Affine Gefühlswelten

Warum Judenfeindschaft schwer vergleichbar ist – Vorläufiges zu einer Hass-Geschichte

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Zur Erinnerung an Robert S. Wistrich (1945 – 2015)

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurden in der westlichen akademischen Welt Vergleiche von Judenfeindschaft mit Feindseligkeiten gegenüber verschiedenen Minderheiten populär. Sie haben die Besonderheiten sowohl der Judenfeindschaft als auch der anderen Feindseligkeiten eher verstellt als erhellt. Praktisch hatte dies zur Folge, dass die einzelnen Phänomene unter einem Stapel banaler Allgemeinheiten verschwanden und keine wirksamen Gegenstrategien mehr entwickelt werden konnten. Auf der Ebene des Gefühlshaushalts lässt sich Judenfeindschaft aber kulturhistorisch und aktuell von anderen Gruppenfeindseligkeiten unterscheiden, vor allem von der Islam- bzw. Muslimfeindschaft und vom Orientalismus Edward Saids, die sowohl in ihrer Struktur und Genese als auch in ihrer Dimension anders funktionieren, anders entstanden sind und andere Effekte nach sich ziehen. Reflexhaft wird dagegen häufig eingewandt, dass man ja wohl noch vergleichen dürfe, so als handele es sich um ein moralisches Vergleichsverbot, das faktisch niemand erteilt hat. Die Frage ist, aus welchem Grund und zu welchem Zweck verglichen werden soll oder muss. Selbstverständlich kann man einen Vergleich anstellen, der die Gemeinsamkeiten und Unterschiede gleichermaßen berücksichtigt. Nur wird ein solcher Vergleich allein beim oberflächlichen Hinsehen ergeben, dass weder Araber noch Muslime als solche im Okzident und im Orient vergleichbaren Feindseligkeiten, Vertreibungen, Pogromen, Massenmorden und Vernichtungsprogrammen bis hin zur Shoah ausgesetzt gewesen sind. Araber und Muslime wurden in Europa vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Opfer von Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit vor allem rechtsextremer Akteure. Der als Genozid anerkannte Massenmord an Tausenden männlichen bosnischen Muslimen im Zuge des jugoslawischen Bürgerkrieges in den 1990er Jahren war ein Versagen auch der bestehenden internationalen Institutionen. Mit den Genoziden an den Herero, den Armeniern, Roma, Sinti und Juden, die sich ebenfalls voneinander unterscheiden, ist er nicht vergleichbar.

Allein im 20. und 21. Jahrhundert sahen und sehen sich Juden und der seit 1948 existierende Staat Israel den Feindseligkeiten und Vernichtungsfantasien einer Art „Querfront“ rechter, linker und islamischer Extremisten ausgesetzt, die in Hinblick auf Israel auch Teile der Mitte und der akademischen Elite umfasst. Ein Vergleich zwischen Judenfeindschaft und Araber- bzw. Muslimfeindschaft kann demnach nur kontrastiv sein, wie Monika Schwarz-Friesel und Evyatar Friesel in ihrem Aufsatz „‘Gestern die Juden, heute die Muslime …‘? Von den Gefahren falscher Analogien“ vorgeschlagen haben. In „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ zeigen Jehuda Reinharz und Monika Schwarz-Friesel, wie sich Judenfeindschaft heute artikuliert. Das visuelle Vokabular der Judenfeindschaft fußt auf dem Verbalantisemitismus und kann ohne ihn weder erfasst noch analysiert werden. Jenseits der traditionellen Entgegensetzung von Vernunft bzw. Verstand auf der einen und Gefühlen auf der anderen Seite hat das verbale wie das visuelle Vokabular auf der Gefühlsebene eine Urteilsfunktion. Je nachdem, wie das Urteil über das kreierte Kollektivsubjekt ‚Jude‘, ‚Judentum‘,‚ Zionismus‘, ‚Israel‘ ausfällt, kann von Judenfeindschaft im Sinne einer geschlossenen Konzeptualisierung gesprochen werden. Dabei spielen Diffamierung, Delegitimierung und Dämonisierung (Nathan Scharansky) eine entscheidende Rolle.

1. Immer wieder Weimar: „Große Verängstigung unter den Juden“ oder Judenhass als „Dämonopathie“

Im September 1923 durchstreifte der jüdische Schriftsteller und Arzt Alfred Döblin wie häufig in jenen Jahren die Straßen rund um den Berliner Alexanderplatz und wurde dabei Zeuge einer Debatte über Antisemitismus: „Am Strausberger Platz vor einer Zeitungsfiliale eine Menschenansammlung; in der Mitte ein langhaariger kleiner Jüngling mit Schillerkragen debattiert mit einem ruhigen älteren Arbeiter. Der Ältere sagt: ‚Ihr schützt die Juden.‘ Der heftige Kleine, unter Assistenz anderer: ‚Nein, wir stellen uns nicht vor die Juden. Aber wir wissen, dass der Kapitalismus in der Klasse und nicht in der Rasse steckt.‘ Es ist die erste Straßendebatte unter Arbeitern, die ich höre, die sich mit Antisemitismus befaßt. Aber er wurde nicht angenommen; die Leute sind geschult.“ (Die Zeitlupe, Walter Verlag Olten 1962, S. 60) Abgelehnt haben die Klassenkämpfer im Osten Berlins im Herbst 1923 den pseudowissenschaftlichen Rasseantisemitismus, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit dem Darwinismus enstanden war, und den die Nationalsozialisten bis hin zur Shoah radikalisieren sollten. Mit der NSDAP und der KPD waren 1919/20, am Beginn der Weimarer Republik zwei miteinander rivalisierende, extreme parteipolitische Kräfte entstanden, die auf jeweils unterschiedliche Weise Bilder von Juden entwarfen und die junge noch ungefestigte Demokratie mit einer ungeheuren Vehemenz zugunsten einer Diktatur bekämpften, so dass sie, als kaum noch wer in Deutschland bereit war, sie zu verteidigen, im Jahr 1933 kollabierte. Zehn Jahre zuvor, am 11. November 1923, berichtete Döblin in einer Theaterkritik für das „Prager Tagblatt“ unter der Überschrift „Während der Schlacht singen die Musen“ über das Scheunenviertelpogrom. Döblin hat den Antisemitismus beim gewalttätigen Übergriff gegen die überwiegend aus dem osteuropäischen Polen und Russland zugewanderten Juden keineswegs bagatellisiert. Er hat den Referenzrahmen Polen und Russland sowie die sozialen Spannungen im damaligen Berlin als Faktoren zur Beurteilung herangezogen. Und diese Faktoren verstellten die Einschätzung der Dimension von Judenfeindschaft, die das Geschehen stimulierte: „Statt der Lebensmittelunruhen gab es etwas Pogromartiges. … Grosse Verängstigung unter den Juden vor den nächsten Tagen; das ‚Exil‘ wird vielen wieder deutlich. Es ist zwar die Methode des alten Rußlands: Spannungen werden auf die Juden entladen; jedoch sehe ich nichts von wirklicher Pogromverfassung in Berlin. Die Agitation wühlt, die Verbrecher der Straße warten wie immer auf ein Stichwort, die Masse denkt nicht, läßt sich da und dorthin mitreißen. … Noch gestern abend fuhren die Lastwagen mit den ‚Grünen‘ [der Polizei, S.K.] vor meiner Wohnung vorbei, durch die östlichen Straßen; große Radfahrerpatrouillen voraus und – ein kriegsmäßiges Panzerauto hinterdrein. Ein ähnliches sah ich zuletzt beim Kapp-Putsch; weiß war damals auf die Seitenwände ein Hakenkreuz gemalt.“ Im Verhältnis zu den Pogromen in Osteuropa fiel das Scheunenviertelpogrom nicht ins Gewicht. Als antisemitischer Gewaltausbruch zur Zeit der Weimarer Republik indes warf es Schatten voraus. Wie war es dazu gekommen? Das Arbeitsamt in der Gormannstraße konnte das Arbeitslosengeld nicht auszahlen, weil es vorübergehend zu einem Mangel an Zahlungsmitteln gekommen war. Schnell machte das gezielt gestreute Gerücht die Runde, dass Juden aus dem Scheunenviertel die letzten Geldmittel eingewechselt hätten. Dieses Gerücht hat den Gewaltausbruch initiiert. Das öffentliche Klima war durch die diffamierende Judenzählung während des Ersten Weltkriegs, die Juden der Feigheit, des Drückebergertums und der Geschäftemacherei am Krieg bezichtigten, sowie die Dolchstoßlegende, die Juden die Schuld an der Kriegsniederlage zuschob, judenfeindlich geprägt. Damals kamen den bedrängten Juden nur ein paar ehemalige jüdische Frontkämpfer zu Hilfe, die von der Polizei verhaftet und geschlagen worden waren und nicht den Eindruck hatten, in einem Rechtsstaat zu leben. Die KPD, die den ‚Rassekampf‘ und damit den Antisemitismus als bloße Verschleierung des Klassenkampfes und somit als bloßen Vorwand und nicht als Kernelement nationalsozialistischer und faschistischer Ideologie ansah, hatte sich selbst im Nachhinein nicht ‚schützend vor die Juden gestellt‘. Vielmehr sahen die Kommunisten im Judentum das Prinzip des Kapitalismus verkörpert, dass es dem Marxismus zufolge abzuschaffen galt.

