Brief-Gefühle

Der Sammelband „Briefkultur und Affektästhetik“ skizziert emotionswissenschaftliche Perspektiven für die epistolographische Forschung

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat die kultur- und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem kommunikativen Phänomen ‚Brief‘ vielversprechende neue Bahnen eingeschlagen. Ob Briefe nun in ihrer spezifischen Materialität oder in ihrem Ereignischarakter analysiert werden, ob es um die Inszenierung von Subjektivität oder um die diskursive Modellierung von Liebeskonzepten geht, der innovative Impuls besteht darin, den produktiven ästhetischen Eigenwert von Briefen wahrzunehmen. Nutzte die traditionelle Forschung sie vorwiegend als Quellen oder Dokumente, so wird zunehmend klar, dass Briefe nicht so sehr eine biographische oder historische Realität widerspiegeln, sondern diese durch besondere textuelle Strategien erst diskursiv erzeugen.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Berührungsversuche zwischen der neueren Briefforschung und dem florierenden kulturwissenschaftlichen Feld der Emotionsforschung bislang überschaubar geblieben sind. Dabei liegt es auf der Hand, dass (Privat-) Briefe, indem sie Gefühle ausdrücken und hervorrufen, auf paradigmatische Weise Kulturtechniken der Emotionalisierung praktizieren. Einen wichtigen Brückenschlag unternahm das Münsteraner Graduiertenkolleg „Literarische Form“, als es 2015 eine transdisziplinäre Nachwuchstagung unter dem prägnanten Titel „Briefe als Träger und Trigger von Affekten“ durchführte. Fasste man die Veranstaltung als den Versuch auf, das Medium Brief im Spannungsfeld von literarischer Form und Affektpoetik zu analysieren, so konnte man auf die Ergebnisse mehr als gespannt sein.

Dem nun von den Organisatorinnen Katharina Fürholzer und Yulia Mevissen publizierten Tagungsband gelingt zweierlei. Zum einen wird der emotionswissenschaftliche Ansatz als vielversprechende Perspektive für die epistolographische Forschung skizziert. Zum anderen zeichnen sich die Beiträge zumeist durch profunde Sachkenntnis aus; teilweise berichten die Autor/innen aus digitalen Editions- oder Erschließungsprojekten heraus über spezielle Briefkorpora. Darüber kommt allerdings die Verbindung des emotionstheoretischen mit dem briefgeschichtlichen Aspekt zu kurz. Auch wenn den Beiträger/innen bewusst kein methodologisches oder terminologisches Korsett angelegt werden sollte, hätten die Herausgeberinnen doch das von ihnen vorgeschlagene Konzept einer „Affektästhetik“ stärker und deutlicher machen können.

Nicht zufällig diffundiert das Kompositum in zwei Richtungen: Während einerseits an die seit der Antike gerade für das Briefschreiben wirkungsmächtige Tradition der Affektrhetorik angeknüpft wird, zielt der Begriff ‚Ästhetik‘ andererseits auf Innovationen des 18. Jahrhunderts, auf – unter dem Label ‚Empfindsamkeit‘ bekannte – psychologisch differenzierte, das Individuum in den Mittelpunkt rückende Formen des Emotionalen. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass gerade im Brief (wie auf ähnliche Weise in der öffentlichen Rede) auch im und nach dem 18. Jahrhundert rhetorische Muster, Regeln und Normen wirksam blieben. Auf andere und vielleicht stärkere Weise als im literarischen Schreiben lässt sich hier von einem Transformationsprozess rhetorischer Traditionen sprechen. Er ließe sich im historischen Rahmen emotionskulturellen Wissens durchaus als ‚Affektästhetik‘ (oder umgekehrt: als Emotionsrhetorik) bezeichnen. Diese Blickrichtung geht verloren, wenn – wie es in den versammelten Aufsätzen häufig der Fall ist – Affekt nicht im rhetorischen Sinne, sondern mit Monika Schwarz-Friesel in der heute umgangssprachlich gebräuchlichen Bedeutung verwendet wird: als heftiges, körperlich-unbewusstes, vorsprachliches Gefühl (für Briefe eine eher unangemessene Kategorie).

