Wie William Shakespeare zum Gemeingut der deutschen Literatur wurde

Zum 250. Geburtstag August Wilhelm Schlegels

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Wie kaum ein anderer Dichter hat William Shakespeare (1564–1616) die deutsche Literatur entscheidend beeinflusst. Und doch: Shakespeare und Deutschland – das ist eine ganz eigene Geschichte. Vor rund 250 Jahren haben die Deutschen den großen englischen Dramatiker entdeckt und schufen seitdem ihr eigenes Shakespeare-Bild. Shakespeare wurde in gewisser Weise seit 1770 von der deutschen Literatur vereinnahmt – von den Sturm-und-Drang-Dramatikern, den Romantikern, Georg Büchner, Christian Dietrich Grabbe bis ins 20. Jahrhundert von Bertolt Brecht oder Heiner Müller.

Wie kam es zu dieser Vereinnahmung oder zu dem „Kidnapping des englischen Dichters“, wie es der Germanist und Shakespeare-Übersetzer Frank Günther in seinem jüngsten Buch Unser Shakespeare (!) nennt? Immerhin war Shakespeare auch noch 100 Jahre nach seinem Tod in Deutschland gänzlich unbekannt. Die deutschen Theaterbühnen in den vielen Kleinstaaten orientierten sich an französischen Stücken. Selbst Johann Christoph Gottsched favorisierte das klassizistische höfische Drama der Franzosen noch für sein gefordertes „deutsches Nationaltheater“. Es war schließlich Gottfried Ephraim Lessing, der sich ausdrücklich gegen die gekünstelte französische Klassik wandte und Shakespeare zum neuen Idol erhob: „Wenn man die Meisterstücke des Shakespeare, mit einigen bescheidenen Veränderungen, unsern Deutschen übersetzt hätte, ich weiß gewiß, es würde von bessern Folgen gewesen sein, als da man sie mit dem Corneille und Racine so bekannt gemacht hat.“ Shakespeare als volkstümliches Genie und Dichter von weltliterarischem Rang sollte nach Lessings Vorstellung das literarische Vorbild für das aufstrebende deutsche Bürgertum werden.

So begeisterten sich die Dichter des Sturm und Drang an Shakespeare – wie zum Beispiel der junge Johann Wolfgang Goethe. In seiner Rede Zum Schäkespears Tag 1771 schreibt er: „Nichts ist so Natur als Schäkespears Menschen!“ Im Sog dieser Begeisterung und dieses Aufbruchs entstanden die ersten Übersetzungen. Christoph Martin Wieland übertrug von 1761 bis 1766 insgesamt 22 Shakespeare-Stücke, die unter dem Titel Theatralische Werke erschienen. Es war die erste bedeutende Übertragung von Werken des großen Briten in die deutsche Sprache. Eine Pionierleistung, denn Wieland verfügte nicht nur über mangelnde Sprachkenntnisse, ihm fehlten auch zuverlässige Vorlagen, entsprechende Wörterbücher und philologische Hilfsmittel. Bis auf den Sommernachtstraum übersetzte er allerdings Shakespeares Dramen in Prosa, wobei er auch manchmal Szenen zusammenzog und nur den Inhalt angab, damals übliche Übersetzungspraxis. Außerdem strich er Derbheiten und „ekelhafte Ausdrücke“ des Originals. Trotz dieser mangelnden Werktreue waren Wielands Übersetzungen dem großen Vorbild geistesverwandt und hatten einen großen Einfluss auf das Drama des Sturm und Drang, das ebenfalls in Prosaform abgefasst wurde (auch die frühen Dramen von Goethe und Schiller). Der Literaturhistoriker Johann Joachim Eschenburg, der über bessere Hilfsmittel in der Wolfenbütteler Bibliothek zurückgreifen konnte, hat wenig später Wielands Shakespeare-Übersetzungen korrigiert und fortgesetzt (13 Bände, 1775/1782). Andere Dichter nahmen in dieser Zeit die Übertragung einzelner Shakespeare-Stücke vor, so zum Beispiel Jakob Michael Reinhold Lenz (Coriolan 1775) oder Gottfried August Bürger (Macbeth 1783).