Zeitsprung. Als im Juli 2014 auf den Straßen Berlins, dieses Mal im Westteil der Stadt, eine aus ideologisch bunt zusammengewürfelten Akteuren bestehende Menge von Israelfeinden „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ brüllte, hat sich keine Partei oder Massenorganisation – von einzelnen Vertretern abgesehen – klar, unmissverständlich und für alle vernehmbar zugunsten des jüdischen Staats ausgesprochen. Am U-Bahnhof Potsdamer Platz konnten Vertreter der Palästinenser ungestört mit Puppen in mit roter Farbe verschmierter Kleidung den Eindruck erzeugen, Israelis würden gezielt palästinensische Kinder töten und so die Ritualmordlegende beschwören. Seit der durch Heinrich Heine in Deutschland bekannt gewordenen Damaskusaffäre von 1840 war die mittelalterliche Beschuldigung, Juden würden Christen – vorzugsweise Kinder – töten, um ihr Blut in die Pessachbrote zu verbacken, auch in der arabisch-islamischen Welt bekannt. Ein katholischer Mönch und sein muslimischer Gehilfe waren im Januar 1840 verschwunden und die Damaszener Juden wurden des Ritualmords beschuldigt, nachdem ein französischer Konsul die osmanischen Machthaber und Behörden entsprechend manipuliert hatte. Seit mehr als einem Jahrzehnt kann man in Deutschland Schlüsselanhänger, Tassen, Mousepads und Ähnliches mit einer um den Staat Israel ‚bereinigten‘ Landkarte des Nahen Ostens in den Nationalfarben Palästinas erwerben, und seit ein paar Jahren auch Briefpapier mit der Gaza-Flotille und einem als Israel markierten Seemonster. „From the river [Jordan, S.K.] to the sea [Mediterranean, S.K.] Palestine must be free“, wie der Slogan der PLO seit den 1970er Jahren lautete und wie es im Juli 2014 auf den Straßen vieler Städte weltweit zu hören war. Der Rapper Bushido hat eine solche, von Israel ‚befreite‘ Landkarte zum Logo seines Facebook-Accounts gemacht. Die Al-Kuds-Aufmärsche in Berlin und anderen Großstädten rund um den Globus suggerieren mit ihrem skandierten Rufen „Kindermörder Israel“, dass die Ritualmordlüge Faktizität im Verhalten von Juden besitzen würde. Das alles entspricht umgekehrt dem altbekannten mörderischen Dreiklang aus Dämonisierung, Deligitimierung und Diffamierung, der seit Amin el-Husseini, dem Grossmufti von Jerusalem, Führer der palästinensisch-arabischen Nationalbewegung und engen Verbündeten der Nationalsozialisten, im Nahen Osten Konjunktur hat. Zu Recht konstatierte Robert S. Wistrich die ideologische Kontinuität und die Kontinuität des Judenhasses seit den 1930er Jahren auch im Nahen Osten: „Arafat, die al-Aksa-Brigaden der Fatah, Hamas, der islamistische Djihad und auch die Hizbollah unterscheiden sich nicht von el-Husseini in ihrem Wunsch nach der Auslöschung Israels, ersetzt durch ein ‚befreites‘ Palästina.“ (Neuer Antisemitismus?, Frankfurt/Main 2004, S. 267)

Zunächst zurück in die Weimarer Republik. Der „Judenhass“, so Döblin unter dem Pseudonym Linke Poot in der „Neuen Rundschau“ im Februar 1920, sei eine Art „Dämonopathie“, die man „kulturhistorisch“ erklären müsse. Döblin war einer plakatierten Versammlung eines jüdischen Arbeitervereins zur Palästinafrage gefolgt. Weil der Zionismus eine Antwort auf die Judenfeindschaft in West- und Osteuropa war, sinnierte er über deren Spielarten und „Ursache“. In Europa erfülle der fantasierte ‚Jude‘ eine Funktion als „Spucknapf“; weil das Judentum als Volk, so fasste er seine Lektüreerinnerungen zusammen, längst „abgestorben“ sei, gehöre der Judenhass wie die „Gespensterfurcht“ und der „Hexenglaube“, mit denen er eng „verflochten“ sei, zu einer „seelischen Dimension“, der mit vernünftiger Argumentation nicht zu begegnen sei. Judenhass kann „nicht widerlegt“ werden. Auch dann nicht, wenn er den wechselnden zeitgeschichtlichen Erfordernissen gemäß „physiologisch“, „rassebiologisch“ oder „moralistisch“ gerechtfertigt wird. Das sind die Rationalisierungen, von denen später die Kritische Theorie gesprochen hat. Weil die Einwanderung der Juden in Europa gleichzeitig mit der Christianisierung und der Abschaffung der älteren Kulte verlaufen sei, der „naiven Abscheu vor den Jesusmördern“ einer beständigen „Skepsis dieser Juden gegen die neue Religion“ begegnet sei, hat sich die christliche Feindseligkeit gegenüber den Juden fortwährend erneuert. In Döblins „Wallenstein“-Roman, der 1920 erschien, wird ein getauftes jüdisches Ehepaar in Prag unter dem Vorwand des Hostienfrevels hingerichtet; für die nichtjüdischen Massen wurde die Hinrichtung wie ein Schauspiel inszeniert und um die Grausamkeit und den Sadismus auszuhalten, erinnerten sich die Zuschauer gegenseitig an die Heilige Familie. Das heißt, die Empathie wurde gezielt auf die christliche Kernfamilie gelenkt, um den Hass auf die Juden ausagieren zu können. In Döblins „Wallenstein“ werden die Gefühlswelten entlang religiöser und physiologisch-rassistischer Gruppenzugehörigkeiten reguliert, so wie es der zeitgenössischen Wahrnehmung des Autors und nicht dem 17. Jahrhundert entsprach, weshalb der Roman Auskunft über die deutsche Transformationsgesellschaft im und nach dem Ersten Weltkrieg gibt. Döblin lehnte Religion und Rassenideologien gleichermaßen ab und verstand nicht, weshalb Juden nicht zur deutschen, tschechoslowakischen, serbischen oder französischen etc. Nation zählen sollten. Gewiss, es gebe, so Döblin, eine „Überlegenheit in Ökonomie und Intellekt“ von Juden, die sich „die Wirtsvölker“ selbst eingehandelt hätten, denn sie sei ein „Druck- und Verdrängungssymptom“, das sich bald erledigt hätte, wenn man „die Juden im Westen reich werden“ ließe, denn dann wären sie bald – strikt metaphorisch verstanden – „ausgerottet“, weil sie ihr Spezifikum verlören. Döblin unterschied zwischen Juden aus dem Westen und Juden aus dem Osten, die weniger akkulturiert und religiöser wären. Das Scheunenviertelpogrom, das ihn schwer beunruhigt hatte, inspirierte seinen Bericht „Reise in Polen“ (1925). Mit dem Zionismus konnte er, anders als Arnold Zweig, aber wie viele seiner jüdischen Zeitgenossen wenig anfangen, ohne deshalb Antizionist zu sein.