Die Aufmerksamkeit gegenüber historischen Spannungsfeldern zwischen Affekt und Emotion, zwischen Rhetorik und Ästhetik als gemeinsamer Nenner hätte der – erfreulichen – methodologischen und thematischen Vielfalt des Bands keinen Abbruch getan. So präsentiert bereits Christoph Neubert in der Beschäftigung mit Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Michel Foucault ein breites Spektrum an Positionen, um zu demonstrieren, wie das Postwesen der Moderne aus machtpolitischem Kalkül die Produktion von Diskursen zugleich hervorbringt und effektiv kontrolliert – eine inzwischen fast kanonische These, die durch den Blick auf die gegenwärtigen elektronischen Kommunikationsmedien überzeugend unterstützt wird, sich aber einer eher globalen Argumentation verdankt, wenn neben empfindsame Privatbriefe denunziatorische Lettres de cachet gestellt und in einem Atemzug so unterschiedliche Phänomene wie Briefroman, Tagebuch, Autobiographie und Bildungsroman genannt werden.

Demgegenüber liefern die sonstigen Beiträge mit großer Fachkenntnis epistolographische Fallstudien. Die Spannbreite reicht von Untertanensuppliken (Bittbriefen) am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. um 1600 (Pia Fiedler) über einen Brief Annette von Droste-Hülshoffs an ihren Freund Levin Schücking aus dem Jahr 1842 (Eleonore de Felip) bis zur aktuellen Mail Art (Lucia Schaub). Emotionswissenschaftliche Fragestellungen werden dabei in unterschiedlichem Maß integriert und bilden eine sinnvolle Bereicherung des interpretatorischen Vorgehens, auch wenn das Vorgehen mitunter detailreich biographisch ist oder unreflektiert von einem ‚zugrundeliegenden‘ rein individuellen, uncodierten Gefühl ausgegangen wird, das durch Sprache transformiert werde.

Anregend für die Briefforschung wird es – unabhängig davon, wie weit die Untersuchungen konkret reichen – immer dort, wo epistolographische Einzelaspekte in den Mittelpunkt rücken. So analysiert Franziska Horn die Bedeutung, die Zeitpunkt und Umstände des Versands und Empfangs in der Briefkommunikation zwischen Friedrich Carl von Savigny und Johann Heinrich Christian Bang besitzen, während Markus Ender die Strategie des Nicht-Antwortens bei Ludwig von Ficker in den Blick nimmt und Britta Wedam sich der patriotisch-publizistischen Umfunktionalisierung privater Feldpostbriefe jüdischer Soldaten aus dem 1. Weltkrieg widmet. Friederike Middelhoff untersucht fiktionale Tierbriefe als Sonderfall autozoographischen Schreibens im Spannungsfeld von biologischem Wissen, Empathie und Anthropomorphisierung. Im Hinblick auf das brisante Thema denunziatorischer Briefe in der DDR liefert schließlich Anita Krätzner-Ebert eine ebenso dichte wie souveräne Beschreibung.

Der Band beweist, wie sehr gerade im Bereich der Briefforschung präzise Materialkenntnis immer wieder zu innovativen Fragestellungen führt. Die emotionsästhetische Perspektive kann dabei die Analyse von Briefen bereichern. Wie sie aber zum – schwierigen – Versuch beitragen kann, sich einer Geschichte der rhetorisch-ästhetischen Briefkultur in der Moderne zu nähern, ist eine Frage, die hier nur skizziert wurde.

Titelbild

Katharina Fürholzer / Yulia Mevissen: Briefkultur und Affektästhetik.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
298 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366575

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