Shakespeare war nun in Deutschland angekommen, aber es fehlten immer noch Übersetzungen, die sich am Metrum und Reim des Originals orientierten. Dieser Schritt sollte dem jungen August Wilhelm Schlegel vorbehalten sein, der sich bereits als Student in Göttingen Shakespeares Stücken zuwandte. Zunächst hatte er Theologie studiert, wechselte dann aber zur Klassischen Philologie, wo Gottfried August Bürger einer seiner Privatdozenten war. Beide nahmen im Winter 1788/89 eine Übersetzung von Shakespeares Midsummer-Night’s Dream in Angriff – Bürger als erfahrener Lehrer und Schlegel als sein Schüler. Bürgers Anteil an der Übersetzung war wohl eher gering, doch sie trägt deutlich die Handschrift seiner Übersetzungsgrundsätze (Werktreue, Korrektheit, Volkstümlichkeit und Vollkommenheit). Der formbegabte Schlegel befolgte im Wesentlichen diese Maxime und übte sich im „verdeutschenden Nachbilden“. Dabei gab er die Blankverse des Originals als fünffüßige Jamben wieder, während er die gereimten Dialoge als Alexandriner übersetzte.

Nach dieser Zusammenarbeit löste sich Schlegel von dem Einfluss Bürgers, auch bedingt durch die Beendigung seines Göttinger Universitätsaufenthaltes im Sommer 1791. Die nächsten vier Jahre war er Hauslehrer in einem stattlichen und gebildeten Amsterdamer Handelshaus, wo ihm jedoch wenig Zeit für seine literarischen Arbeiten blieb. Mit Friedrich Schiller stand er im Briefverkehr und veröffentlichte Kritiken und Rezensionen in der von diesem herausgegebenen Zeitschrift „Die Horen“, wo er schon 1796 seine Shakespeare-Übertragungen ankündigte. Nachdem Schlegel Amsterdam verlassen hatte, wurde er auf Schillers Veranlassung als Privatdozent nach Jena berufen, wo eine kleine Gruppe von jungen Akademikern zwischen 1796 und 1801/02 um Johann Gottlieb Fichte und die Brüder August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel und deren Frauen Caroline und Dorothea (später auch Ludwig Tieck und Novalis) den „Jenaer Kreis“ – auch „Romantische Schule“ genannt – bildeten.

In Jena wurde Schlegel stark von Johann Gottfried Herder beeinflusst, was sich auch auf seine Übersetzungspraxis auswirkte. Nicht mehr die originalgetreue Wiedergabe des Inhalts war das Primat, sondern eine poetische Nachbildung. Shakespeares Drama war für Schlegel ein kunstvoll gebauter Organismus, in den er einzudringen versuchte, um vor allem die innere Poesie und den musikalischen Rhythmus der Verse wahrzunehmen. An Schiller schrieb er: „Stundenlang habe ich zuweilen auf einen einzigen Vers gesonnen.“ Das Übersetzen bot Schlegel die Möglichkeit, nach einem vorgegeben Original Poesie selbst zu verwirklichen. Seine neuen Prinzipien veröffentlichte er in zwei „Horen“-Aufsätzen: Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (1796) und Über Shakespeares Romeo und Julie (1797). Sie enthalten die Programmatik seines geplanten Übersetzungsprojektes und einen eigenen Ansporn zugleich: „Wenn es nun möglich wäre, ihn treu und zugleich poetisch nachzubilden, Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Teil der unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen! Es gilt einen Versuch.“ Schlegel setzte gewissermaßen zu einem Sprung ins Ungewisse an. Würde er der Aufgabe gerecht werden?

