Ein literarisches Experiment

Anne Webers Roman „Kirio“ spielt mit der unsicheren Existenz der Erzählinstanz

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Traditionell ist ein Roman die welthaltige Erzählung einer Lebens- und Entwicklungsgeschichte oder auch mehrerer Lebensgeschichten. Auch in dem letzten Roman von Anne Weber „soll in groben Zügen oder vielmehr Strichen das Leben eines Menschen nachgezeichnet werden“, allerdings nicht auf besonders welthaltige oder erzählerisch bunte Weise. Ein „paar erinner- und erzählbare Geschichten“ müssen genügen; es ist also nur „einiges von dem, was sich zutrug“. Immerhin: Relativ zu Anfang steht die Geburt des Kindes Kirio im südfranzösischen Fréjus-Tunnel zwischen Italien und Frankreich, am Ende erwischt der Tod den vagabundierenden Flötisten Kirio auf dem Marktplatz des hessischen Hanau (fast). Dazwischen spielen die Episoden, in denen von Ereignissen zu Kirios Lebenszeit (denn manchmal wird „Kirios Geschichte ohne Kirio“ erzählt) in der Drôme, im Lycée zu Lyon, bei Montélimar, in der Ardèche, in Paris (hier hält sich die Erzählung am längsten auf), im normannischen Pirou, in der psychiatrischen Klinik von Saint-Lô und schließlich in Hanau berichtet wird, um einmal den Lebensweg geografisch zu verfolgen.

Noch bevor aber von Kirio die Rede ist, spricht der Erzähler von sich: „Wer bin ich?“ fragt er und gibt zu, dass er es „nicht mit Gewissheit zu sagen“ wüsste. Zwischendurch plagen ihn Zweifel, ob es ihn überhaupt gibt, bevor er nach „langem Hin-und-Her-Überlegen“ etwa zur Mitte der Erzählung zu dem „Schluss“ kommt, dass es ihn doch gebe, wenn er auch nicht so „wirklich“ sei wie Kirio gewesen und auch nicht „eingeschlossen ist in Raum und Zeit“.

Das Fragespiel des Erzählers nach sich selbst zieht sich, manchmal witzig, manchmal ein wenig ermüdend, durch den ganzen Roman, und es bleibt zweifelhaft, ob am Ende „alle wissen, mit wem oder was wir es zu tun haben“. Das Spiel ist als Quiz angelegt, nicht ganz so platt wie Robert Lembkes „Was bin ich?“, das wie so vieles auch einmal zitiert wird: Der Erzähler hofft nämlich, dass er einem „Leser mit detektivischen Gespür“ und „am besten einem ebensolchen Autor“ in die Hände geraten sei; wenn er „Glück“ hätte, würden die beiden ihm „auf die Spur kommen“. Denn es sei beunruhigend, ja, demütigend und quälend, über sich selbst im Ungewissen zu sein. Wahrscheinlich eine Folge der Begegnung mit seinem Protagonisten: „Wo immer Kirio auftauchte, konnte nichts und niemand mehr seiner selbst sicher sein.“ Immerhin ist eines klar: „Ich will der Literatur nicht im Wege stehen“, sagt der Erzähler einmal. Und das ist kein Wunder, wie noch zu zeigen sein wird.

Webers literarisches Experiment besteht also erstens darin, einmal so zu erzählen, dass in der Erzählung alle Instanzen anonym bleiben. Die Lesenden von der Autorin aus gesehen sowieso, die Autorinstanz von den Lesenden aus gesehen auch, und nun also auch die „Erzähler“ genannte Erzählinstanz. Es werden Spuren gelegt, die allesamt in die Irre führen; die dürfen wir getrost der Autorin zurechnen. Ist es der Liebe Gott, der erzählt? Nein, natürlich nicht, obwohl sein Kirio als „Engel der Verkündigung“ eine „gute (…) Botschaft“ verbreitet und einen quasiprophetischen Auftrag erhalten habe, ja, als ein zweiter Franz von Assisi den Tieren predigt usw. „Denn weder habe ich einen Bart noch throne ich auf Wolken. Vor allem aber kann ich mich nicht erinnern, den Himmel und die Erde geschaffen zu haben.“ Ist es der Teufel, der erzählt? Auch das könnte man eine Zeit lang vermuten, aber der Teufel ist in dieser Erzählung nur ein netter Durchschnitts-Franzose ohne Beschäftigung, der anders als der „Devil“ der Rolling Stones sich nicht selbst vorstellt („Please allow me to introduce myself, hope you guess my name“), sondern vom Erzähler explizit dem Leser vorgestellt wird („May I introduce you“), und zwar mit Namen: Duval. Wahrscheinlich soll man Gott und Teufel identifizieren, was aber die „Schlaumeier“ unter den Lesern nicht dazu verführen sollte, „Gut“ und „Böse“ für „unbrauchbare oder überlebte Kategorien zu halten“, denn eindeutig treten in der Erzählung „durch Kirios Existenz“ „verschiedene Formen des Guten […] in Erscheinung“ – und darum geht es zweitens bei dem literarischen Experiment.

