehen. Sein Bericht über die Zerstörung Frankfurts erschien nach dem Krieg in der von Benno Reifenberg herausgegebenen Zeitschrift „Die Gegenwart“.

All das erfährt man in Oliver M. Piechas materialreichen Biografie. Niemand kennt sich mit den Dokumenten sowie dem Werk und Leben von Alfons Paquet so gut aus wie der Autor, der als Historiker in Wiesbaden lebt und arbeitet und sich seit Jahrzehnten mit dem Multitalent Paquet befasst. Er hat viele Aufsätze geschrieben, Vorträge gehalten, Tagungen ausgerichtet, betreut die Website www.alfonspaquet.de und kennt Paquets umfangreichen Nachlass, der seit 1977 im literarischen Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main liegt. Auch andere Archive hat er besucht, um mit seinem Buch Der Weltdeutsche die erste umfassende Biografie Paquets vorzulegen, die sich nicht nur gut lesen lässt, sondern der es auch gelungen ist, die Fülle des Materials so darzubieten, dass man dem Leben Paquets gebannt und fasziniert über gut 500 Seiten von Kapitel zu Kapitel folgt. Von seinen eigenen Erzählungen hat der Dichter einmal gesagt, sie hätten eine „klare Linie“ und gingen „als Wegzeichen hinter meiner persönlichen Entwicklung her“. Der Biograf Piecha hat sich diese Linie zum Vorbild genommen; es gelingt ihm, den Leser zum aufmerksamen Mitreisenden zu machen.

Doch bei aller Qualität der Darstellung und des Stils bleibt doch als Wermutstropfen, dass sich kein Verlag fand, der dem Buch ein wenig mehr typografische Klarheit und Sorgfalt zuteilwerden lassen konnte. Die Biografie erschien im Spreesand Verlag, der bislang nur durch Dr. Ollis Schnitzeljagd-Quartett in Erscheinung getreten ist. Offenbar gab es keinen wissenschaftlichen oder belletristischen Verlag, der sich für eine Biografie Alfons Paquets interessiert hätte. Es lässt tief blicken, dass zwischen dem Vorlegen des Textes als Dissertation an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität im Jahr 2004 und dem Erscheinen des Buches zwölf Jahre liegen. Dennoch hätte man der gut geschriebenen Darstellung und vor allem dem Dichter Alfons Paquet einen glänzenderen Auftritt gewünscht.

Man kann nur hoffen, dass dieser Schriftsteller, Europäer, Weltreisende und Chronist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach dieser Publikation nicht länger ein „Held ohne Namen“ bleibt. Bereits 1906 hatte Hermann Hesse die Frage gestellt, ob Paquet „nicht vielleicht Züge des Menschen der Zukunft“ trage. Die Vision der Vereinigten Staaten von Europa und einer europäischen Friedensordnung (Der Rhein als Schicksal, 1920; Antwort des Rheines, 1928) entwickelte Paquet bereits in den 1920er-Jahren und war damit seiner Zeit voraus. Sein von den Erfahrungen im Rheinland ausgehender, viele Grenzen überwindender Traum von Europa wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Wirklichkeit und droht heute wieder, am Kleinmut und Nationaldenken der Regierenden zu scheitern. Vielleicht ist jetzt die richtige Zeit, sich an den Weltdeutschen Alfons Paquet zu erinnern und seine Texte zu lesen. Piechas Biografie wäre ein guter erster Schritt.

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Oliver M. Piecha: Der Weltdeutsche. Eine Biographie Alfons Paquets.
Spreesand Verlag, Wiesbaden 2016.
513 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783945558201

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