Wer bin ich?

In Sasha Marianna Salzmanns Debütroman „Außer sich“ sucht Ali nach ihrem Bruder, ihrer Herkunft und sich selbst

Von Christian PalmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Palm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über den Dokumentarfilm Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa wurde zu Beginn des Sommers in den Medien heftig gestritten. Einen Beitrag zu dieser Debatte hätte wohl auch Sasha Marianna Salzmann liefern können, die schon zuvor in Interviews bekundet hatte, dass ihre Eltern in Russland unter massivem Antisemitismus gelitten hätten und deshalb im Jahr 1995 nach Deutschland emigriert seien. Die Tochter, die damals zehn Jahre alt war und folglich nur „ein kindliches Russisch“ spricht, hat sich einen Namen als Autorin und Dramaturgin am Maxim-Gorki-Theater in Berlin gemacht. Dort leitete sie von 2013 bis 2015 auch das Studio Я (sprich: ya), das sich in seinem Internetauftritt als „Kunstasyl für marginalisierte Themen und Denkweisen“ sowie als „Plattform“ vorstellt, „auf der das Selbst hinterfragt und weitergedacht wird.“ Mit Außer sich legt die Theaterfrau Salzmann nun einen 366 Seiten starken Debütroman vor, der autobiografische Züge aufweist, inhaltlich an die Konzeption des Studio Я anschließt und sogar ein dramentypisches Personenverzeichnis enthält, in dem besonders der Eintrag „Alissa, Ali – Schwester, Bruder, ich“ auffällt und für den ganzen Roman bedeutend ist – und das in zweierlei Hinsicht.

Erstens wird durch die Aufspaltung der Erzählerin in eine dritte und eine erste Person, in Ali und ein Ich, gezeigt, dass Identität nur durch Selbstbezug, durch Differenz zu sich selbst herstellbar ist. Wie etwa Siegfried J. Schmidt oder Anke Bosse in Aufsätzen gezeigt haben, muss das über sich selbst nachdenkende Selbst sich von außen als einen Anderen, als ein Objekt in einem Spiegel betrachten. Nur so können Menschen sich selbst beurteilen, Selbst-Bewusstsein entwickeln und permanent Identität herstellen. Da Salzmanns Roman die Konstruktion von Identität nicht nur thematisiert, sondern auch narrativ inszeniert, bleibt Ali als Erzählerin lange Zeit unfähig, die Selbstbezeichnung „Ich“ zu verwenden, die „im Russischen nur ein Buchstabe [ist]: Я. Ein einziger Buchstabe in einem dreiunddreißigstelligen Alphabet. Der letzte.“ Stattdessen pflegt Ali die Gewohnheit, „von mir außerhalb meiner selbst, von mir in der dritten Person zu denken“. Das Ich ist eben „Außer sich“, wie ja schon der Titel des Romans lautet:

Mein Name fängt mit dem ersten Buchstaben des Alphabets an und ist ein Schrei, ein Stocken, ein Fallen, ein Versprechen auf ein B und ein C, die es nicht geben kann in der Kausalitätslosigkeit der Geschichte. […] Ich dagegen fühle mich unfähig, verbindliche Aussagen zu treffen, eine Perspektive einzunehmen, eine Stimme zu entwickeln, die nur die meine wäre und für mich sprechen würde. Ein festgeschriebenes Я.

An der Einführung der Haupt- und Erzählerfigur als „Alissa, Ali – Schwester, Bruder, ich“ fällt zweitens die Austauschbarkeit der Geschlechter auf, wodurch die klare Trennung zwischen Alissa und Ali, zwischen Schwester und Bruder, zwischen Frau und Mann schwindet. Der hier aufgeworfene Gender-Aspekt findet sich indirekt auch in dem intertextuellen Bezug des Textmottos. So ist dem Roman ein Zitat des Harlem-Schriftstellers James Baldwin (1924–1987) vorangestellt, der sich in seinen Werken – schon wegen seiner eigenen Erfahrungen als doppelter Außenseiter – immer wieder mit afroamerikanischen und homosexuellen Identitäten auseinandergesetzt hat. Nach den einleitenden Paratexten weist auch die im Haupttext von Außer sich erzählte Geschichte eine Gender-Ebene auf. Im Gegensatz zu Anton, ihrem feminin dargestellten Zwillingsbruder, will Ali seit ihrer Kindheit „lieber sterben“, als sich wie ein Mädchen zu kleiden. Sie läuft stattdessen stets „wie ein Junge“ beziehungsweise „wie eine Lesbe“ herum und legt sich in ihrer Jugend, sehr zum Unmut von Mutter Valja, einen „Drei-Zentimeter-Haarschnitt“ zu. Als Ali 25 Jahre alt ist, erhält sie von dem mittlerweile spurlos verschwundenen Anton eine Postkarte mit der Aufschrift „Istanbul“. Daraufhin reist sie an den Bosporus und begibt sich auf die Suche nach ihrem Zwillingsbruder, mit der eine Selbstsuche und schließlich ein durch gespritztes Testosteron vollzogener, transsexueller Übergang in Antons Person einhergehen.