Arnold Zweig, wie Döblin im heutigen Polen geboren, war bereits während des Krieges Zionist und führte mit Martin Buber einen bis heute unveröffentlichten Briefwechsel. Die religiöse Kategorie der „Umkehr“, das heißt einer Rückbesinnung auf die jüdischen religiösen Traditionen, war für Zweig bereits in den Jahren 1909 und 1913/14 zentral geworden, als er drei Schauspiele schrieb, die sich explizit mit jüdischen Sujets befassten, der biblischen Geschichte um Abigail und Nabal, Rabbi Israel ben Elieser, dem Begründer des Chassidismus im 18. Jahrhundert, und eine „jüdische Tragödie“ mit dem Titel „Ritualmord in Ungarn“, die Zweig 1918 bearbeitete und mit „Die Sendung Semaels“ neu betitelt hatte. Ritualmordvorwürfe waren in 19. und 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum weit verbreitet. Der Zusammenbruch der NS-Diktatur hat sie entschieden eingedämmt, aber keineswegs beendet. In neuen Kontexten wird die alte Fiktion immer wieder aktuellen Bedürfnissen angepasst und nach 1948 zumeist gegen Israel als „kollektiven Juden“ (Robert S. Wistrich) vorgebracht.

Seit 1918 hat Zweig die Judenfeindschaft im Westen und im Osten Europas konsequent analysiert: „Um uns Juden ist stets Mittelalter hier in Europa“, resümierte er 1920 resigniert in einem Brief an Hermann Struck, den jüdischen Maler und Zeichner, wie er Zionist. Mit ihm hatte Zweig „Das ostjüdische Antlitz“ publiziert, einen Band mit Zeichnungen und Texten, den der Schriftsteller in einem Brief an Martin Buber im Frühjahr 1918 angekündigt hatte. 1927 brachte Zweig seinen Buchessay „Caliban oder Politik und Leidenschaft“ heraus, in dem er den zeitgenössischen Antisemitismus als „Gruppenleidenschaft“ beschrieb, welche den Hass auf die liberale Demokratie im Gepäck hat wie der Holzfäller das Beil. Geschult an der Psychoanalyse Sigmund Freuds, dem die Studie gewidmet war, konstruierte Zweig einen „Zentralitätsaffekt“ und einen „Differenzaffekt“, die beim Antisemitismus in Verbindung mit Nationalismus jeweils wirksam würden. Zweigs „Bilanz der deutschen Judenheit“ von 1933 war nur noch eine erneute Zusammenfassung mit verschiedentlich verschobenen Akzenten. Döblin, in Stettin geboren, und Zweig, in Glogau geboren, waren akkulturierte säkulare Juden, Weltkriegsteilnehmer und erfolgreiche Schriftsteller, die in Polen auf ähnlich oder anders, in jedem Fall sehr verschieden sozialisierte jüdische Milieus getroffen waren, die dem projizierten, das heißt dem Fantasiejuden der Judenfeinde nicht entsprachen.

Wenn sich säkulare akkulturierte Juden von stark religiös geprägten Juden distanzierten, so war dies Religionskritik wie bei Heinrich Heine, eine innerjüdische Debatte, die sich gegen die Homogenitätsvorstellungen von Nichtjuden richtete. Auch wenn Zweig religiöse Strömungen unter Juden in Osteuropa gelegentlich – wie manche Zionisten – stark idealisierte, hat es ein sozial, politisch, wirtschaftlich und in diesem Sinn kulturell einheitliches ‚Ostjudentum‘ nie gegeben. Weder Döblin noch Zweig konnten Hebräisch oder Jiddisch. In Ferdinand Bruckners Schauspiel „Die Rassen“ vom Herbst 1933 wird der jüdische Kommilitone von seinen Mitstudenten als ein solcher Fantasiejude ausstaffiert, durch die Straßen geführt und fotografiert, nicht weil, sondern damit er dem antisemitischen Fantasiebild gleicht. Der rechtsextreme Student entfernt sich in dem Maße von seiner jüdischen Freundin, die er schließlich verlässt, wie er Bücher, Analysen und das Denken meidet, die liberale Demokratie verachtet und das Individuum zugunsten ausschließender, diffuser Gemeinschaftsgefühle eskamotiert. Gerade weil Juden politisch, sozial, ökonomisch etc. ausdifferenziert waren, mussten Judenfeinde einen Fantasiejuden erfinden und ideologisch als ‚homogene Faktizität‘ propagieren. Gerade weil der Bildungserfolg durch die kulturelle Praxis des Lesens, Schreibens, kontroversen Debattierens, Auslegens und Offenhaltens der Diversität im Denken so leicht objektivierbar war, traf manche Juden der Neid, die Missgunst, die Geltungssucht und das Überbietungsbedürfnis ihrer Kommilitonen und Kollegen, die sich das Lesen, Schreiben, Analysieren etc. gern ersparten, um ihre jüdischen Kollegen auf andere Weise aus dem akademischen Berufsleben zu vertreiben. Auch wenn dahinter oft nur Angst vor Kompetenz und Konkurrenz steckte, bot der radikalisierte Rasseantisemitismus eine willkommene Gelegenheit, den missliebigen Kollegen loszuwerden und sich an seine Stelle zu setzen. Bruckners Theaterstück konturierte die Judenfeindschaft im akademischen Milieu der Weimarer Republik. Gabriele Tergit dagegen beschrieb in ihrem Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (1931) die mediale Strukturanalogie, die zwischen Reklamestrategien, dem Hype um einen mittelmäßigen Volkssänger und dem Aufstieg der Nationalsozialisten bestand, die die jüdische Minderheit zunehmend gefährdete.

