Körpersprache – ein in den Geisteswissenschaften wenig behandelter Aspekt

Doris Schöps liefert mit „Körperhaltungen und Rollenstereotype im DEFA-Film“ neue Einblicke in die Figurenanalyse

Von Tom SmithRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tom Smith

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren werden prominente öffentliche Figuren immer häufiger der Analyse verschiedener sogenannter Körpersprache-Experten unterzogen, in der Tagesschau genauso oft wie in der Boulevardpresse. Als sich Donald Trump weigerte, Angela Merkel die Hand zu schütteln, wurden ihre Körperhaltungen ohne Ende in den Nachrichten besprochen und analysiert. Als sich die britische Premierministerin Theresa May während des Wahlkampfs dem Blick der Kameras preisgab, wurde ihre Art auf einmal nicht mehr als „stark und stabil“, sondern als gehemmt, mechanisch und unecht gesehen. Sogar Merkel, die es bis dahin immer vermieden hatte, ihre persönliche Eigenschaften Teil ihrer Kampagnen zu machen, wurde 2013 unter dem Zeichen ihrer sogenannten ‚Raute‘ wieder gewählt. Körperhaltungen haben also Konjunktur, und werden doch in den Geisteswissenschaften wenig thematisiert.

Insofern leistet Doris Schöps mit ihrer Dissertation, die 2016 bei Königshausen und Neumann erschien, einen wichtigen Beitrag. Im Buch Körperhaltungen und Rollenstereotype im DEFA-Film beschreibt Schöps 42 Körperhaltungen samt ihren physischen Merkmalen, ihren Konnotationen sowie ihren gesellschaftlichen Bedeutungen. Letztere sind zwar oft intuitiv, doch in der Art, wie Schöps die oft gegensätzlichen Bedeutungen nebeneinander präsentiert, stellt sich heraus, wie wenig wir bewusst über Körperhaltungen nachdenken. Dass zum Beispiel ein gekipptes Becken sowohl ein Zustand des Wartens zeigen als auch verführerisch sein kann, ist wenigstens dem Rezensenten bisher nicht eingefallen. Das einzige Bedenken mag sein, dass es angesichts der Forschung über Gender und Sexualität in der DDR nicht gerade angebracht ist, dieses Verführerische mit „Frau/feminin sein“ gleichzusetzen. Immerhin können Hans Balla in Spur der Steine, Paul in der Legende von Paul und Paula oder sogar Philipp Klarmann in Coming Out durchaus verführerisch sein, ohne unbedingt feminin zu wirken. Der Einwand wäre eventuell zu erheben, dass Schöps‘ Analyse der Beziehungen aller Figuren zum staatssozialistischen System andere Rollenstereotypen außer Acht lässt, vor allem in Bezug auf Alter, Gender, Sexualität oder soziale Klasse.

Um Körperhaltungen im Bezug auf die Figuren der jeweiligen Filme analysieren zu können, beschreibt Schöps fünf Rollen, denen alle Figuren zugeordnet werden können, und die sich meistens nur auf deren Verhältnis zum Regime beschränken: Held/in, Systemvertreter/in, Neutrale/r, Außenseiter/in und Feind/in. Diese Kategorien sollen „filmübergreifend vergleichbar“ sein, um eine quantitative Analyse oft äußerst unterschiedlicher Filme zu ermöglichen und weitreichendere Schlüsse ziehen zu lassen. In Frank Beyers Spur der Steine zum Beispiel sind Werner Horrath und Kati Klee die Held(inn)en, Balla und seine Brigade die Außenseiter, verschiedene meist weibliche oder alte Figuren neutral, und Jansen, Trutmann, Bleibtreu und andere namenlose Funktionäre und Polizisten die „Systemvertreter“. Diese Zuteilungen können nie den verschiedenen Einschätzungen aller Zuschauer entsprechen, aber Schöps‘ sorgfältige Erklärung der Rollenzuteilungen schafft in diesem Fall einen Einblick in den enormen Umfang ihrer präsizen Vorgehensweise, indem sie für alle Figuren die möglichen Rollenzuteilungen behutsam erwog und ihre Wahl im Zusammenhang jeder einzelnen Filmhandlung verankerte.

Diese einzelnen Körperhaltungen werden dann in 75 Filmen der DEFA quantitativ analysiert. Zunächst ordnet Schöps sie fünf Zeitabschnitten und fünf Themenkreisen zu. Dieses Verfahren soll „eine empirische Erhebung von Datenmengen“ ermöglichen, ohne ein „starres Schema“ zu werden. Ihre Zeitabschnitte entsprechen nicht immer den größten Zäsuren in der Filmgeschichte der DDR, weisen vielmehr auf Kontinuitäten hin, die kulturpolitische Brüche immer überschnitten haben. Die Themenkreise sind teilweise generisch bestimmt (Krimi und Spionage; Abenteuer und Unterhaltung), teilweise nach den Gegenständen der Filme (Arbeiterbewegung und Antifaschismus) und teilweise nach dem Milieu des Geschehens (Arbeit und Kollektiv; Frauen und Jugend). Sie ermöglichen es Schöps, die Filme klaren Kategorien zuzuordnen, doch für den Preis, dass dadurch die komplexeren Beziehungen zwischen Genre, Figurenkonstellation und Handlung ausgeblendet werden.