Die Reise nach Istanbul wird für Ali zu einem persönlichen Schlüsselerlebnis, nach dem sie sich intensiv mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen beginnt. Das Rekonstruieren jener Vergangenheit, in die Ali „eingesponnen“ ist, führt von Odessa am Schwarzen Meer über Czernowitz, Grosny, Wolgograd und Moskau bis nach Deutschland und handelt von Juden in der Sowjetunion, von Sozialismus, Antisemitismus und Migration. Durch den Blick auf eine ostjüdische Familie, die – wenn auch in einer anderen Zeit – in Deutschland Zuflucht findet, erinnert Außer sich in gewisser Weise an H.W. Katz’ kaum und mit großer Verspätung rezipierten Exilroman Die Fischmanns (1938). Im Gegensatz zu der „insgesamt vorsichtigen Individuation des Erzählers“, die Carel ter Haar (zitiert nach Winfried Adam) in Bezug auf Jakob Fischmann ausmacht, geht es Salzmann allerdings zentral um ihre Erzählerin. Alis Frage nach familiärer und somit kollektiver Identität wird zeitlich bis in die Generation der Ururgroßeltern verfolgt, über die sehr „unterschiedliche Meinungen in der Familie“ kursieren. In „den mit voller Inbrunst vorgetragenen Erzählungen“ oszillieren Natan und Valentina, so die Namen dieser Vorfahren, zwischen hohem und niedrigem Bildungsstand, zwischen Armut und Reichtum.

Wesentlich präsenter ist die Generation, die auf Natan und Valentina folgt. Die Informationen zu den beiden Urgroßeltern mütterlicherseits, die sich in den 1930er-Jahren als die „beiden besten Studenten der Medizinischen Fakultät von Odessa“ auszeichnen, stammen zum einen von Schura und Etina selbst, mit denen sich Ali unterhält, und zum anderen aus Schuras knappen Memoiren, die Ali nach dessen Tod liest. So erfahren die Urenkelin und mit ihr die Leser, dass Schura nach dem Krieg einem „Ruf der Partei nach Czernowitz“ gefolgt und schnell vom Krankenhausarzt zum Vorsitzenden des regionalen Gesundheitsministeriums aufgestiegen ist. Dass er trotz antisemitischer Repressionen nach Stalins Tod (1953) weiterhin Karriere machen konnte und ein berühmter Wissenschaftler wurde, dessen Porträts später die Wände von Museen zieren, verdankt Schura der besonderen Förderung durch seinen Doktorvater, einen „Judenschützer“. Auch wenn seine jüdischen Ärztekollegen in der Sowjetunion massenhaft inhaftiert werden, ist Schura „bis zum Schluss nicht von seinem Glauben an den Sozialismus abzubringen.“ Was mit ihrer Familie während des Zweiten Weltkriegs geschehen ist, bleibt für Ali dagegen weitgehend unzugänglich. Während Schura und Etina mit der Urenkelin „nicht über die Kriegsjahre reden“ wollen und nur „Bruchstücke von Erinnerungen“ in ihren Tee murmeln, bestehen die Erinnerungen von Großvater Daniil, dem Ehemann von Schuras und Etinas Tochter Emma, an seine „Flucht als damals Vierjähriger“ bloß noch aus „einzelne[n] Szenen“ wie den Leichen am Wegrand oder dem Bombenlärm, der „sich anfühlte wie Meteoriteneinschläge.“

Bekannt ist dann wieder, dass die ganze Familie Czernowitz 1961 verlassen hat und weit nach Osten in die Stadt Wolgograd migriert ist, die bis dato Stalingrad – also Stalinstadt – hieß. Hier wird Alis Mutter geboren, die in ihrem Leben zweimal heiratet und sich zweimal scheiden lässt. Zu Beginn der 1980er-Jahre, als Valja noch Medizinstudentin ist, heiratet sie verfrüht „einen Goj“, einen Nichtjuden, um „endlich von zu Hause ausziehen zu können“. Als sich der junge Iwan aber aus Filmen abschaut, „was es heißt, ein Mann zu sein“, wird er zum Trinker und wendet Gewalt gegen Valja an, weshalb die Ehe schon nach kurzer Zeit scheitert. Daraufhin arrangieren Valjas Eltern eine zweite, diesmal jüdische Ehe mit dem Moskauer Kostja, die zwar die Zwillinge Anton und Ali hervorbringt, später aber aus den gleichen Gründen wie Valjas erste Ehe beendet wird. Zu diesem Zeitpunkt hat die jüdische Familie in Deutschland längst eine Odyssee von Asylheim zu Asylheim hinter sich. Doch allen sprachlichen Schwierigkeiten und ablehnenden Erfahrungen in Deutschland zum Trotz muss sogar Kostja, der ja erst im Erwachsenenalter migriert ist, bei einer versuchten Remigration in das vermeintliche ‚Zuhause‘ Russland erkennen, dass es „so etwas wie ein Zurückgehen“ nicht gibt.

Außer sich widmet sich der Konstruktion von individueller und kollektiver Identität auf vielen Ebenen. Bei Alis Suche nach Herkunft, Heimat, Geschlecht und Sprache – man beachte etwa die russischen und jiddischen Einschübe in den deutschen Text – macht die Autorin Salzmann immer wieder das identitätsstiftende Erzählen selbst zum Thema. Da der Roman ‚Geschichte‘ und ‚Geschichten‘ erzählt, lässt sich mit einem Zitat Alis schließen, das sich auf einen Familienzweig bezieht, der in den 1930er- und 1940er-Jahren angeblich in Kasachstan „glücklich fern der Schrecken der Schoah“ gelebt habe. Es lautet: „Wer es glaubt, soll daran glauben, ich kenne keine andere Version dieser Geschichte.“

Titelbild

Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
366 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427620

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