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Pünktlich zum 200. Geburtstag erscheint ein Handbuch zu Theodor Storm

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor Storm (1817–1888), Theodor Fontane und Karl May sind die einzigen deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nach Johann Wolfgang von Goethe, die heute noch einer breiten Leserschaft gegenwärtig sind. Zu Fontane gibt es ein Handbuch (erschienen 2000), ebenso zu May (2001 in 2. Auflage), und nun liegt auch eines zu Storm vor. Dieses von Christian Demandt und Philipp Theisohn herausgegebene Storm-Handbuch ist sehr gut aufgebaut. Zu den drei Kapiteln „Leben“, „Werk“ und „Rezeption“ treten die Kapitel „Einflüsse und Kontexte“, das Leben und Werk verbindet, sowie „Diskurse“, das einige Hauptthemen behandelt, für die erst die neuere Germanistik sensibel geworden ist, und das Werkbetrachtung und Rezeption zugleich betrifft. Sodann enthält das Handbuch drei Register: das Werkregister, das unter anderem über 100 Gedichte anführt, ein Personenregister und – eine höchst angenehme Überraschung – sogar ein Sachregister, das eine Fülle von Sujets und Motiven nennt (allein unter dem Eintrag „Frauenfiguren“ erscheinen 23 Untereinträge!), aber auch Ortsnamen und Zeitschriftentitel enthält. So verschafft das Handbuch schon in einfacher Weise einen intellektuellen Genuss: Man kann die Überschriften und die reichen Register überfliegen, um sich da und dort zu spontaner Lektüre verlocken zu lassen.

Gehen wir in die Details. Was Storms Leben betrifft, so wird dieses gründlich und doch knapp beschrieben, aufgeteilt nach Storms Wohnorten Husum, Lübeck, Potsdam, Heiligenstadt, wieder Husum und Hademarschen. Erhellend sind die unter „Einflüsse und Kontexte“ versammelten Beiträge: „Storm als Jurist“ (von Heiner Mückenberger), „Storms Publikationspraxis“ (von Gerd Eversberg) und „Storms Politik“. Letztgenannter Beitrag (von Heinrich Detering) erörtert Storms Auftreten gegen den dänischen Machtanspruch, den preußischen Ausdehnungsdrang und grundsätzlich den Militarismus sowie die Adelsherrschaft. Erfreulich ist, dass Storms private Bibliothek, die 4.000 Bände umfasst, in Elke Jacobsens Beitrag vorgestellt wird.

Im Handbuchteil, der sich der Rezeption Storms widmet, werden zunächst die Verfilmungen behandelt (von Hans Krah/Martin Nies), unter anderem die künstlerisch beachtliche, aber ideologisch korrumpierte des Schimmelreiters von 1934. Von der Hauptfigur als Führergestalt bis zu den positiven und negativen Nebenfiguren posiert hier das Menschenbild der Nazis. Vor allem aber wird in diesem Teil die jahrzehntelange Verfälschung Storms hin zum bürgerlichen Heimatschriftsteller, ja zum „Blut-und-Boden-Autor“ beschrieben (von Philipp Theisohn). Gegen die Zeitströmung hat 1930 Thomas Mann den „unbürgerlichen“ und weltoffenen Storm herausgestellt, wobei diese Einsicht sich viele Jahre später durchgesetzt hat dank der Forschungsarbeit von Karl Ernst Laage, Dieter Lohmeier, David Jackson und anderen.

Zur Rezeption Storms, zu seiner „Wirkung“, wie es im Untertitel des Handbuches heißt, gehört auch sein Einfluss auf die Schriftsteller und Dichter nach ihm. Doch darüber informiert das Buch kaum. Zwar werden Storm’sche Motive in Thomas Manns Erzählungen und bei Christa Wolf erwähnt, doch hätte auch hingewiesen werden können beispielsweise auf Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Arno Schmidt – der Storms Atheismus und seinen Motivreichtum lebenslang bewundert hat – und Heiner Egge (geb. 1949), die alle in der poetischen Nachfolge Storms standen beziehungsweise stehen. Und noch ein Kritikpunkt: Im Verzeichnis der 60 Autoren des Handbuchs sind viele Kapitelverweise nicht korrekt.