Es war gerade die Ununterscheidbarkeit der säkularen Juden, in Deutschland und den europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, welche die Antisemiten veranlasste, neue Differenzkriterien zu erfinden und dabei alte Fiktionen neu einzukleiden, um ihnen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die Verknüpfung von Judentum, Kapitalismus und Moderne im 19. Jahrhundert war das entscheidende Moment, das christliche, rechte und linke Judenfeinde miteinander verband. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es kein soziales und soziokulturelles Milieu  mehr, das sich nicht judenfeindlich mobilisieren lassen konnte. Viel gelesene Romane wie „Soll und Haben“ (1855) von Gustav Freytag oder „Der Hungerpastor“ (1864) von Wilhelm Raabe mit ihren Figuren des Veitel Itzig und Moses Freudenstein legen davon Zeugnis ab. Im Deutschen Kaiserreich gab es antisemitische Kampfschriften wie die des Publizisten Wilhelm Marr, dem man die Erfindung des Wortes ‚Antisemitismus‘ zugeschrieben hat und der mit ihnen den ‚Rassekampf‘ eröffnet hatte, entsprechende Bewegungen und schließlich die Antisemitenparteien. Ist Antisemitismus als solcher ein Differenzaffekt, so ließ er sich in vielen ost- und westeuropäischen Staaten mit wenigen Ausnahmen wie Dänemark oder Bulgarien sowohl religiös grundiert als auch rassebiologisch-nationalistisch begründet während des Zweiten Weltkriegs durchsetzen. Denn erstens war der radikalisierte Rasseantisemitismus der Nationalsozialisten in Deutschland zwar ihr ideologisches Kernelement, aber kein Spezifikum der NSDAP und Deutschlands in Europa. Zweitens war durch die Dreyfus-Affäre auch im Frankreich um 1900 ein Klima aggressiver Judenfeindschaft forciert worden. Drittens spielten die „Protokolle der Weisen von Zion“ (1905) aus dem zaristischen Russland in West- und Osteuropa eine entscheidende Rolle für die massenhafte Verbreitung von antijüdischen Verschwörungsfantasien, die für den Nationalsozialismus und für den Kommunismus, das heißt für die Sowjetunion resp. die späteren Ostblockstaaten gleichermaßen zentral werden sollten.

Mit „The war against the West“ hatte im Jahr 1938 bereits der ungarisch-jüdische Autor Aurel Kolnai die antiwestlichen Affekte des Nationalsozialismus und seiner Rasseideologie beschrieben. In seinem Vorwort skizziert Kolnai zentrale Kriterien des „Westens“: Rechtsstaatlichkeit im Sinne der Beschränkung der Herrschaftsansprüche einzelner Personen; säkularisierte Ethik, Politik und Gemeinschaft; das Römische Recht mit den dort fest gelegten Eigentumsverhältnissen; die Relativität irdischer Macht; die Ablehnung des Magischen; die Emanzipation der Frau; individuelle Freiheitsrechte und politische Opposition; Wissenschaft und Forschung; Würde des einzelnen Menschen und sexuelle Selbstbestimmung. Kolnai verwies zuletzt auf Tomas G. Masarykals, einen der exponiertesten Repräsentanten der westlichen Zivilisation im ethischen und politischen Sinn, und das war insofern von außerordentlicher Bedeutung als mit dem Münchner Abkommen vom September 1938 die einzige der noch existierenden demokratischen Neugründungen nach 1918 zerschlagen worden war, die CSR, die vor allem von Masaryk und seiner Westbindung getragen worden war.

Nachdem die Akteure der NS-Diktatur Juden ab 1933 systematisch entrechtet und beraubt hatten, ermöglichte der von ihnen 1939 begonnene Zweite Weltkrieg und die Ausdehnung ihres Machtbereichs die millionenfache Vernichtung der europäischen Juden. Antisemitische Akteure vor Ort haben die nationalsozialistischen Besatzer dabei unterstützt.

2. Nationalsozialisten, Faschisten, Islamisten und arabische Nationalisten

Während in Europa nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Deutschen Kaiserreichs sowie der Habsburger Monarchie mit der Nationalstaatsgründung eine Demokratisierungswelle einsetzte, die mit Ausnahme der CSSR durch autoritäre Restauration und faschistische Transformationen bald zum Stillstand kam, entstand nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs lediglich ein einziger an Westeuropa orientierter moderner Nationalstaat, der laizistisch und republikanisch gewesen ist, die Türkei Atatürks. Das Osmanische Reich, das mit Ausnahme Ägyptens nie europäische Kolonie gewesen ist, stand bis zur Gründung und Unabhängigkeit der neuen Nationalstaaten Irak, Syrien, Libanon etc. unter der Kontrolle, das heißt dem Mandat Frankreichs und Großbritanniens, die ihrerseits vom Völkerbund, einem Vorläufer der UNO kontrolliert wurden und demnach in dieser Region nicht wie anderswo als klassische Kolonialmächte agieren konnten.

In den 1920er Jahren erschien und erstarkte zeitgleich mit der NSDAP in Deutschland im britischen Mandatsgebiet Palästina die judenfeindliche arabische Nationalbewegung des Amin el-Husseini. Er entstammte dem Familienclan der Husseinis, die neben anderen Großgrundbesitzerfamilien wie den Nashashibis Anspruch auf die Gründung eines eigenen muslimisch geprägten arabischen Nationalstaats erhoben. Das haben Klaus Michael Mallmann und Martin Cüppers in ihrer Studie „Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina“ gezeigt, die zuerst in den 1980er Jahren und zuletzt überarbeitet noch einmal 2006/11 erschienen ist. Bekannt konnten diese Zusammenhänge wenigstens grob im deutschsprachigen Raum aber bereits seit Simon Wiesenthals Broschüre „Grossmufti – Grossagent der Achse“ von 1947 sein.

Palästina war die geographische Bezeichnung jener nun zeitweise von den Briten verwalteten ehemals osmanischen Provinz. Sie hieß so, seit die Römer den jüdischen Aufstand des Bar Kochba im Jahr 135 u.Z. niedergeschlagen und die jüdische Diaspora eingeleitet hatten. Es war weder eine ethnische noch eine religiöse Kategorie. Das Christentum war im Entstehen begriffen; der Islam kam ein halbes Jahrtausend später hinzu. Wie im muslimisch dominierten gesamten Nahen Osten einschließlich Nordafrikas lebten auch im damaligen Palästina Juden als religiöse Minderheit. Der europäische Zionismus war in Reaktion auf den Antisemitismus im christlich dominierten Europa als säkulare Bewegung von Theodor Herzl mit dem Ziel einer jüdischen Nationalstaatsgründung seit den 1890er Jahren etabliert worden. Die Balfour-Deklaration von 1917 hatte den Juden eine „nationale Heimstätte“ versprochen. Jetzt erwarben Juden Land von Großgrundbesitzern wie den Husseinis und begannen es zu bebauen, zu kultivieren und die Einwanderung von Juden aus Europa und den USA zu fördern. Das erregte den bis zum Hass gesteigerten fremdenfeindlichen Widerwillen Husseinis. Ihn hatten die Vertreter der britischen Mandatsmacht 1920/21 zum religiösen Oberhaupt der Region bestimmt, das heißt zum Großmufti und zum Vorsitzenden des Wafq, der Stiftung zur Erhaltung der Heiligen Stätten des Islam u.a. auf dem Jerusalemer Tempelberg. Diese Heiligen Stätten wurden von den Juden und Briten als solche anerkannt und respektiert und waren weder in den 1920er Jahren noch später in Gefahr. Auch nicht im Juli 2017, als Metalldetektoren absichern sollten, dass keine Waffen auf den Tempelberg gelangen. Die Bedrohungslüge zählt zu den nachhaltigsten judenfeindlichen Fiktionen, die el-Husseini in die Welt gesetzt hatte. Während der 1920/30er Jahre mobilisierte er die Muslime und Araber des gesamten Nahen Ostens gegen die authochtonen und gegen die eingewanderten Juden. Er übernahm den radikalisierten Rasseantisemitismus und die Verschwörungsfantasien der Nationalsozialisten und der „Protokolle“, initiierte Pogrome gegen Juden u.a. in Hebron, verbündete sich 1933 offiziell mit der von Adolf Hitler angeführten NS-Diktatur und rief 1935/36 zum Arabischen Aufstand auf, der von den Briten niedergeschlagen wurde, woraufhin Husseini zunächst nach Beirut und später nach Bagdad floh. Das Teilungsangebot der Briten im Peel-Plan von 1937 sah jeweils einen arabisch-muslimischen und einen jüdischen Nationalstaat vor und wurde von der palästinensisch-arabischen Nationalbewegung – wie auch das UNO-Angebot 1947/48 – abgelehnt. Ihr Ziel war die Vertreibung der Juden aus dem Mandatsgebiet und das Ziel von Husseini, sie, wo auch immer, zu vernichten: „Tötet die Juden, wo immer ihr sie findet. Das gefällt Gott, der Geschichte und der Religion.“ (zit. nach Wistrich 2004, S. 266) Wie die Nationalsozialisten verbreitete Husseini seine Tötungsaufrufe über das in den 1930er Jahren noch recht junge Medium Radio und nutzte dafür auch den Koran. Matthias Küntzel hat das in seinem Aufsatz „Von Zeesen bis Beirut. Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt“ gezeigt und Jeffrey Herf wies diese Verbindung in seiner Studie „Nazi Propaganda for the Arab World“ von 2009 detailliert nach.

