Erinnerte Ermittlungen

Sandra Beck über „Muster detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur“

Von Max RoehlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Max Roehl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kriminalliteratur erfreut sich als wohl populärstes Literaturgenre einer ungebrochenen Beliebtheit bei Leserinnen und Lesern. Ihr Erfolg beruht neben ihrer konstitutiven Spannung zum einen darauf, dass sie ihren Rezipienten die Möglichkeit der projektiven Abwehr eigener ‚krimineller‘ Phantasien eröffnet. Zum anderen hebt sie durch ihre Geheimnis- bzw. Rätselstruktur das Schaudern vor dem Abgrund des Unbekannten in einer sachlichen Erklärung auf und erzeugt so das Gefühl einer geordneten Welt. Auch zeigt das Genre eine Tendenz zur Serie sowie zur schematischen Handlungs- und Figurenkonzeption, die aufgrund ihrer Wiederholungstruktur abermals dem basalen Lustgewinn zuarbeitet. So ist es auch ebenjener Schematismus, durch den der Kriminalroman mit seinen unzähligen jährlichen Publikationen – von Fernsehproduktionen ganz zu schweigen – einen enormen Anteil an der Unterhaltungsliteratur hat.

Die literaturwissenschaftliche Forschung nimmt neben den psychologischen, sozialen oder politischen Konflikten, die in kriminalliterarischen Texten verhandelt werden, vor allem ihre besonderen Erzählverfahren in den Blick sowie die inszenierten semiotischen Prozesse, die ihrerseits mit der spezifischen Erzählweise in Verbindung stehen. An dieses Forschungsinteresse schließt auch Sandra Beck mit ihrer Studie Narratologische Ermittlungen. Muster detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur an. In dieser Arbeit, die eine überarbeitete Fassung ihrer 2012 von der Universität Mannheim angenommenen Dissertation ist, widmet sich Beck den narrativen Mustern, die sich im Kriminalgenre herausbilden und tradieren, um schließlich zu untersuchen, inwiefern Texte der Gegenwartsliteratur diese Muster „aufgreifen, umcodieren und (produktiv) transformieren, mithin das vorgeprägte, tradierte Formenrepertoire genregebundenen Erzählens unter anderem im Verzicht auf die Detektivfigur narrativ neu strukturieren.“ Die Studie ist – flankiert von Einleitung und Ausblick – in drei große Kapitel gegliedert: Im Kapitel Erzählen über Kriminalität zeichnet Beck die historische Entwicklung des Kriminalgenres von der frühneuzeitlichen narratio crimen über die aufgeklärte Rechtsfallgeschichte zur Detektivgeschichte nach. Dem folgt das erzähltheoretisch konzipierte Kapitel Erzählte Kriminalität, in dem Beck ihre Begriffstrias der genrefundierenden, genretradierenden und genretranszendierenden Erzählmuster vorstellt. Das letzte der drei Großkapitel untersucht in exemplarischen Lektüren Leo Perutz’ Der Meister des Jüngsten Tages (1923), Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob (1959), W.G. Sebalds Austerlitz (2001) sowie Christoph Peters’ Das Tuch aus Nacht (2003).

Beck beschreibt die Entwicklung des Genres ausgehend von der Überlegung, dass kriminalliterarische Texte unter den jeweiligen historischen Bedingungen vorführen, „wie ‚Wahrheit‘ zu produzieren bzw. zur Sprache zu verhelfen ist.“ Dabei ist insbesondere das Spannungsfeld zwischen dem Geständnis als ‚Ort wahrer Rede‘ in der Spätaufklärung und der Erzählung der ‚definitiven Verbrechensgeschichte‘ als Aspekt des detektivischen Erzählens von Bedeutung. Das Ziel der Arbeit besteht erstens darin, das Detektivgenre als ein „für erinnerungskulturelle Fragestellungen hochsensibles Genre“ zu begründen, das „für die Inszenierung von Erinnerungsprozessen in literarischen Texten ein präcodiertes Repertoire formaler Möglichkeiten“ bereitstellt. Darauf aufbauend zeigt Beck zweitens auf, dass die narrativen Muster Geständnis, Zeugenaussage und Detektion auch als „paradigmatische Spielarten modernen detektorischen Erzählens“ zu beschreiben sind.

