Biblische Worte und ihre literarische Reflexion

Ulrich Karthaus widmet sich Thomas Manns Verhältnis zur Theologie und identifiziert darin ein prägendes Moment für seine Poetik

Von Nicolai GlasenappRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Glasenapp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leserinnen und Lesern von Thomas Manns erstem großen Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie dürften die ersten Passagen eindrücklich in Erinnerung geblieben sein: Antonie Buddenbrook bemüht sich redlich darum, einen Glaubensartikel aus dem evangelischen Katechismus auswendig aufzusagen. Die Reaktion ihres Großvaters, der mit seiner Enkelin einen Warenhandel fingiert, relativiert den wiedergegebenen Inhalt spielerisch durch Ironisierung. Was sich hier zeigt, bestätigt der weitere Verlauf der Romanhandlung: Theologie erscheint als ein Bezugspunkt der Familienmitglieder im Hause Buddenbrook und ihr Umgang mit religiösen Inhalten offenbart unterschiedliche Haltungen. Gleichzeitig lässt sich die Bedeutung der Theologie übersehen, wie auch die (nicht)existente Forschungsliteratur zu diesem Themenkomplex zeigt, denn bislang fehlt es an einer umfassenden Sondierung der theologischen Dimension für Thomas Mann und seine Texte. Ulrich Karthaus hat nun mit Poetische Theologie eine entsprechende Studie vorgelegt, in der er den historischen, biografischen und literarischen Stellenwert untersucht, den das Theologische im Schaffen Thomas Manns einnimmt.

Der mit dem Nobelpreis für Literatur prämierte Roman Buddenbrooks ist dann auch ein erster Angriffspunkt für Karthaus, an dem sich bestätigt, dass keine monoperspektivische Darstellung eines christlich-protestantischen Glaubens erfolgt. Vielmehr kommt es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der allzu menschlichen Institution Kirche. Religiosität wird im Werk auf unterschiedliche Art und Weise ausgedrückt, sowohl bei den Mitgliedern der Familie Buddenbrook als auch bei vermeintlichen Nebenfiguren, allen voran den auftretenden Geistlichen. Der Protestantismus erscheint daher weniger als persönliche Überzeugung denn als etwas, woran sich Mann in seinem Romanwerk abarbeitet. Karthaus führt jedoch darüber hinaus wesentliche sozialgeschichtliche Entwicklungen vor Augen, wenn er den Kulturprotestantismus und den Pietismus als wirkungsmächtige Strömungen charakterisiert, welche die Zeit Thomas Manns prägten und mit dem sozialen Milieu Lübecks in enger Verbindung standen. So erklärt sich auch die Loslösung von der Institution Kirche und die Spezifik religiöser Vorstellungen, wie sie insbesondere in Buddenbrooks zutage treten. Religiosität manifestiert sich unter anderem in Riten, die einerseits dem bürgerlichen Lebensstil entgegenkommen und andererseits losgelöst vom Institutionellen praktiziert werden. Und umgekehrt zeigt sich auch an den kirchlichen Repräsentanten die Aushöhlung und Verselbständigung von Glaubensinhalten und ihre Wandlung zu einer Routine, beispielsweise an der Figur des Pastors Pringsheim. Karthaus macht jedoch unmissverständlich klar, dass der Bezug zum Protestantismus für Thomas Mann selbst mehr war als nur Material, an und mit dem sich ein ironisches Spiel vollziehen lässt. Mit Querverweisen auf Manns Reden und Schriften zeigt er auf, dass in der christlichen Lehre angelegte Aspekte wie Schuld und Rechtfertigung für den Schriftsteller konstitutive Bestandteile seines Selbstverständnisses waren. Dieser Sachverhalt führt wiederum zu einem differenzierten Verständnis der Ironie in Manns Werken: Weniger wird eine Abwertung des Dargestellten realisiert, als vielmehr aufgezeigt, woran es der Realität mangelt.