Damit war Husseini neben der Muslimbruderschaft (ab 1927) einer der ersten Vertreter des politischen Islam im 20. Jahrhundert. Er sah nicht nur ideologische Parallelen zwischen Islam und Nationalsozialismus, sondern konnte davon später auch Adolf Hitler und Heinrich Himmler überzeugen. In Bagdad verbündete sich Husseini mit Rashid Ali al-Gailani, dem Führer der irakischen Faschisten, der mit irakischen Offizieren im Frühsommer 1941 einen Staatsstreich anzettelte, der scheiterte, aber am jüdischen Wochenfest, dem christlichen Pfingsten, ein mörderisches Pogrom an den Juden von Bagdad zur Folge hatte. Husseini und Gailani flohen, noch bevor das Pogrom begann, über Zwischenstationen ins nationalsozialistische Berlin. Die deutsche Wehrmacht und SS hatte bereits unabhängig von Husseini muslimische Kriegsgefangene in ihre Reihen integriert, die sich im Kampf gegen die Rote Armee bewähren sollten. Auf den Ärmeln ihrer Uniformen wiesen Halbmond, Moschee und gekreuzte Säbel ihre Religionszugehörigkeit aus. Die muslimischen Krimtataren hatten sich von Anfang an auf die Seite der deutschen Wehrmacht gestellt. Ihre Judenfeindschaft war nicht allein religiös oder rassebiologisch, sondern auch politisch durch die angeblich federführende Rolle von Juden bei der Durchsetzung des „Bolschewismus“ begründet. Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien ließen sich neben den Ustascha-Kämpfern, kroatischen Faschisten, auch etliche Bosniaken für den Kampf Hitlerdeutschlands rekrutieren. Der jugoslawische Bürgerkrieg der 1990er Jahre mit dem grausamen Genozid an den bosnischen Muslimen hatte viel mit der unaufgearbeitet gebliebenen Geschichte im Jugoslawien Titos zu tun und eignet sich allein schon deshalb nicht für einen Vergleich mit der Shoah. Auf dem Balkan machte sich el-Husseini ab 1943 zum „Fürsprecher“ der Muslime. Die bosnischen SS-Truppen erhielten den Namen „Handschar“, nach dem arabischen Krummsäbel. Sie wurden gegen die Partisanen Titos eingesetzt. Deshalb wurde der Mufti nach 1945 zunächst als Kriegsverbrecher inhaftiert, floh jedoch nach Ägypten und starb 1974 in Beirut, ohne jemals zur Verantwortung gezogen worden zu sein, wie viele deutsche Kriegsverbrecher auch.

Seit dem Beginn des babylonischen Exils im Jahr 597 v.u.Z. und der Zerstörung des ersten Tempels im Jahr 586 v.u.Z. lebte eine jüdische Gemeinde in Bagdad, die zu den ältesten in der Region zählte. Sherko Fatah, ein deutsch-irakischer Autor, hat die Fakten des faschistischen Putschs im Irak 1941, den Pogrom gegen die Juden, die enge Zusammenarbeit der irakischen Faschisten und el-Husseinis mit den Nationalsozialisten resp. der muslimischen SS-Einheiten im Zweiten Weltkrieg literarisch in seinem Roman „Ein weißes Land“ von 2011 verarbeitet. Das Motto des Romans ist Goethes „West-Östlichem Divan“ von 1819 entlehnt und der dort zitierte „Weltenspiegel“ Alexanders des Großen verweist auf die Spiegelbildlichkeit des Geschehens in Nahost und in Europa. Die Struktur der sechs, zwei Mal gleich übertitelten Kapitel folgt diesem Prinzip. Es beginnt und endet mit dem „einsamen Deutschen“. Dazwischen sind in wechselnder Reihenfolge die „schönen Häuser“ und der „geheime Plan“ eingefügt. Die Figur des Anwar, eines jugendlichen Kleinkriminellen, der sich wechselnden Dienstgebern anschließt, von dem Chef einer Diebesbande über faschistische Offiziere bis hin zum Mufti el-Husseini, der ihn schließlich zur Teilnahme am Krieg in einer SS-Einheit nötigt, ist Juden gegenüber genauso indifferent wie seinem Herkunftsmilieu. Die jüdische Familie des Salomon Golan wohnt in den ‚schönen Häusern‘ Bagdads, kleidet und orientiert sich in ihrer Lebensweise westlich, in diesem Fall europäisch. Dies und der „jüdische Akzent“ unterscheiden den Kaufmann Salomon Golan, der nach alter osmanischer Sitte seinen Kopf mit einem roten Fez bedeckt, von Anwars Vater, dem Ziegeleiarbeiter, der einen Turban trägt. Symbolisch bergen Ezra und Anwar, die beiden Söhne, einen toten Geschäftsfreund Salomon Golans, doch Anwar, der anschließend in eine Gefängniszelle gesperrt wird und dort den Mörder kennenlernt, verrät ihn noch nicht, sondern schließt sich ihm vorerst an. Die erotische Anziehungskraft, die Salomons Tochter Mirjam auf Anwar ausübt, verschmilzt mit seiner Sehnsucht nach den schönen Häusern. Beides wird ihm durch Salomon verwehrt. Anwar, der in Bagdad sowohl einer Diebesbande als auch den faschistischen Offizieren dient, spielt beide Gruppen beim Pogrom auf Kosten der Golans in deren Haus gegeneinander aus. Er folgt wie immer in seinem bislang kurzen Leben dem scheinbar Stärkeren, in diesem Fall dem flüchtenden Mufti nach Berlin. Dort lebt er als Diener Husseinis  in den ‚schönen Häusern‘, um anschließend an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands teilzunehmen und dabei von einer Partisanin im Gesicht verletzt zu werden und für immer entstellt zu bleiben. In Dresden wird er auf der Straße als Jude beschimpft und verwechselt die Tabakmoschee, die orientalistische Attrappe einer Zigarettenfabrik, mit einer Heiligen Stätte. Nach Bagdad zurückgekehrt, ist er erneut den alten faschistischen, nunmehr opportun den neuen Machtverhältnissen angepassten Militärs zu Diensten und soll in ihrem Auftrag die Verbindung zu seinen alten jüdischen Freunden aufnehmen, die jedoch im Rahmen der Aktion Ezra und Nehemia den Irak Richtung Israel verlassen. Die Allegorie vom entstellten Gesicht, vom buchstäblichen Gesichtsverlust des Kleinkriminellen und Opportunisten Anwar ist wenigstens so vielschichtig wie die zeitgenössischen hasserfüllten, teils verbrecherischen, teils ideologischen Bündnisse und Grabenkämpfe gegen und auf Kosten der jüdischen Minderheit im Orient und im Okzident. Zwar kommt die Shoah in „Ein weißes Land“ nur vermittelt über die Berichte der Flüchtlinge in der englischen Botschaft in Bagdad zur Sprache, doch ähnelt die Struktur der Beziehung zwischen Anwar und seinen jüdischen Freunden den Gefühlsstrukturen, die Alfred Döblin und Arnold Zweig in ihren Notizen, Beschreibungen und Analysen der Judenfeindschaft und des soziokulturellen Klimas, die sie forcierten, skizziert hatten: Neid, Furcht, Angst, Obsession, Gefühle der Demütigung, Unterlegenheit, Schwäche, Hass etc. Bei Fatah ist die begüterte Kaufmannsfamilie von Salomon Golan, neben der es nur noch den jüdischen Intellektuellen Ephraim gibt, allerdings repräsentativ für die jüdische Minderheit in Bagdad. Die Verflechtung von Okzident und Orient sowie der politisch wie kulturell antisemitische, antibritische und antiwestliche Affekt der Nationalsozialisten, arabischen Nationalisten und Islamisten pointieren eine zentrale Gemeinsamkeit dieser Ideologien.

