Die letzten Grenzen

Arno Dahmer beweist im Erzählband „Manchmal eine Stunde, da bist Du“ einen Blick für Details und erschafft Bilder und Figuren, die man so schnell nicht vergisst

Von Cornelia KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cornelia Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man ans Ziel seiner Sehnsucht gelangen? Diese Frage bildet den Kern der Erzählungen von Arno Dahmer. Seine Figuren stehen zumeist an Wendepunkten ihres Lebens: Erwachsen werden, sich radikal ändernde Lebenspläne, beim Stehlen erwischt werden, den Job kündigen, sterben. Der Ton ist oft melancholisch, aber neben Reflexionen und Erinnerungen bleibt auch Raum für Humor.

So auch in der schrägsten und vielleicht auch schönsten Erzählung „Man kann ja im Herzen“. Martha erinnert sich, im fortgeschrittenen Lebensalter, an ihren ehemaligen Liebhaber Ludwig Klapproth, mit dem jeder Tag mehr Gewicht hatte, als jedes ihrer Ehejahre.

Zunächst wundert man sich über das seltsame Verhalten ihrer Kinder: der Sohn verbrennt Holz und Plastik im Hof und hört dabei ohrenbetäubend laut Wagner. Die Tochter möchte nicht bei ihrem Vormittagstee gestört werden, denn das gefährde das Gleichgewicht des Tages. Dann gewinnt man zunehmend den Eindruck: hier stimmt etwas nicht. Schließlich fallen Martha verschwindende Gebäude auf. Zunächst das Wasserwerk, dann zwei Aussiedlerhöfe. Martha versucht, auf dieses Verschwinden aufmerksam zu machen, doch vergebens. Ihre Umgebung reagiert seltsam indifferent bis abweisend bis ihre Nachbarin Frau Bodelschwing sie schließlich verschwörerisch in einen Keller führt. In diesem lässt sie mit einem Hebel das Wasserwerk verschwinden und wieder erscheinen. Zwei Todesfälle geschehen, schließlich verschwinden die Häuser des gesamten Ortes – und ihr geliebter Ludwig kehrt zurück.

Geschieht alles nur in Marthas Kopf? War sie dement und stirbt am Ende der Erzählung? Und wird ihr Wunsch, dass Ludwig zurückkehrt, in einem letzten Aufflackern der Synapsen erfüllt? Der Autor lässt den Leser mit diesen offenen Fragen zurück.

 Um Verlust und Auflösung des Ichs geht es ebenso in der titelgebenden Erzählung, die sich auf Gottfried Benn bezieht. „Manchmal eine Stunde, da bist Du; der Rest ist das Geschehen. Manchmal die beiden Fluten schlagen hoch zu einem Traum“ – dieses Zitat aus Benns Novelle Der Geburtstag ist den Erzählungen vorangestellt. Und tatsächlich hat sich Dahmer motivisch und sprachlich hier an Benn orientiert, besonders mit seiner sinnlichen Naturmetaphorik.

Die Novellen von Benn, die unter dem Titel Gehirne veröffentlicht wurden, zeichnen sich unter anderem durch lyrische Bilderketten aus, die oftmals ins Mystische weisen. Dr. Rönne, wie Benn Arzt, ist der Protagonist, dessen Ich in der letzten Novelle, Der Geburtstag, zerfällt.

Bei Dahmer geht es auch um das Ich und die Frage, ob sich das Ich dann verflüchtigt, wenn aus dem unbändigen Kindheits-Ich reflektierend „Du“ und „Er“ hinzukommen. Vielleicht insbesondere ein Problem für Autoren, die Handlungen auf einer weiteren Ebene reflektieren. Oder entsteht das Ich „erst im Befangensein vor dem Anderen“?

Neben diesen Reflexionen werden in starken Bildern Erinnerungen lebendig. An die Sommer, deren Stunden „endlose Korridore durch die Zeit“ bilden, in denen man mit den Freunden mit dem Rad durch die Felder rast, bis es dunkel wird: „Über Dir die Sonne. Die Brücke: der Kamm einer Woge, auf der du tolldreist segelst. Der Lenker: ein Steuerrad. Und Laternen, die Brücke und Deinen Kopf überragend: Leuchttürme …“.