In den Jahren von 1797 bis 1801 übersetzte er mit einer gewaltigen Anstrengung vierzehn Shakespeare-Dramen, die in acht Bänden in der Berliner Verlagsbuchhandlung von Johann Friedrich Unger erschienen. Im ersten Band publizierte er Romeo und Julia und Ein Sommernachtstraum, den er in Göttingen mit seinem Lehrer Gottfried August Bürger begonnen hatte. In rascher Folge erschienen dann die weiteren Bände. Einen großen Anteil an den Übersetzungen hatte auch Schlegels Frau Carolin, die Abschriften für den Druck anfertigte. Inwieweit sie auch Korrekturen und kleine Änderungen vornahm, darüber wird bis heute unter Literaturwissenschaftlern heftig diskutiert – bis hin zur „Verschlimmbesserung“. Da Schlegel, der als gewissenhafter Korrektor bekannt war, von Jena aus den Druck in Berlin nicht überwachen konnte, war diese erste Ausgabe mit Fehlern und Mängeln belastet. Als Schlegel schließlich Ende 1800 selbst nach Berlin ging, wo es bald wegen einer Novalis-Veröffentlichung zu einem Streit mit dem Verleger Unger (1801) kam, geriet sein Shakespeare-Projekt ins Stocken. Auch hervorgerufen durch die Trennung der Eheleute 1803. So folgte Band 9.1 mit Richard III. erst 1810.

Seit der Wieland-Übersetzung – reichlich drei Jahrzehnte zuvor – hatten sich die Vorbedingungen einer Shakespeare-Übersetzung für Schlegel wesentlich gebessert. So waren in der Zwischenzeit eine große kommentierte Shakespeare-Ausgabe von Samuel Johnson und George Steevens (1773–1785) sowie eine elfbändige kritische Ausgabe (mit Anmerkungen, Kommentaren und verschiedenen Textfassungen) des irischen Literaturwissenschaftlers Edmond Malone (1790) erschienen. Außerdem konnte Schlegel auf neuere Wörterbücher zugreifen und besaß zudem bessere Englisch-Sprachkenntnisse als Wieland. Trotz dieser Voraussetzungen ist es erstaunlich, welch kolossale Übersetzerarbeit Schlegel innerhalb weniger Jahre geleistet hat.

Es waren jene Jahre, in denen zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe am ersten Teil seines Faust arbeitete oder Friedrich Schiller seine Wallenstein-Trilogie vollendete – also Höhepunkte der deutschen (Weimarer) Klassik. Was lag da näher, als Schlegels Shakespeare-Übersetzungen ebenfalls als Teil dieser Klassik zu betrachten. Es gab aber auch Kritiker wie Wilhelm von Humboldt, der Schlegel sogar riet, „seine Kraft lieber an eigenen Werken [zu] üben, als sich der Übersetzungskunst hin[zu]geben, bei welcher ja doch nie ein vollkommen befriedigender Erfolg zu gewinnen sei“.

Ab 1804 war August Wilhelm Schlegel literarischer Berater und Sekretär von Madame de Staël sowie der Erzieher ihrer Kinder. Er begleitete sie auf ihren weiten Reisen und schuf nebenher zahlreiche literatur- und kunsthistorische, politische, philologische und belletristische Werke, sodass an eine Fortsetzung seiner Shakespeare-Übersetzungen nicht zu denken war. So waren 1810 erst 17 Shakespeare-Werke von Schlegel übersetzt. Sein neuer Verleger Georg Andreas Reimer, der nach Ungers Konkurs die Verlagsrechte übernommen hatte, drängte jedoch auf eine Fortsetzung des Werkes, „worauf Deutschland schon so lange hofft“. Schlegel zögerte, denn er wusste, dass er sich für geraume Zeit ausschließlich dieser Aufgabe widmen müsste. 1819 teilte er Reimer schließlich mit, dass er „für jetzt keine Möglichkeit sehe“, seine Shakespeare-Übersetzungen fortzusetzen. Außerdem erklärte er sich (zumindest in einem Schreiben) einverstanden, dass sein Freund Ludwig Tieck die Übersetzung der fehlenden Shakespeare-Stücke übernahm. Eine Kooperation mit Tieck, von dessen Übersetzungskünsten er nicht überzeugt war, lehnte Schlegel jedoch ab. Selbst auf die Bitte Reimers, seine Erstausgabe auf Druckfehler durchzusehen, antwortete Schlegel nicht, sodass der Verleger mit Tieck vereinbarte, die Schlegelʼschen Übersetzungen noch einmal durchzusehen. Heftige Verstimmungen zwischen den beiden Dichterkollegen waren damit vorprogrammiert. Reimers drückte aufs Tempo, denn zu dieser Zeit herrschte eine regelrechte „Sintflut“ von deutschen Shakespeare-Unternehmungen. So hatte der Dichter und Übersetzer Johann Heinrich Voß mit Hilfe seiner Söhne Heinrich und Abraham 1818 ebenfalls mit einer Übersetzung der Shakespeare-Werke begonnen, die heute allerdings weitgehend vergessen ist.