Während die jüdischen Vertreter den UN-Teilungsplan von 1947 annahmen und im Mai 1948 den Staat Israel gründeten, wiesen die Vertreter der palästinensisch-arabischen Nationalbewegung das Angebot zur Staatsgründung erneut zurück. Daraufhin begannen die arabischen Staaten einen Krieg gegen Israel, den der junge Staat gewann und in dessen Verlauf die jordanische Armee das Westjordanland und Ostjerusalem bis 1967 besetzte. Es kam zur Flucht und zur Vertreibung von Palästinensern aus Israel und zu Flucht und Vertreibung von Juden aus den arabischen Staaten des Nahen Ostens nach Israel. Anders als andere Flüchtlinge haben sich die palästinensischen Flüchtlinge nicht in die Aufnahmeländer des Nahen Ostens integriert und ihren Flüchtlingsstatus über Jahrzehnte beibehalten. Ihr Leid und ihre Perspektivlosigkeit sind zuerst diesem Umstand geschuldet. Das britische Mandat war 1948 beendet worden. Als internationaler Partner Israels engagierte sich fortan die USA. Deshalb wird Israel als liberale Demokratie von linker, rechter und arabischer Seite oft mit dem Vorwurf diffamiert, ein „Brückenkopf“ oder „Vorposten“ des „US-Imperialismus“ zu sein.

3. Der Antizionismus und Israelhass der UdSSR, der DDR und von Teilen der Neuen Linken in der Bundesrepublik

Stalins judenfeindliche und antizionistische Haltung kam nach der Zerschlagung der NS-Diktatur in Deutschland zu Beginn des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation, die ihr fortan als Vorwand diente, offen in seiner Propaganda und Politik zum Ausbruch. Eines ihrer ersten Opfer war im Januar 1948 der jüdische Schauspieler und Regisseur Solomon Michoels. Er wurde als Vorsitzender des Jüdischen Antifaschistischen Komitees unter dem Vorwand des Kosmopolitismus und der Spionage auf Befehl Stalins ermordet. Nun sahen sich Juden vor wie nach der Gründung Israels dem Vorwurf des Nationalismus, später auch des Rassismus, Faschismus, Imperialismus und Kolonialismus ausgesetzt, egal, ob sie Zionisten waren oder nicht. In der ehemaligen Sowjetunion galt Jüdischsein als eigenständige Nationalität; folglich konnte auch jede Beschäftigung mit jüdischer Kultur zum Vorwurf des Nationalismus führen. Doch Stalins Judenhass speiste sich aus verschiedenen Quellen, teils aus der alten religiösen Judenfeindschaft des zaristischen Russland, die durch die „Protokolle“ von 1905 in ihren verschwörungsideologischen Aspekten eine enorme Radikalisierung erfuhr, teils aus dem marxistisch inspirierten Antikapitalismus und der Antibürgerlichkeit, teils aus der Konkurrenz mit jüdischen Funktionären, teils aus der Faschismusdefinition der Komintern etc. Die Westbindung Israels hat diesem Hass lediglich eine Facette hinzugefügt, die für jüdische Kommunisten wie Rudolf Slansky in der CSSR tödlich gewesen ist. Stalins Judenhass war mörderisch, auch wenn es anders als im Judenhass der Nationalsozialisten keine rassebiologische Begründung und kein Vernichtungsprogramm wie die „Endlösung der Judenfrage“ gegeben hat, die in den 1940er Jahren im Zuge des Zweiten Weltkriegs auf die von der deutschen Wehrmacht und der SS okkupierten Staaten Europas ausgedehnt worden war.

Aufgrund der NS-Vergangenheit der 1949 gegründeten DDR kam es dort nicht zu vergleichbar mörderischen Schauprozessen. Auch wählten die führenden Funktionäre der SED-Diktatur Nichtjuden wie Paul Merker, die sich für Wiedergutmachung bzw. Entschädigung der verfolgten und beraubten Juden einsetzten, zum Ziel strafrechtlicher Verfolgung. 1953 flüchteten viele Juden und Vorsitzende jüdischer Gemeinden vor der antizionistischen Verfolgung der stalinistisch geprägten SED-Führung aus der DDR.

Arnold Zweig war 1948 aus dem Exil in Palästina zurückgekehrt und hatte sich in der SBZ/DDR niedergelassen. Von den stalinistischen Verfolgungen blieb er verschont, weil er kein offizielles Amt innehatte, keine Karriere als SED-Funktionär anstrebte und die offizielle SED-Kulturpolitik versuchte, ihn als Schaufensterfigur zu missbrauchen. Als 1956/57 die offizielle Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank in der DDR begann, schrieb er im ostdeutschen CDU-Zentralorgan „Neue Zeit“ zwei Rezensionen und hielt 1959 anlässlich der Premiere des propagandistischen Dokumentarfilms „Ein Tagebuch für Anne Frank“ eine Rede, die der Bundesrepublik die gesamte Verantwortung für die Vernichtung der europäischen Juden übertrug. Er verglich sie mit einem stehenden Gewässer, das ihn an den Teich in Auschwitz erinnere, in den man die Asche der ermordeten Juden geworfen hatte. Die DDR dagegen sei wie die bewegliche und helle Panke, ein kleiner Fluss im Ostberliner Stadtbezirk Pankow. Zweig hat sich offiziell selten zu aktuellen tagespolitischen Fragen geäußert. Er war kein Kommunist, aber Sozialist, der in den 1920er Jahren auch den Kapitalismus als ungezügelten Marktradikalismus kritisiert hatte. Als der Staat Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 erneut mit antizionistischen Anfeindungen seitens der offiziellen SED-Propaganda überzogen wurde, stellten Zweig und seine Frau Beatrice klar, das sich das junge Israel verteidigen muss, wenn es angegriffen wird. 1968 starb Arnold Zweig in Ostberlin. Alfred Döblin hatte die Werbeersuchen der KPD/SED abgelehnt und starb nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen und französischen Exil 1957 in Emmendingen in der Bundesrepublik.