(Post)moderne Texte nehmen nämlich, so Beck, auf die kriminalliterarische Tradition entweder durch Genrezitate Bezug, in denen detektivische Erzählmuster verfremdend in den Text eingespeist werden, oder durch Verfahren detektorischen Erzählens. Diese Formen schreiben nicht das Detektivgenre fort, sondern gebrauchen dessen Potenzial, um von Prozessen der Wahrheitsfindung zu erzählen. Anders als die Detektivgeschichte erbringt das detektorische Erzählen „mit Blick auf das kommunizierte Rätsel keine Ergebnisse“, sondern beobachtet „die damit verknüpften Effekte auf das Subjekt-Bewusstsein der Figuren“ . So kann Beck überzeugend aufzeigen, wie (post)moderne Texte über Erinnerung, Identität, Wahrnehmung sowie individuelle und kollektive Vergangenheit Versatzstücke des Genres importieren, ohne im strengen Sinne von einer Ermittlung zu erzählen. Zwar wird der Erkenntnisoptimismus des Detektivgenres, durch Spurendeutung die Geschichte des Verbrechens als geschlossene Erzählung präsentieren zu können, in der (post)modernen Literatur überwunden; doch schließt diese an das basale Thema der Ver- und Enträtselung der Welt an.

Beck legt eine enorm umfangreiche, informierte und materialgesättigte Studie vor. Es ist der große Vorzug dieser Arbeit, dass sie sich einer unhistorischen oder gar teleologischen Argumentation zu verschließen sucht und auf diesem Wege auch bislang „nahezu unbeachtete, ‚vergessene‘ Traditionslinien“ des Genres erschließen kann. So widmet sich Beck etwa eingehend Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (1648). Auch zeigt sie auf, dass Edgar Allan Poes Geschichten um C. Auguste Dupin, die nach traditioneller Auffassung das Detektivgenre begründen, im deutschen Sprachraum erst spät als genuin kriminalliterarische Erzählungen rezipiert und schließlich rückwirkend zu Gründungsdokumenten der modernen Detektivgeschichte erklärt werden. So kann Beck die Entwicklung der deutschsprachigen Kriminalliteratur noch vor den aufgeklärten Fallgeschichten historisch fundieren und zugleich von teleologischen – auf Poe vorausweisenden – Lesarten emanzipieren.

Um die Herausbildung des Genres so wenig wie möglich von seiner späteren Entwicklung her zu denken, wertet Beck eine Vielzahl zeitgenössischer Rezensionen aus. Auch führt sie mit der Unterscheidung genrefundierender, -tradierender und -transzendierender Erzählmuster eine Begriffstrias ein, die einer teleologischen Deutung der Genregeschichte entgegenwirken soll, allerdings kaum in Auseinandersetzung mit bestehenden Theorien zur Transformation von Gattungen entwickelt wird. Dass Beck wiederholt darauf hinweist, mit ihrer Arbeit keine erschöpfende historische Rekonstruktion zu beabsichtigen – was zweifellos ein unmögliches Unterfangen wäre –, nimmt der geneigte Leser des 800 Seiten umfassenden Werks noch mit einem Schmunzeln zur Kenntnis. Allerdings wird auch das erzähltheoretische Erkenntnisinteresse, das durch den Titel der Studie markiert ist, durch die historische Vorgehensweise hindurch ein wenig unsystematisch verfolgt. So ist in den ersten beiden Großkapiteln nicht immer zwischen Forschungsbericht und eigenen Ergebnissen zu unterscheiden. Angesichts der enormen Menge des Materials hätte dessen Aufteilung auf zwei Publikationen eventuell Sinn ergeben und die Argumentation entzerren können.

Mit ihrer Studie gibt Beck einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der deutschsprachigen Kriminalliteratur und begründet überzeugend die Geburt der (post)modernen Literatur aus dem Geist der Kriminalerzählung. Dabei rekonstruiert sie die Affinität (post)modernen und detektivischen Erzählens aus dem Kern des Kriminalgenres selbst, das mit erinnerungsbezogenen Erzählformen – Geständnis, Zeugenaussage, Tathergang –, mit der Reflexion von Zeichenprozessen und der (Re)Konstruktion von ‚Wahrheit‘ zu Gange ist und damit an der (Un)Lesbarkeit der Welt arbeitet.

Titelbild

Sandra Beck: Narratologische Ermittlungen. Muster detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
823 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366667

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