Die Behandlung des Werkes nimmt erwartungsgemäß den größten Raum ein. In sich abgeschlossene Artikel erfassen die einzelnen Novellen, Gedichte, Märchen und ebenso die Tagebuchaufzeichnungen sowie die Korrespondenzen Storms. Bei den Novellen wird jeweils der Inhalt angegeben, die Genesis beschrieben und eine Deutung nach dem aktuellen Stand der Forschung vorgelegt. Der Artikel zum Schimmelreiter (von Andreas Blödorn/Marianne Wünsch) etwa erwähnt die Manuskriptfunde lange nach Storms Tod und misst diesem Werk einen modernen experimentellen Charakter zu. Denn hier und auch anderswo erzählt Storm nicht nur, sondern er thematisiert das Erzählen – sowohl das mündliche als auch das schriftliche. Die Deutung der Novelle Der Herr Etatsrat (von Louis Gerrekens) legt dar, dass ihr Erzähler durchweg unzuverlässig ist – die heile Welt, die er dem Etatsrat entgegenstellt, gibt es demnach nicht. Liest man sich in all die Novellendeutungen ein, erkennt man, dass nicht nur die von Storm gewählten Erzählstoffe faszinieren, sondern oft mehr noch das raffinierte Erzählerverhalten.

Der Artikel zum Briefwechsel Storm/Groth (von Robert Langhanke) sagt Wesentliches zu Storms innerer Nähe und seiner mangelnden Kompetenz gegenüber dem Niederdeutschen; und der zum Briefwechsel Storm/Fontane (von Gabriele Radecke) beschreibt die Unterschiede der Mentalität zwischen dem Mann aus Husum und dem Berliner Großstadtmenschen.

Zu diesen Texten, die sich speziell einem Themenschwerpunkt widmen, treten große Überblicksartikel über Storms Poesie, seine Novellistik und sein Märchen-Schaffen. Die beeindruckendsten enthält das bereits erwähnte Kapitel „Diskurse“. Erörtert werden Gender-Aspekte, „Storms Medien“ und (von Yahya Elsaghe) das Motiv „Krankheit“. Krebserkrankungen wie Gebärmutter- und Magenkrebs, Sterbehilfe und Spezialistenmedizin erscheinen bei Storm und verkünden seinen Pessimismus in therapeutischen Fragen sowie seine Ansicht vom Verlorensein des Menschen. Der Beitrag „Storms Dinge“ (von Andrea Bartl) widmet sich der materialen Ausrichtung von Storms Erzählen, die sich in Gegenständen wie Uhr, Schrank, Messer oder Rechentafel zeigt und als Reaktion auf die moderne beschleunigte Welt zu verstehen ist. Offenbar wird mittlerweile Storms Werk zum hervorragenden Studienobjekt der seit Jahrzehnten blühenden materialen Kulturforschung. Man spürt: Über Storm ist noch längst nicht alles gesagt. Dem Problemkreis der Dinge steht die Kunst der Rahmenerzählung nahe, mit der Storm, der Realist, alte Erzählweisen des Unheimlichen in subtiler Weise bewahrt, wie der Essay „Storms poetisches Selbstverständnis“ (von Christiane Arndt/Tove Holmes) erläutert.

Natürlich bringt dieses Buch auf seinen 420 dicht bedruckten Seiten viel mehr Feinheiten, als hier genannt werden können. Gewiss, den Teil über Rezeption und Wirkung Storms hätte man sich ausführlicher gewünscht. Doch ist festzuhalten: Das Storm-Handbuch bietet in übersichtlicher Weise und in klarer Sprache eine Bestandsaufnahme der Storm-Forschung bis hin zu den allerneuesten Entwicklungen. Es ist ein exzellentes Studien- und Lesebuch für den Storm-Kenner, den Storm-Liebhaber und auch für diejenigen, die Storm nur gelegentlich genießen.

Titelbild

Christian Demandt / Philipp Theisohn (Hg.): Storm-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017.
420 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783476026231

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