1957 floh der jüdische Kommunist und Spanienkämpfer Alfred Kantorowicz aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland – nicht vor direkten judenfeindlichen Angriffen, aber vor der geistlos-technokratischen SED-Führung, der stalinistischen Funktionärsgruppe um Walter Ulbricht. Kantorowicz war zehn Jahre zuvor aus dem Exil in New York nach Berlin zurückgekehrt. Noch im gleichen Jahr erschien die erste Ausgabe seiner kulturpolitischen Zeitschrift „Ost und West“, die 1949 auf Betreiben der SED-Führung eingestellt werden musste. Ebenso sein „Verlag Alfred Kantorowicz“. Als Professor für Germanistik an der Humboldt Universität zu Berlin begründete er die Exilforschung in der ostdeutschen Literaturwissenschaft und war auch an der Begründung des Heinrich Mann Archivs der ostdeutschen Akademie der Künste beteiligt. Kantorowicz haben die SED-Funktionäre mit Hilfe parteitreuer Studierender regelrecht aus der DDR hinausgeekelt. Das Ministerium für Staatssicherheit eröffnete nach seiner Flucht einen so genannten „Operativen Vorgang ,Renegat’“ gegen ihn und schloss die Akte endgültig erst nach seinem Tod in Hamburg im Jahr 1979. In Zuge des „Operativen Vorgangs entwickelten die Mitarbeiter der Staatssicherheit so genannte „Maßnahmepläne“ zur „Diffamierung“ und sandten Kantorowicz antisemitische Drohbriefe, die ihm suggerieren sollten, er würde in der Bundesrepublik von Antikommunisten („Denken Sie an Trotzki“) und Altnazis („Weltjudentum“) verfolgt. Es gab Denunziationsbriefe, die ihn der Stasi-Mitarbeit bezichtigten. Als ehemaliger Kommunist fasste Kantorowicz im Westen nie wieder Fuß. Auch Ernst Bloch und Hans Mayer, die beide an der Leipziger Karl Marx Universität lehrten, wurden in „operativen Vorgängen“ ‚bearbeitet‘, wie es im Jargon der DDR-Staatssicherheit hieß. Sie hatten das Ziel, die Betroffenen psychisch zu zerstören. Anfang der 1960er Jahre verließen beide die DDR.

Den Liedermacher Wolf Biermann hat man 1976 ausgebürgert. Die Schriftsteller Jurek Becker und Thomas Brasch folgten ihm. Brasch war, nachdem er 1968 mit anderen jungen Erwachsenen gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die CSSR protestiert hatte, zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Rainer Schottländer, der ebenfalls opponiert hatte, wurde als Republikflüchtling inhaftiert. Wer in der DDR opponierte, den schützte auch die direkte oder familiäre Zugehörigkeit zu „Opfern des Faschismus“ nicht vor staatlicher Verfolgung. Nicht selten spielten dabei alte juden- und intellektuellenfeindliche Ressentiments eine Rolle.

Dazu gesellte sich die offizielle antizionistische Propaganda in den staatlich kontrollierten Medien, Universitäten, Schulen, Forschungseinrichtungen und Betrieben, die im und nach dem Libanonkrieg 1982 in ihrem Hass auf Israel kaum noch zu überbieten war. Bereits 1965 hatte die DDR-Führung offizielle Beziehungen zum damaligen Ägypten Nassers aufgenommen, später zu weiteren arabischen Staaten, die aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgegangen waren, im Lauf der 1930/40er Jahre ihre Unabhängigkeit erlangt hatten und für die DDR als „Dritte Welt“ figurierten. Es handelte sich um judenfeindliche Diktaturen, die inzwischen im Zerfall begriffen sind.

Zur 1964 gegründeten PLO, der palästinensischen ‚Befreiungs’-Organisation unterhielt die DDR zunächst informelle und seit 1973 über ein Büro in Ostberlin offizielle Beziehungen. Jassir Arafat, der die PLO von 1969 bis zu seinem Tod im Jahr 2004 führte, war säkularer Eleve el-Husseinis und seit 1973 mehrfach offizieller Staatsgast der DDR-Führung. Um sich den mörderischen Charakter dieser angeblichen Widerstands- und  Befreiungsorganisation, wie sie in der DDR hieß und in weiten Teilen der Partei „DIE LINKE“ bis heute heißt, vor Augen zu führen, hilft es zu fragen, was bis 1967 eigentlich befreit und gegen wen Widerstand geleistet werden sollte. Weder Briten, Juden, Israelis noch die USA  hatten die Palästinenser zwischen 1937 und 1967 daran gehindert, einen Nationalstaat zu gründen und aufzubauen. Der Sechstagekrieg von 1967 war ein Präventivschlag gegen die an den Grenzen Israels aufmarschierten Armeen der arabischen Staaten, die das „zionistische Gebilde“ (Arafat 1974 vor der UNO) ebenso gern von der Landkarte getilgt sehen wollten wie die PLO und ihr militärischer Arm Al-Fatah. 1987 erhielt diese Terrororganisation Konkurrenz durch die Hamas als Vertreterin des politischen Islam. In der DDR galten Palästinenser als „Opfer imperialistischer Politik“. Propagandaphrasen wie diese finden sich in Angelika Timms Buch „Hammer, Zirkel, Davidstern“. Der gemeinsame „Kampf“ gegen Israel war einer gegen „Imperialismus und Zionismus“. In beider Augen, der PLO und der DDR-Führung, waren Israel und die USA „faschistisch“. Diese Form der Täter-Opfer-Umkehr und der Schuldabwehr hat den alten Antisemitismus der Nationalsozialisten und el-Husseinis erstens unwidersprochen gelassen und konserviert und zweitens eine neue Form der Judenfeindschaft erzeugt. Das Bündnis zwischen der PLO und ihrem bewaffneten Arm, der Fatah, und einigen Nachkommen der während der NS-Diktatur sozialisierten Deutschen blieb nicht auf die DDR beschränkt.

1969, am 9. November, wurde im Jüdischen Gemeindehaus in Westberlin eine Bombe deponiert, die glücklicherweise niemanden verletzte. Es folgten der Brandanschlag auf das Altenheim der Jüdischen Gemeinde in München am 13. Februar 1970 und schließlich der Mordanschlag auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972. Sie gingen der PLO-DDR-Partnerschaft sogar noch voraus. Die von Rainer Kunzelmann 1969 in Westberlin gegründete linksextremistische Terrorgruppe Tupamaros, die RAF und Teile der westdeutschen Neuen Linken kooperierten und sympathisierten mit der PLO/Fatah und vollzogen auf ihre Weise im Kampf gegen den „US-Imperialismus“ und gegen den „Zionismus“ die gleiche Täter-Opfer-Umkehr und Schuldabwehr wie die ostdeutsche SED. Das haben die Studien u.a. von Martin Kloke und Wolfgang Kraushaar belegt. Die Propagandaphrasen vom Kampf gegen Imperialismus, Zionismus, Faschismus, Rassismus und Kolonialismus wurde nach dem Zusammenbruch der Diktaturen im Ostblock keineswegs obsolet. Erstens waren sie nicht an den Ostblock gebunden; zweitens hatten sie sich im Gedanken- und Gefühlshaushalt der Neuen Linken fest verankert.