An frühen Erzählungen wie Der Wille zum Glück, Tristan oder Beim Propheten zeigt Karthaus den Stellenwert des Todes innerhalb der Werke Thomas Manns auf. Dabei steht weniger ein konkreter christlich-religiöser Kontext im Vordergrund als die Todes-Variationen der verschiedenen Werke, die ihren gemeinsamen Nenner darin finden, dass Tod und existenzielle Erfüllung einen Zusammenhang bilden, der wiederum eng an Kunst und künstlerische Tätigkeit gebunden ist. Speziell Beim Propheten verwendet Karthaus als Beispiel für eine Inszenierung, die im Sinne einer Kunstreligion Rituale darbietet, es aber an moralisch-christlichen Werten fehlen lässt und deren Essenz der Tod ist – als entscheidende Referenz der literarischen Umsetzung hebt er Manns Nietzsche-Rezeption hervor. Neben einem kurzen Exkurs zum Selbstmorddiskurs und seiner Entwicklung bis hin zur Zeit Manns kann der Tod insbesondere als Chiffre für eine politische Haltung verstanden werden, die von Konservatismus bestimmt ist und sich schließlich im Nationalsozialismus niederschlug. Wandel lässt sich auch in seiner religiösen Bedeutung als notwendige Entwicklung verstehen, um nicht einer Erstarrung anheimzufallen, die Stillstand und Tod gleicht und kulturell die Regression ins Barbarische zum Resultat hat. Die Dialektik von Leben und Tod offenbart sich an den Worten Jesu, dass, wer sein Leben verliere, es gewönne – an diesem Satz arbeitet sich Mann wiederholt ab. Er stellt den Wandel als Erfordernis ins Zentrum, wie sich am Zauberberg und am Doktor Faustus und dem Bericht seiner Entstehung nachvollziehen lässt. Dass Mann sich mehrfach mit geistlichen Personen beschäftigt hat, sieht man unter anderem an der Auseinandersetzung mit Girolamo Savonarola, die Eingang in Manns Erzählung Gladius Dei, das beispiellose Schauspiel Fiorenza und einmal mehr den Zauberberg gefunden hat.

Wenig überraschend widmet Karthaus auch der Tetralogie Joseph und seine Brüder besondere Aufmerksamkeit. Ihr biblischer Bezug ist offenkundig und zugleich Anlass für Ausführungen zur verwandtschaftlichen Nähe von Theologie und Mythologie, was wiederum in Manns Verarbeitung des Joseph-Stoffes funktional genutzt wird. Karthaus betont die theologische und exegetische Leistung, die sich in Manns Umgang mit seinen Vorlagen manifestiert und die nicht weniger als eine fundamentale Reflexion auf das Christentum und seine Entwicklung darstellt, er hebt zusätzlich aber auch den Stellenwert außerchristlicher, zum Beispiel orientalischer Mythen für Joseph und seine Brüder hervor. Am Beispiel Abrahams verdeutlicht Karthaus das Verhältnis des Menschen zu Gott als persönlichem Wesen, das sich wiederum dadurch entzieht, dass ihm keine klar konturierte Geschichte eignet, wie sie für einen Menschen üblich ist. Die Verbindung von Menschlichem und Göttlichem findet schließlich im Segen Ausdruck, der Nähe zwischen Gott und Mensch herstellt, aber auch in Gnade und Erwählung, die zentrale Begriffe innerhalb der christlichen Theologie bilden und das Verhältnis des Menschen zu Gott in der christlichen Mythologie beschreiben. Überhaupt stellt die Tetralogie um Joseph einen zentralen Angriffspunkt für die Untersuchungen von Karthaus dar und kann als eindrückliches Beispiel für die Umsetzung einer Poetik verstanden werden, die theologisch grundiert ist und in ihrer Vielzahl an Erzählsträngen insbesondere biblisches Material durch ästhetische Gestaltung erweitert.