„Warum sind Wissenschaftler – von Schriftstellern und Filmemachern ganz zu schweigen – so gerne dem Bösen auf der Spur und überlassen das Gute dem Vergessen oder allenfalls den Moraltheologen? Ist Kirio nicht unvergleichlich faszinierender als irgendein dahergelaufener Barbar oder Vergewaltiger?“ Diese Fragen stellt sich die Hirnforscherin Clémentine Ordinaire. Sie will herausfinden, „woher das Gute rührt und wie es beschaffen ist.“ Dafür scheint ihr Kirio ein gutes Studienobjekt zu sein, denn überall, wo er auftaucht, passiert Gutes, was manchmal für ein Wunder gilt; es passiert aber nicht, weil Kirio Gutes wirken möchte, sondern ohne seine Absicht und oft sogar, ohne dass er es merkt. „Er ist nicht darum bemüht, gut zu sein, sagte die Forscherin. Er kann nicht anders.“

Diese Erkenntnis führt die Neurowissenschaftlerin zu der Frage: „Wo kommt das Gute her?“ Das ist eine Frage, die offensichtlich auch die Autorin bewegte. Und auch die: Wie kann man von dem Guten erzählen? (Schon einmal hat Weber mit dem Roman „Tal der Herrlichkeiten“ den Versuch gemacht, vom Glück zu erzählen, während besagte Schriftsteller und Filmemacher viel lieber vom Unglück der Menschen erzählen.) Weber will also etwas Anderes erzählen und ihr Erzähler erzählt deswegen anders. Er hält sich für keinen „professionellen Erzähler“, sondern setzt gängige Handlungsmuster außer Kraft: Ihm geht es nicht nur um das, was geschehen ist, sondern auch um das, was „alles nicht oder außerhalb seines Blickfelds geschehen ist.“ So entgeht beispielsweise ein Schwarzer einem Anschlag, weil er entgegen seiner Hoffnung in einem geheimnisvollen Schließfach nichts findet.

Aber es passiert nicht nur Gutes in Kirios Umgebung. Seine „kurze Gegenwart“ in der Welt habe diese „verändert“. Kirio habe den globalen „Freudenpegel um mehrere Grade angehoben; die Konsequenzen werden sich erst im Laufe der nächsten Jahrzehnte oder Jahrhunderte zeigen.“ Während andere sich über die Erwärmung des Weltklimas Sorgen machen, schreibt Weber über die Freude, indem sie von einem erzählt, der die Welt gern aus einer umgekehrten Perspektive wahrnahm und den man nicht ärgern konnte; von einem, dessen Handeln oder vielmehr Nichthandeln „nie unheilvolle, und nicht selten […] sogar wundersame“, Folgen zeitigte, „von denen er nie erfuhr“; von einem, der die Verkörperung des bloßen, aber immer „staunenden Am-Leben-Seins“ ist.

Immerhin erfahren die Leser davon, indem der merkwürdige Erzähler – der der Geist der Dichtung selbst zu sein scheint, the spirit of poetry oder l’âme de la littérature (um einmal Webers Sprachmix zu imitieren), der im Zusammenspiel von Autorin und Lesenden entsteht –, einige Vorkommnisse und Nichtgeschehnisse zum Besten gibt. Wohlgespickt ist seine Rede mit literarischen Zitaten, und auch hierin gleicht der Roman einem Quiz: Es werden viele Prätexte explizit genannt, es gibt aber auch Anspielungen auf Texte oder Zitate aus Texten von Louis Aragon, Joseph von Eichendorff, Johann Wolfgang Goethe, Franz Grillparzer oder anderen, die nicht genannt werden. Und wer kann sie schon alle erkennen? Warum wird gleich zweimal der obere Rand einer linken Ohrmuschel getroffen, einmal von einer Gewehrkugel und einmal von einem Schneeball? Eine Anspielung auf Texte von Wilhelm Busch, E. T. A. Hoffmann oder Karl May? Oder auf einen ganz anderen Text oder auf keinen? Gewiss ist manches auch Anspielung auf private Kenntnisse oder Erlebnisse: An wen mag Weber gedacht haben, wenn sie von Dieter, dem armen Opfer der Frauenkämpferinnen an der Uni Marburg, erzählt? Oder warum heißt der mit hessischem Akzent sprechende Tod „Frau Kehm“, wie die Managerin von Michael Schumacher oder die Sozialfürsorgerin der Verbandsgemeinde Bodenheim?

Indem Weber mittels eines multipel identischen oder auch schizophrenen Erzählers von dem „Freudenverbreiter“ Kirio erzählt, hält sie ein Plädoyer für die Freude spendende und Staunen machende Wirkung der Literatur, gegen die sogar der Tod machtlos ist. Er wird rückgängig gemacht wie im Fall der Familie des fiktiven Jockeys Marcel Détrais oder ausgetrickst wie im Fall von Frau Kehm: Als sie den wunderlichen Spielmann Kirio endlich in eine aussichtslose Lage gebracht hat und die „sieben Teenager mit niedrigem Erkenntnis- und hohem Aggressionspotential“ drauf und dran sind, ihm mit Baseballschläger und Messern den Garaus zu machen, ist er plötzlich einfach weg. Denn die Erzählung ist aus.

Titelbild

Anne Weber: Kirio. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
219 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972696

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