Dann folgt der beeindruckendste Teil dieser Arbeit: Alle Körperhaltungen in allen 75 Filmen werden im Hinblick auf Zeitabschnitte, Themenkreise und Rollen quantitativ analysiert. Zum Beispiel: Die Haltung „Zurücklehnen, Arme hochgelegt“, die Schöps mit der Lässigkeit, Zwanglosigkeit oder Selbstgefälligkeit verbindet, sei in den Filmen am häufigsten bei Feinden oder Außenseitern zu sehen, was auf die negativen Konnotationen dieser individualistischen Attribute in der sozialistischen Filmproduktion zurückzuführen sei. Diese Haltung nehme außerdem nach 1966 erheblich zu. Schöps stellt insgesamt „eine zunehmende Lockerheit der im DEFA-Film gezeigten Körperhaltungen“ fest, die dem Einfluss amerikanischer Filme und einer „Lockerung der anfangs strikten Anforderungen an das Alltagsverhalten“ zuzuschreiben sei.

Schöps leistet in vielerlei Hinsicht einen erheblichen und weitreichenden Beitrag, nicht zuletzt methodologisch durch ihre Untersuchung der Vorteile und Schwierigkeiten, die mit der Verbindung quantitativer Analyse mit geisteswissenschaftlichen Forschungstechniken einhergehen. Innerhalb der DDR-Forschung kann ihre Arbeit als Teil einer zunehmenden Tendenz gesehen werden, die Verwicklung der Politik und Ideologie des DDR-Staates mit dem menschlichen Alltag zu untersuchen. Sie zeigt auf der einen Seite, dass sogar körperliche Haltungen und Bewegungen bis ins kleinste Detail ideologisch konnotiert sind, dass sie aber auf der anderen äußerst ambivalent sind und die Versuche der SED-Obrigkeit, diese Konnotationen unter Kontrolle zu halten, daher immer scheitern mussten. Um ihren Beitrag in dieser Hinsicht deutlicher zu präzisieren, hätte sich Schöps allerdings mit der sozialgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Forschung über die DDR-Gesellschaft, in der diese Fragen in letzter Zeit viel besprochen wurden, näher beschäftigen können.

Die Autorin unterschätzt sogar die Bedeutung ihrer Analyse für die Filmwissenschaft: Theoretiker und Analytiker besprechen seit dem Anfang des filmischen Mediums die Zeichensysteme und die Syntax der filmischen Sprache. Korpusanalytische Techniken können uns durchaus dabei helfen, diese Zeichensysteme zu verstehen und zu beschreiben, doch sie nennt nur wenige Auswirkungen, die ihre Ergebnisse über die Grenzen ihrer Studie hinaus haben können. Ihre Arbeit wirft beispielsweise die Frage auf, wie und inwiefern ihre Forschungsergebnisse in der Analyse einzelner Filme verwendet werden könnten. Halten alle Schlüsse einer detaillierteren filmwissenschaftlichen Analyse stand, die sich mit den Nuancen und Ambivalenzen einzelner Figuren befasst? Inwieweit sind die von Schöps analysierten Körperhaltungen nur in einem staatssozialistischen Zusammenhang zu verstehen, oder müssen sie vielmehr als Teil eines größeren körpersprachlichen Filmdiskurses betrachtet werden?

Vor allem steht Schöps‘ Monographie als Beispiel für die vielversprechenden Möglichkeiten der quantitativen Korpusanalyse auch in der Filmwissenschaft. Ihre Arbeit ließe sich dazu auch als wichtiger Beitrag zur embodiment-Forschung sehen, indem sie zeigt, wie die Darstellung und Verbreitung der Ideologie durchaus verkörperlicht sind. Mit über 500 Seiten handelt es sich hier um keinen schmalen Band, aber dafür ist das Buch sehr klar gegliedert und mit Tabellen und Grafiken illustriert, so dass es sich zweifellos als Nachschlagewerk für all diejenigen bewähren wird, die sich mit der filmischen Körpersprache beschäftigen möchten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Doris Schöps: Körperhaltungen und Rollenstereotype im DEFA-Film. Eine korpusanalytische Untersuchung.
Film – Medium – Diskurs, Band 72.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2016.
546 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783826059773

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