Die Schuld des Wegsehens

Jürgen Fuchs (1950–1999) hat in subtiler Weise auf den Missbrauch von Macht aufmerksam gemacht – eine internationale Konferenz belegt die verblüffende Aktualität seiner Schriften

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band Sagen, was ist! Jürgen Fuchs zwischen Interpretation, Forschung und Kritik dokumentiert die internationale Jürgen Fuchs-Konferenz, die 2016 in Breslau/Wrocław unter der Überschrift „Jürgen Fuchs: ‚Sagen, was ist‘. Diktatur als grenzüberschreitende Erinnerungslandschaft“ stattfand. 26 Publizisten, Schriftsteller und Wissenschaftler äußern sich im Buch zu verschiedenen Aspekten in Leben und Werk von Jürgen Fuchs.

Bereits als junger Mann hatte der im vogtländischen Reichenbach geborene Jürgen Fuchs in seinen Texten den Versuch unternommen, auf Mechanismen der Ausgrenzung und Unterdrückung in seinem Land aufmerksam zu machen. Das Regime reagierte mit zahlreichen Schikanen, die schließlich 1976 zu seiner Verhaftung führte.

Der polnische Germanist Ernest Kuczyński, der sich seit Jahren mit dem Werk von Jürgen Fuchs beschäftigt, hat die Konferenz in treffender Weise in drei Themenblöcke unterteilt: „Über Grenzen hinweg“, „Erfahrungsraum Diktatur“ und „Zwischen Literatur und Politik“. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die von Fuchs wahrgenommenen politischen Zusammenhänge nicht von seiner Autorenschaft getrennt werden können. Auf der Grundlage seiner literarischen Prägung vor allem durch Verse von Bertolt Brecht, Wolf Biermann und auch Johannes Bobrowski war Fuchs für die Idee eines menschlichen Sozialismus sensibilisiert worden. In diesem Verständnis einer Literatur, die sich der politischen Dimension nicht entzieht, sondern produktiv aufgreift, hat Fuchs seine Gedichte und Gedächtnisprotokolle verfasst. In der DDR hatte er freilich gerade eine Handvoll Gedichte veröffentlichen können.

Die handfesten Widersprüche im Alltag des DDR-Sozialismus empfand Fuchs als Bestätigung, sich im Spannungsfeld zwischen Literatur, mündigem Staatsbürgertum und konkreter Solidarität mit Entrechteten und Verfolgten zu Wort zu melden. Der Beitrag von Werner Greiling „Ich ehre den Sozialismus, indem ich ihn kritisiere!“ Anmerkungen zu Literatur und Leben des Jürgen Fuchs (1972–1975) widmet sich dieser frühen Schaffensphase unter den Bedingungen ideologischer Repressionen.

Das Regime reagierte naturgemäß mit massiven Einschüchterungen und Schikanen. Da Fuchs als politisch unzuverlässig eingestuft wurde, konnte er sein Studium der Sozialpsychologie erst nach dem absolvierten Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee antreten. Obwohl seine Abschlussarbeit an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena mit der Note „sehr gut“ bewertet wurde, ist ihm aus politischen Gründen der Abschluss versagt worden. 1975 folgte die Zwangsexmatrikulation.

Ein besonderes Augenmerk der Tagung lag in der Rezeption von Leben und Werk des Jürgen Fuchs durch polnische und tschechische Wortmeldungen. So werden etwa in den Beiträgen von Monika Kaleta Literarisierung repressiver politischer Erfahrung im Prosawerk von Jürgen Fuchs oder Josef Rauvolf Jürgen Fuchs und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik die ästhetische und literarische Qualität in den Arbeiten von Fuchs unter besonderer Berücksichtigung der strukturell verwandten politischen Systeme im „real existierenden Sozialismus“ herausgearbeitet.

Ein weiterer Vorsatz dieses Symposiums bestand darin, die literarischen Verfahren des Autors in verstärkter Weise wahrzunehmen. So widmet sich die polnische Germanistin Ewa Matkowska in ihrer Studie der Anschaulichkeit in der Lyrik von Jürgen Fuchs. „Tagesnotizen“ (1979) während der kurz vor seinem zu frühen Tod fertiggestellte Roman Magdalena in den Untersuchungen von Axel Reitel Wer hat Angst vor „Magdalena“? oder Jeffrey Weiss „Die Analyse ihrer Machenschaften ist meine Therapie“. Polyphonie als Mittel der Erinnerung in „Magdalena“ näher beleuchtet wird.

In besonderer Weise aufschlussreich, gerade unter dem Aspekt der politischen wie ideologischen Ost-West-Spaltung während des Kalten Krieges, ist der zuweilen vernachlässigte Blick auf die schwierige Beziehung zwischen dem ausgebürgerten DDR-Dissidenten Fuchs und der westlichen Linken wie auch der in den 1980er-Jahren populären Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Marko Martin, der ebenfalls Benachteiligungen in der DDR ausgesetzt war, hatte Jürgen Fuchs in seiner Westberliner Wohnung in Tempelhof des Öfteren besucht. Seine Beschreibung Utopia ist hier. Zwischen Skepsis, Neugier und Engagement: Jürgen Fuchs? Leben und Schreiben in West-Berlin reichert eine genaue Analyse politischer Befindlichkeiten mit persönlichen Erinnerungen an. In ihrer Betrachtung Jürgen Fuchs und die Kölner Heinrich-Böll-Stiftung hat Elsbeth Zylla eine sensibel vorgenommene Betrachtung vorgelegt.

Der DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin hat sich in seinen Überlegungen Jürgen Fuchs – erneute Annäherungen. Vom Umgang mit Schuld in der Diktatur in differenzierter Weise mit der Opfer-Täter-Problematik in Diktaturen beschäftigt. Sein Augenmerk galt dabei dem Sozialpsychologen Jürgen Fuchs, der als sensibler Dichter auf die perfiden Machtmechanismen und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen reagierte: „Wegsehen, nicht Beteiligt sein wollen war eine Entscheidung, wenn auch oft eine uneingestandene, die Mitverantwortung schaffte, im schlimmsten Falle Mitschuld bewirken konnte“.

Nicht zuletzt die engagierten Wortmeldungen früherer Freunde und Weggefährten von Jürgen Fuchs wie György Dalos, Helmut Frauendorfer, Doris Liebermann, Utz Rachowski, Lutz Rathenow oder Siegfried Reiprich belegen die Lebhaftigkeit, mit der Fuchs auf die Unterdrückung in den Ländern des „real existierenden Sozialismus“ reagierte. Dass ausgerechnet die Nachfolgepartei der SED das Monopol auf ostdeutsche Befindlichkeiten für sich in Anspruch nimmt, gehört zu den Merkwürdigkeiten in der politischen Landschaft der heutigen Bundesrepublik. Ein weiterer Fingerzeig, der die Dringlichkeit der Lektüre von Jürgen Fuchsʼ Schriften unter Beweis stellt!

Titelbild

Ernest Kuczynski (Hg.): Sagen, was ist! Jürgen Fuchs zwischen Interpretation, Forschung und Kritik.
Neisse Verlag, Dresden 2017.
320 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783862762248

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