Der Klang der Revolution

Madeleine Thien entwirft in ihrem Generationenroman „Sag nicht, wir hätten gar nichts“ ein Panorama der gewaltsamen chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts

Von Charlotte NeuhaussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Neuhauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind Zeiten der Extreme, die Madeleine Thiens bisheriges literarisches Werk bestimmen: Zeiten der extremen politischen Willkür, des extremen Leids, des extremen Verlusts. In früheren Werken verarbeitete die preisgekrönte kanadische Schriftstellerin die traumatischen Folgen des Kriegs im japanisch besetzen Malaysia sowie der Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha. In ihrem aktuellen Roman Do Not Say We Have Nothing, der im September unter dem Titel Sag nicht, wir hätten gar nichts in deutscher Übersetzung erscheint, bleibt sie dieser literarischen Linie treu und verhandelt auf eindrucksvolle Weise die einschneidenden Entwicklungen der neueren chinesischen Geschichte, von der Kulturrevolution unter Mao Zedong bis hin zu den Studentenunruhen auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Und auch dieser Roman beginnt mit einem Verlust, im kanadischen Vancouver des Jahres 1989: Nachdem Maries Vater zunächst wortlos nach Hongkong abgereist ist und wenige Monate später Suizid begangen hat, ist sie zwischen Trauer, Wut und Unverständnis hin- und hergerissen. Sie weiß nur wenig über die Vergangenheit ihres Vaters, außer, dass er in China ein bekannter Konzertpianist war. Das ändert sich unerwartet, als sie und ihre Mutter eine junge Chinesin bei sich aufnehmen, deren Vater angeblich eng mit Maries Vater befreundet war. Mit Ai-mings Ankunft beginnt Marie, in die Familiengeschichte einzutauchen und langsam zu verstehen, was ihren Vater zu der Person gemacht hat, die er war. Stück für Stück setzt sich vor ihren Augen die Geschichte zweier eng verbundener Musikerfamilien zusammen, deren Leben sich unter der Kulturrevolution von Grund auf änderte, als Familien getrennt, Lehrer denunziert und Verwandte und Bekannte zur Zwangsarbeit geschickt oder ermordet wurden.

Vielschichtig und glaubwürdig führt Madeleine Thien in ein Kapitel der chinesischen Geschichte ein, das vielen westlichen Lesern bisher eher verschlossen geblieben ist. Einmal mehr erweist sie sich dabei als Meisterin der historischen Fiktion, die es versteht, einflussreiche geschichtliche Ereignisse literarisch zu verarbeiten, ohne der Gefahr einer Vereinfachung oder Banalisierung zu unterliegen. Die Fragen, die sie im Zuge dessen nicht berührt, sondern analog zur Brutalität des Geschehens mit gnadenloser Dringlichkeit aufwirft, sind von philosophischem Gewicht: Wie bewahrt man in unmenschlichen Zeiten seine Menschlichkeit? Was ist man bereit aufzugeben, ohne sich selbst, seinen innersten Kern, zu verlieren? Wie erhält man seine Identität, ohne von der Last der Vergangenheit erdrückt zu werden, und wie macht man all das Erlebte der folgenden Generation begreiflich, die mit ganz anderen Augen auf die Geschichte blickt?

All diese Fragen fängt Thien in einer Sprache ein, die im Kontrast zu den geschilderten Ereignissen berückend poetisch erscheint und so ausdrucksstarke wie klare Metaphern und Beschreibungen heranzieht. Die Wirren und die Gewalt der Revolution, gefasst in eine präzise, anmutige Sprache – ein Paradox, das sich nur zu gut einfügt in eine ohnehin widersprüchliche Zeit, in der Begriffe wie „Schuld“ und „Erziehung“ eine völlig neue Bedeutung erhielten.

Das wiederkehrende Thema des Romans, das ihn bezeichnenderweise wie ein Leitmotiv durchzieht, ist neben den bereits erwähnten existenziellen Fragen die Musik, die große Leidenschaft der beiden Familien, deren Geschichte nachgezeichnet wird. Als fortwährender Subtext begleitet sie das Geschehen und ist dabei direkter Spiegel für die innere Verfassung der Charaktere, für den Grad ihrer Anpassung, ihres Trotzes, ihres Überlebenswillens. Bach, Tschaikowsky, Ravel – das sind die Komponisten, die Thiens Figuren im Chaos und Leid der Revolution beistehen, sie am Ende aber doch nicht vollständig retten können. Sag nicht, wir hätten gar nichts ist aber auch ein metafiktionaler Roman über die Bedeutung von Literatur, ausgelotet anhand eines über die Generationen hinweg vererbten und fortgeschriebenen Buches, das abwechselnd als geheimes Kommunikationsmittel, Selbstzeugnis und Gedenkschrift für die Toten dient. In diesem Sinne kann Thiens Roman auch als Reflexion über das Potenzial und die Grenzen von Kunst in politischen Ausnahmezeiten gelesen werden.

Am Ende steht der Leser vor einem beeindruckend detailreichen, eindringlichen und dabei völlig unsentimentalen Gewebe aus Fiktion und Geschichte, das einen ungemein bereichernden Blick auf das China des 20. Jahrhunderts eröffnet. Völlig zu Recht wurde Madeleine Thien für diese Leistung mit den höchsten Literaturpreisen Kanadas sowie einer Shortlist-Nominierung für den Man Booker Prize 2016 ausgezeichnet.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Madeleine Thien: Do not say we have nothing.
Englisch.
W. W. Norton & Company, New York 2016.
480 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9780393609882

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Titelbild

Madeleine Thien: Sag nicht, wir hätten gar nichts. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
656 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875200

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