Niemals zu Ende kommen…

Zwei Monografien porträtieren die Frühromantiker als Fragmentaristen und Projektemacher

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der unzweifelhaftesten Qualitäten frühromantischer Prosa ist das Unfertige, Umrisshafte, Nichtfestlegbare. Man könnte diese Eigenschaft der Texte leichthin auch auf ihre Produzenten projizieren. Zwei im Vorgehen unterschiedliche, in ihren Fragestellungen und dem zugrunde liegenden Textkorpus einander berührende Studien befassen sich einmal mehr mit den Rätseln, die die aphoristische Kurzprosa der Brüder Schlegel und Novalis’ ihren Lesern bis heute aufgibt. Beide Bände konfrontieren die zentrierten Fragmentsammlungen mit den vermeintlich wichtigsten Kontexten.

Johannes Weiß erschließt insgesamt fünf um 1800 publizierte Sammlungen im Spannungsfeld zwischen der von Friedrich Schlegel selbst aufgerufenen Traditionslinie des (Geschlossenheit in sich versprechenden) Aphorismus und der im selbst gewählten Begriff ‚Fragment‘ ja schon etymologisch verankerten Zerbrechlichkeit. Doch gilt Weiß’ Leitfrage einer möglichen Entscheidung in ebendiesem Zwiespalt, ob die neue Textgattung – wenn sie denn als ‚neu‘ überhaupt aus den Phänomenen heraus bezeichnet werden kann – Reflex einer revolutionären, auf das Bruchstück zielenden Weltsicht sei oder aber nur eine Variante der vor allem in Frankreich beheimateten Gattung Aphorismus.

Dass sich der Verfasser auf die Begriffsverwendung der Romantiker selbst beschränkt und zugleich auf die von ihnen unter dem entsprechenden Rubrum publizierten Texte, hat zunächst einmal pragmatische Gründe. Diese Auswahl führt indessen dazu, dass auf Teufel komm’ raus nach thematischen und formalen Gemeinsamkeiten gesucht werden muss, während zugleich nicht zu Lebzeiten Veröffentlichtes wie Novalis’ umfangreiche Sammlung Das allgemeine Brouillon oder auch Friedrich Schlegels zahlreiche erst aus dem Nachlass veröffentlichte Notate nicht weiter zur Sprache kommen. Ob die Beschränkung auf ein dergestalt überschaubares Quellenkorpus notwendig sei, steht dahin. Weiß’ Vorgehen ist auch darüber hinaus eklektisch: Von Vorläufern, zu denen sich die Jenaer explizit bekannten, zieht er Aphoristisches oder Fragmentarisches als Prätexte heran, abschließend widmet er sich potenziellen ‚Nachfolgern‘, die ‚ähnlich‘ schrieben, auch wenn sie sich nicht oder gar ablehnend zum frühromantischen Fragment geäußert haben. Es geht Weiß also im Grunde um eine bei aller Unschärfe gewiss berechtigte Suche nach Analogien und Übereinstimmungen zwischen teils zeitlich, teils auch thematisch weit auseinander liegenden Texten. Dabei zieht er ins Kalkül, dass das Bestreben des Lesers, Kohärenz zu stiften, schon innerhalb der einzelnen Sammlung vielfach ins Leere läuft und dass dies dem aphoristischen und wohl mehr noch dem romantisch-fragmentarischen Schreiben inhärent ist. Der Einflussbegriff, der den offeneren Begriff der Intertextualität ersetzt, dürfte dem Wunsch geschuldet sein, inmitten der Vielfalt der Bezüge einige präzise, starke Verbindungslinien benennen zu können.

Justus Fetschers einschlägiger Artikel in den „Ästhetischen Grundbegriffen“ lässt ahnen, wie schwer es sein kann, ausgehend von Lyceum, Athenaeum und Blüthenstaub, eine, wie Weiß schreibt, „phänomenologische Beschreibung“ zu liefern. Die epistemologisch und zugleich ironisch orientierte begriffliche Praxis der Frühromantiker macht die Sache nicht leichter – zwischen Begriffsprägung und begriffsgeleiteter Praxis lassen sich bekanntlich Unterschiede aufzeigen.

Eine frühromantische Chamfort-Rezeption lässt sich in Gestalt einer Rezension August Wilhelm Schlegels in der „Allgemeinen Literaturzeitung“ nachweisen. Als für den älteren Schlegel-Bruder attraktiv erweist sich das Antisystemische eines von Witz und Ironie geprägten Schreibens. Ein Wandel der philosophischen Leitlinie von ‚Natur‘ zu ‚Geist‘ führe von Larochefoucauld über Chamfort zu den Jenaern, so Weiß. Neben den französischen Moralisten kommt als Vorbild Lessing ins Spiel, der zwar kaum aphoristisch schreibt, aber von Friedrich Schlegel als ebenso unzeitgemäßer Denker im Zeichen einer Literatur anregenden Kritik entdeckt wird. Schließlich nennt Weiß Goethes und Schillers aphorismenhafte Xenien mit ihrem Provokationspotenzial für den Literaturbetrieb. Weiß folgt hier selbst einer sehr antisystemischen Praxis der Anordnung und des Vergleichens, führt er doch unterschiedlichste Fragmente ‚im weitesten Sinn‘ zusammen, ehe er mit Romantiker-Fragmenten ‚im engeren Sinn‘ weiterfährt. Eine auf umfassende Rekonstruktion „des Fragmentarischen“ in der Frühromantik angelegte Studie nähme, dies lässt Weiß’ schlankes Buch erahnen, riesenhafte Ausmaße an.