1978 erschien Edward Saids Buch „Orientalismus“. Es war die akademische Variante des Kampfs gegen US-Imperialismus und Zionismus. Trotz vieler Faktenwidrigkeiten und Verzerrungen ist Saids Studie noch immer sehr beliebt an vielen Universitäten. Sie richtete sich gegen Frankreich als Kolonialmacht in Nordafrika, England als Kolonialmacht in Ägypten und die USA als Einflussfaktor im arabisch-islamischen Raum. Das Osmanische Reich, das zaristische Russland und die UdSSR bleiben trotz ihres Status als hegemoniale und imperiale Großmächte unberücksichtigt. Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah finden nicht statt. Ebenso wenig die Unterstützung des Djihad gegen Frankreich und Großbritannien durch das Deutsche Kaiserreich, die Zusammenarbeit von Nationalsozialisten, Faschisten, arabischen Nationalisten und Islamisten. Die traditionell engen Beziehungen zwischen der DDR, Teilen der Neuen Linken und der palästinensisch-arabischen Nationalbewegung werden gleichfalls mit Schweigen bedacht. Gerade sie können Auskunft darüber geben, wie weit die Orientalismus-These Saids tatsächlich trägt, scheint sie doch vor allem antiwestlich inspiriert zu sein. „Okzidentalismus“ heißt die komplementäre Studie von Avishai Margalit und Ian Buruma aus dem Jahr 2004, die das antiwestliche Ressentiment als Produkt einer ost-westlichen Verflechtungsgeschichte beschreibt und analysiert. Kulturessentialismus und Technokratie führen hier zu Überlegenheitsfantasien, wie sie für die modernen Ideologien als Pseudoreligionen und für den Islamismus charakteristisch sind.

1985 kam es in den Frankfurter Kammerspielen zu einem Skandal, weil das Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (1974) von Rainer Werner Fassbinder aufgeführt werden sollte. Es enthielt die Figur „Der reiche Jude“, ein klassisches antisemitisches Stereotyp. Verlangte schon die Inszenierung und schauspielerische Darstellung der Shylock-Figur Shakespeares nach 1945 mit dem Wissen um die Shoah höchstes künstlerisches Geschick, musste eine am Beginn der 1970er Jahre entworfene Figur und ihre Darstellung auf der Bühne die historische wie die aktuelle Judenfeindschaft reflektieren, wollte eine solche Aufführung nicht missraten. Dass diese Überlegungen ausgeblieben waren, zeigte die Diskussion um das „Ende der Schonzeit“ (Henryk M. Broder). Das Stück basierte auf dem Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ (1973) von Gerhard Zwerenz. Zwar markieren die 1980er Jahre einen unübersehbaren Schub in der Verbreitung und Etablierung einer deutschen Erinnerungskultur an die Shoah, doch wurde ihr mit der Friedenspreisrede Martin Walsers 1998 ein empfindlicher Dämpfer versetzt.

Dass sich die moderne Judenfeindschaft mit den Nationalsozialisten nicht erledigt haben würde, musste jedem klar sein, der dieses Thema auch nur gestreift hatte. Denn so wenig die Nationalsozialisten auch nur den Rasseantisemitismus erfunden hatten, so wenig markierte dieser den Anfang oder das Ende von Hass und Ressentiments gegen Juden. So wie es vor, neben und nach ihm eine Judenfeindschaft auf der linken Seite des ideologischen Spektrums gab und gibt, so gab und gibt es den Judenhass auch in islamisch geprägten Milieus. Seit 1979 ist der schiitisch geprägte Iran ein Gottesstaat und droht Israel und den USA regelmäßig mit ihrer Vernichtung. Matthias Küntzels Buch „Djihad und Judenhass“ führt dies pointiert vor Augen.

Das 21. Jahrhundert erlebte an seinem Beginn das Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen Israel und der PLO sowie die Zweite Intifada. Sie führte zum Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge durch einen palästinensischen und einen marokkanischen Jugendlichen im Jahr 2000. Ihr Anlass soll die angebliche Tötung des Jungen Mohammed Al-Dura durch israelische Soldaten gewesen sein, eine weitere Beschuldigung nach dem Muster der Ritualmordlegende. Inzwischen haben u.a. Esther Shapiras und Georg Haffners Fernsehdokumentationen diese Tötung als Propagandalüge entlarvt. Selbst nach der Räumung des Gaza-Streifens durch Israel im Jahr 2004 bekämpft und bedroht die Hamas den Staat Israel. Die „Land-gegen-Frieden“-Politik der 1990er Jahre hat nicht funktioniert. Günter Grass und Jakob Augsteins judenfeindliche Entgleisungen mobilisierten die Mitte der Gesellschaft. Es gibt in Deutschland längst keine Partei mehr, die nicht durch israelfeindliche Äußerungen wenigstens eines ihrer Vertreter in den Medien aufgefallen wäre.

Fazit

Die ebenso grotesken wie gefährlichen Al-Kuds-Aufmärsche, die „Free Gaza“ und „Free Palestine“-Demonstrationen während des Verteidigungskriegs Israels 2014 erfordern neue Forschungsarbeiten, die das gespenstische Junktim aus rechten, linken, europäischen, islamischen und arabischen Judenfeinden erfassen und analysieren. Was haben diese sonst unvereinbaren Ideologien und religiösen Fundamentalismen gemeinsam?

1. Als säkulare Ideologien haben sie die judenfeindlichen Elemente von Christentum und Islam lediglich neuen Anforderungen angepasst, weshalb sie neben ihrer antireligiösen Haltung immer auch den alten religiös fundierten, kulturhistorisch anverwandelten Judenhass transportieren, während der politische Islam ihn als religiösen direkt zum Ausdruck bringt.

2. Sie lehnen die liberale Demokratie ab, die ihre Anhänger als schwach oder als bloßen „Verblendungszusammenhang“ verachten.

3. Sie sind antiwestlich im Sinne Kolnais und des Okzidentalismus, das heißt, sie nutzen die modernen Technologien, um mit ihnen die Moderne als gesellschaftlichen Wandel zu bekämpfen.

4. Sie sind Gegner der offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers.

5. Sie sind autoritär und konformistisch, daher üben Macht, Stärke und Sieger eine ungeheure Anziehungskraft auf ihre Anhänger aus.

6. Sie sind kollektivistisch, das heißt, sie fassen die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe als jeweils immer nur von Unter- oder Überordnung geprägte auf; daher kommt der Hang zu Verschwörungsfantasien.

7. Sie sind moralistisch, das heißt, sie verurteilen anstatt zu beurteilen.

8. Ihr Gedanken- und Gefühlshaushalt ist durch Stereotypien geprägt, die es ihren Anhängern erlauben, automatisiert wahrzunehmen und zu reagieren.

9. Gewalt, ob physisch oder psychisch, ist als legitimes Mittel zur Durchsetzung von Zielen anerkannt, weshalb sie ohne manipulative Propaganda nicht überlebensfähig sind, da sie ihre Anhänger ständig mobilisieren müssen.

10. Judenfeindschaft ist als ‚Rassenkampf‘, ‚Klassenkampf‘ oder ‚Religionskrieg‘ unerlässlicher Bestandteil ihrer Überzeugungen und ihres Glaubens, da ihre Anhänger nicht kämpfen, um zu leben, sondern leben, um zu kämpfen; daher der hohe Stellenwert des Opfers unter ihren Anhängern.

Aus all diesen Gründen ist Judenfeindschaft schwer vergleichbar. Adorno hat sie zu Recht eine pathische, das heißt ‚wahnhafte‘ Projektion genannt, da Judenfeinde weder sich noch andere wahrnehmen und fast wie ein Fakir bei ihrem Hass auf Juden keinen Schmerz verspüren. So viel vorläufig zu dem Thema…

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist im Zusammenhang mit Vorarbeiten der Verfasserin zu einem umfassenderen Habilitations- und Buchprojekt über „Liebe, Hass und Empathie – Judenfeindschaft und Orientalismus im Vergleich“ entstanden.