Trotzdem dauerte es noch bis 1825, ehe alle Modalitäten für eine Neuausgabe vertraglich geregelt waren und Tieck mit den Übersetzungen begann, wobei er sich hauptsächlich um die Erläuterungen kümmerte. Die eigentliche Übersetzungsarbeit überließ er, wie er in einen Brief an Reimer vermerkte, „jüngeren Freunden, die ihre Muße diesem Studium widmen können“. Diese „jüngeren Freunde“ waren seine erst 25-jährige Tochter Dorothea (6 Stücke) und Wolf Heinrich Graf von Baudissin (13 Stücke). Für den Verleger ließen sich die Namen „Schlegel“ und „Tieck“ wohl besser verkaufen, sodass in Jahren 1830 bis 1833 der „Schlegel-Tieck“, wie die deutsche Fassung des Shakespeareʼschen Werkes bis heute noch genannt wird, ohne Angabe der teilweisen Urheberschaft von Dorothea Tieck und Graf Baudissin erschien. Ihr entscheidender Anteil an der Shakespeare-Übersetzung wurde erst sehr viel später erkannt und gewürdigt. Dieser „deutsche Shakespeare“ wurde als noch schöner empfunden als das englische Original.

Alle Folgeübersetzungen hatten es schwer, die Vorherrschaft der Schlegel-Tieckʼschen Übersetzung auf der Bühne und dem Buchmarkt in Deutschland zu brechen. So hatte in den zurückliegenden 200 Jahren wohl jede Generation ihre eigene Shakespeare-Übersetzung – hier seien nur Franz von Dingelstedt, Friedrich von Bodenstedt, Friedrich Gundolf, Rudolf Alexander Schröder, Hans Rothe, B.K. Tragelehn, Rudolf Schaller, Erich Fried, Thomas Brasch oder Frank Günther genannt. Trotz all dieser Übersetzungen, die versuchten, Shakespeare an die jeweilige Zeit und deren Theaterverständnis anzupassen, blieb der klassisch-romantische „Schlegel-Tieck“, der aber kein Gemeinschaftswerk der beiden Übersetzer war, bis heute die deutsche Standardversion und bestimmt noch immer unsere Sicht auf Shakespeares Werk.

Kurzum: Mit August Wilhelm Schlegel (und den beiden Tiecks sowie Graf Baudissin), seinem Übersetzertalent und seiner sprachlichen Meisterschaft, wurde Shakespeare Gemeingut der deutschen Literatur – ein Vorgang, der einzigartig in der Weltliteratur ist. Oder wie es der Germanist Gerhard Schulz 1983 ausdrückte: „Mit seiner Übersetzung Shakespeares schenkte [Schlegel] den Deutschen ihren bis heute populärsten Bühnenautor“. Und tatsächlich: Shakespeare ist auch im 21. Jahrhundert der meistgespielte Dramatiker auf deutschen Bühnen. Dabei sind viele Textstellen längst zum geflügelten Wort geworden – wie zum Beispiel „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“ oder „Etwas ist faul im Staate Dänemarks“. Und wehe dem Regisseur, der eine andere Version bringt. Er könnte Gefahr laufen, dass die Hälfte der Besucher in der Pause das Theater fluchtartig verlässt.

Hinweis: literaturkritik.de hat August Wilhelm Schlegel aus Anlass seines 250. Geburtstages in der Juli-Ausgabe 2017 einen umfangreichen Themenschwerpunkt gewidmet.