Die Analysen zu den Romantiker-Texten selbst geben der Versuchung einer auf Kohärenz abzielenden Lektüre nach. Der Verfasser arbeitet eine paradox anmutende Systemskepsis bei gleichzeitiger Konstruktion eines ‚Ganzen‘ als gemeinsames Merkmal aller Sammlungen heraus und ergänzt diese Beobachtung um die These, die Romantiker seien bereits auf dem Weg vom Aphorismus zu einem essayistischen Schreiben, das ihre ‚Nachfolger‘ seit Nietzsche dann erst recht ausgebildet hätten.

Nicht ganz verwunderlich ist das Resultat: ‚Fragment‘ kann in der Frühromantik sehr Unterschiedliches bedeuten, doch halten die Variante des Aphorismus und eine universalistisch motivierte Aufwertung des Bruchstückhaften ein labiles, sich produktiv auswirkendes Gleichgewicht zueinander. Eine Ausnahme bilden Novalis’ politische, auch als in sich schlüssiger Text lesbaren Fragmente Glauben und Liebe.

Hat sich Nietzsche sogar ablehnend über die Brüder Schlegel geäußert, so unternimmt doch Johannes Weiß – nicht erstmals – den Versuch, die Entlarvungskunst seit Menschliches Allzumenschliches als ‚romantisch‘ zu beschreiben. Auch die mit der Romantik zweifellos vertrauteren Fragmentaristen des 20. Jahrhunderts (Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und besonders Maurice Blanchot) gehen doch eigene Wege, so dass es schwer fallen muss, mehr als vage Analogiebeziehungen herzustellen.

Anregend ist das in die Thematik einführende und in der Kreativität seiner Analogiebildung auch überzeugende Buch allemal; in einer Welt ohne Totalität wird der Blick auf die Anfänge des Fragmentarischen auch weiterhin mehr als eine Pflichtübung sein.

Isabelle Faul konzentriert sich auf den (Selbst-) Entwurf Friedrich Schlegels als Künstler in der Fragmentsammlung Ideen, die, weit weniger bekannt als die Fragmente, im dritten Jahrgang des Athenaeum erschien. Die Autorin versucht mithilfe dieses schmalen Textkorpus sowie eines großen Aufgebots an Kontexten, Schlegel als Intellektuellen avant la lettre dingfest zu machen. Bereits methodisch greift die Monografie weit aus, insofern sie sich auf die von Dieter Heinrich und Martin Mulsow begründete Konstellationsforschung beruft, also die „Vernetzungen von Ideen, Personen und kommunikativen Infrastrukturen untersucht“. Der zugrunde gelegte Text-Kontext-Begriff ist nicht normativ, lässt keine Homogenität gelten: Publizierte Texte, Briefwechsel und Notate werden in unterschiedlicher Intensität herangezogen. Konkret sind es Para- und Epitexte der Ideen und generell des Athenaeum, die auf dem Prüfstand stehen.

Im Mittelpunkt steht der Begriff des Künstlers, steht, von dieser Vorgabe abgeleitet, das in vielen Texten von Schlegel entwickelte Selbstverständnis als „Schriftsteller, Kritiker, Philologe, Publizist und Projektemacher“ – mit der Zäsur 1800. Es entsteht so eine Einführung in die Jenaer Frühromantik in nuce. Schlegel, Sprachgenie und Autodidakt, erscheint als Verweigerer gegenüber allen auf ihn eindrängenden Institutionen, dem unabhängiges Studium und Produktivität die unbedingten Konstitutenten des Lebens waren. Die Ideen selbst (auf dem Buchumschlag und der Titelseite verstörender Weise nicht kursiviert, also nicht als Werktitel erkennbar) liest Faul auf Schlegels Begriff des Künstlers hin, der als Mittler zwischen der Religion und der fast synonym zu verstehenden Bildung konzipiert wird und der in einem revolutionären Prozess nicht allein als Schöpfer einer neuen Sprache, sondern geradezu einer poetischen Republik auftreten soll.

Besonderes Anliegen der Verfasserin ist es, die Modernität Schlegels anhand des Begriffs des Intellektuellen zu erweisen: Schlegel also als wortmächtiger Kritiker und Außenseiter, der dennoch mittels seiner Fähigkeit, Synthesen zu erzeugen, sein Publikum zu Taten anregt. Den terminologischen Anachronismus mag man für statthaft halten, die Kunsthistorikerin Jutta Held hat den Begriff des Intellektuellen sogar auf die Agenda der Frühneuzeitforschung gesetzt. Isabelle Faul weist einschränkend darauf hin, dass Schlegel alles andere als ein politischer ‚Macher‘ war. Auch wenn die Anbindung ihrer Argumentation an die Begriffsgeschichte des Intellektuellen etwas kursorisch ausfällt, ist ihr doch ein Porträt des modernen, offenen Denkers Schlegel im Schnittpunkt von Diskursen und Einflüssen um 1800 gelungen. Die Einführung der Zeit- und Diskursgrenze ‚1800‘ intoniert schlussendlich den alten Gesang von den reaktionär gewordenen Romantikern.

Titelbild

Johannes Weiß: Das frühromantische Fragment. Eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
209 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556816

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Titelbild

Isabelle Faul: Friedrich Schlegels Ideen. Ein Beitrag zur Intellektuellengeschichte.
Schöningh Verlag, Paderborn 2016.
311 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783506783752

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