Der Analyse von Joseph und seine Brüder folgt eine Auseinandersetzung mit der Erzählung Das Gesetz, die Karthaus als Epilog zur Tetralogie charakterisiert und worin die Geschichte des aus Ägypten ausziehenden Volkes Israel thematisiert wird. In Manns Erzählung bedingt dieser Auszug laut Karthaus erst die Freiheit, die zur Erkenntnis Gottes und wahrer Verantwortung ihm gegenüber, im Gegensatz zur Gesetzesgläubigkeit, führen kann. Dem Teufel als Gegenspieler Gottes, der aber gerade in seiner Gewöhnlichkeit vielgestaltig unter den Menschen präsent ist und bei Thomas Mann in enger Verbindung zum Faust-Stoff steht, kommt ebenfalls ein eigenes längeres Kapitel zu. Allerdings erlangt dieser Zusammenhang gerade im Doktor Faustus seine Bedeutung dadurch, dass er mit der Entwicklung des Tonsetzers Adrian Leverkühn statt etwas Allgemeinem etwas Spezifisches beschreibt, dass sich mit der klaren Kontur der einzelnen Charaktere deckt, die bisweilen als Verführerfiguren eine verwandtschaftliche Nähe zum Teufel und seiner Wirksamkeit aufweisen. Im musikalischen Durchbruch Adrian Leverkühns erlangt diese teuflische Wirksamkeit ihren Höhepunkt. Mit Kaisersaschern lässt sich indes ein Ort identifizieren, dessen Zeitlosigkeit der Wirksamkeit des Bösen entspricht, wenn damit auch deutliche Verweise auf das Mittelalter verbunden sind. Der Erwählte bildet dann vorerst ein letztes Kapitel zu Manns Werken. Die wiederkehrende Komik dieser Erzählung der Legende von Papst Gregor sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Mann selbst offensichtlich ernst darum war, den Zusammenhang von Sünde und Gnade zu ergründen. Inzest und Buße stehen im Fokus, womit theologische Fragen aufgeworfen werden, die das Verhältnis von Mensch und Gott betreffen. Karthaus beschließt seine Untersuchung mit einem Kapitel über Manns Verhältnis zum Reformator Martin Luther, dessen Ambivalenz in Abneigung und Anerkennung kulminiert – eine Ambivalenz, die ja auch Manns Verhältnis zu Richard Wagner und seiner Musik kennzeichnete. Anhand von Manns Perspektive auf Luther lässt sich ein wesentlicher Teil der historischen Entwicklung Deutschlands und seine Charakteristik nach 1900 begreifen. Der Plan zum unabgeschlossenen Schauspiel Luthers Hochzeit dokumentiert schließlich die persönliche Wichtigkeit, welche die Figur Luther und ihre Überzeugungen für Mann hatten.

Anhand der wiederkehrenden Auseinandersetzung mit Versatzstücken aus theologischen Kontexten wird ersichtlich, dass Mann die christliche Religion zeit seines Lebens beschäftigt hat, er aber nicht in erster Linie ihren Dogmen gefolgt ist, sondern integrative Bestandteile zu einem Teil seiner Ästhetik gemacht hat – einer Ästhetik, die mit dem eigenen Leben verschränkt ist, wie die autobiografischen Bezüge belegen. Derartige Verschränkungen sind es auch, die sich, mit dem Titel der Arbeit von Karthaus, als Konstituenten einer „poetischen Theologie“ identifizieren lassen. Manns Umgang mit biblischem, theologischem und mythologischem Material basiert auf Engführungen, Querverweisen und Variationen. Er formt es um im Zuge eines poetischen Aktes und entwickelt damit eigene Perspektiven. In seinem Œuvre kommt er immer wieder darauf zurück, ohne dass man allzu absolut vom eigentlichen Impetus seines Schreibens sprechen sollte. Die Referenzen und Zusätze dieses intertextuellen Spiels mit ihren theologischen Implikationen sind zu vielschichtig, als dass sie sich innerhalb einer Rezension detailliert wiedergeben ließen – hierzu sei der zielgerichtete Blick in die Untersuchung von Karthaus empfohlen. In jedem Fall ist es dieser gelungen, eine wesentliche Facette von Thomas Manns Schreiben und Denken anschaulich herauszustellen und so ihre Relevanz zu untermauern.

Karthaus schafft es mit seiner kenntnisreichen Studie, die Relevanz eines bisher unterschätzten Themenkomplexes zu verdeutlichen. Indem er die Bedeutung des Theologischen nicht allein in motivischen und biografischen Zusammenhängen ergründet, sondern darüber hinaus den sozialgeschichtlichen Hintergrund von Religiosität zur Zeit Thomas Manns und die Umsetzung in seinen Werken vor Augen führt, verhilft er dem Stellenwert des Themas zu besonderer Transparenz. Methodisch vollzieht Karthaus dies mit einem Close Reading und eröffnet über Bezüge zu biblischen Aussagen sowie theologischen Positionen und ihren geschichtlichen Entwicklungen Bezugspunkte und gedankliche Horizonte, vor denen ersichtlich wird, woran Mann sich in seinen Werken orientiert, aber auch worin die Innovationen seiner Auseinandersetzung damit liegen. Die Anordnung der Kapitel folgt dabei größtenteils der Chronologie der Werke. Der von Karthaus geleistete Überblick dürfte sich als anschlussfähig und grundlegend für weitere Studien erweisen, die sich der religiösen und theologischen Dimension bei einem der größten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts widmen und angelegte Zugänge noch vertiefen wollen. Als eine Essenz der Studien von Karthaus ist herauszustellen, dass theologische Fragen und Probleme Mann im Laufe seines Lebens zunehmend beschäftigt haben.

Titelbild

Ulrich Karthaus: Poetische Theologie. Überlegungen zu Thomas Mann.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2016.
252 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783465039518

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