Eine weitere literarische Inspiration für den Autor war das Märchen „Von dem Fischer und seiner Frau“, das er hier mit einer Erzählung über den Call-Center Mitarbeiter Fischer verwoben hat. Immer wieder sind Zitate aus dem Märchen eingefügt, an die sich, manchmal nahtlos, seine Erzählung wieder anschließt.

Fischer ist, wie im Märchen, dem „alten Pott“ entkommen und hat sich eine ansehnliche Hütte zugelegt, inklusive Le-Corbusier-Chaiselongue und Softside-Royal-Flex-King-Size-Wasserbett. Aber ist er ans Ziel seiner Sehnsucht gelangt? Die Stelle als Agenturmakler entpuppt sich als Alptraum: Versicherungen interessieren Fischer so gar nicht, die Arbeitszeiten sind unmenschlich, sein Chef drangsaliert ihn. So kommt es schließlich zur Krise – und Fischer landet wieder am Anfang: Im alten Pott des Call-Centers.

Die Frau des Fischers existiert auf der Ebene des realen Fischers nicht, man kann sie sich wohl als die Gier und den Wunsch nach Konsum vorstellen, die dem Kapitalismus innewohnen. Diese Art der Kapitalismuskritik wirkt zunächst nicht besonders originell, aber Arno Dahmer vermag es, die Tristesse und Absurdität der Call-Center und Agenturen nicht ohne Witz darzustellen, beispielsweise als das Call-Center gnadenlos auch Kleinbetriebe abtelefoniert und eine Bäckerin mit dem Wunsch, mit der Leitung der EDV-Abteilung zu sprechen, überfordert. Oder als sich Fischer, ebenfalls überfordert, der Anlage P030506 widmen muss, die eine Kastrations- und Operationsversicherung für Kleintiere behandelt.

Neben den längeren Erzählungen finden sich Miniaturen, manchmal nur eine Seite lang, die kurze Schlaglichter werfen, beispielsweise auf das Innenleben eines verliebten Fünfzehnjährigen. Manches erwischt den Leser auch kalt: Ein Mann Anfang fünfzig geht an den Abteilen entlang durch einen Schnellzug. Er sieht einen Säugling in einem Kinderwagen, den die Mutter vor der Toilette hat stehen lassen. Er hebt das Baby heraus, entriegelt die Tür und wirft es aus dem fahrenden Zug: „Kein Schrei, kein Aufprall, nichts, das Kind ist einfach weg.“

Arno Dahmer, geboren 1973, hat Philosophie, Geschichte und Germanistik studiert. Nach Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften, ist dies sein erster Erzählband. Seine Prosa ist vielleicht auch deshalb sehr ambitioniert: Er lässt Autoren wie Benn aufscheinen, zitiert die Gebrüder Grimm, Gottfried Kellers Der grüne Heinrich und lässt (wieder humorig) einen Philosophen auftreten, der einem Kioskbesitzer mit Kierkegaard zu mehr geschäftlichem Erfolg verhelfen will. Dahmer ist sehr bestrebt, eine möglichst poetische Sprache an den Tag zu legen. Ein Morgen ist oftmals kein gewöhnlicher Morgen, sondern ein milder Morgen, der Dinge verheißt, „die niemals geschehen würden.“ Das ist zuweilen etwas zu viel des Guten und so entfalten nicht alle der vierzehn Erzählungen die gleiche erzählerische Wucht.

Insgesamt hinterlässt dieser Erzählband aber starke Eindrücke und bietet immer wieder gelungene Metaphern und erhellende Analogien. So auch in der Erzählung, in der das Klettern beinahe zu einer Parabel auf das Leben wird: „Die letzten Grenzen bleiben unerreichbar, wenn der Partner teilnahmslos ist oder insgeheim hofft, dass man scheitert.“ Als Leser wünscht man Dahmer einen starken Kletterpartner, der ihm ermöglicht, noch weiter hinaufzusteigen im rauen Gebirge der Literatur, ohne sich dabei in zu luftigen Höhen zu verlieren.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Arno Dahmer: Manchmal eine Stunde, da bist Du. Erzählungen.
Mirabilis Verlag, Miltitz bei Meißen 2017.
208 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783981667479

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