Vaterschaften, Liebschaften

Michael Wildenhains Roman über einen linken Mann und seine unerwarteten Erkenntnisse: „Das Singen der Sirenen“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literarisch gesehen ist es um die Linke still geworden. Die wilden Jahre um 1980 herum sind kein Thema mehr, sie werden turnusmäßig ja eh von den 68er Gedenktagen und den Mahnungen in Sachen RAF überlagert, die gerade in diesen Wochen wieder durch die Medien getrieben werden.

Michael Wildenhain gehört wohl zu den wenigen Autorinnen und Autoren in der Gegenwartsliteratur, die sich noch mit diesen Jahren beschäftigen, die zwar unerhört aufrührerisch waren, denen es aber an offensichtlicher Langzeitwirkung fehlt. Den 68ern wird zugeschrieben, dass sie die Entwicklung der Bundesrepublik zur offenen Gesellschaft vorangetrieben haben (ganz abgesehen von der Populärkultur) und dass sie für eine eigenständige bundesdeutsche Fassung des Terrorismus verantwortlich sind. Da können die 78er, die ja bestenfalls ein paar Häuser besetzt haben und Pogo als Tanzstil kreiert haben, nicht mithalten.

Welches Potential allerdings auch in dieser Szene steckte, hat Wildenhain mit seinem wohl bis heute wichtigsten Roman „Die kalte Haut der Stadt“ aus dem Jahr 1991 vorgeführt. In diesem Roman entwickelte er zugleich einen hymnischen Stil, dessen Kern er bis heute bewahrt hat. Das macht ihn in der Gegenwartsliteratur, die sich ja weitgehend (ja, es gibt Ausnahmen) einem mittleren, teils behäbigen und wenig anstößigen Plauderton verpflichtet hat, zu einer Ausnahmeerscheinung. Gerade die Spannung zwischen dem immer wieder in seinen Romanen aufscheinenden, selbstverständlichen Engagement seiner Protagonisten in der extremen Linken und ihren Versuchen, sich nicht in den Mühen eines profanen Alltags diesseits der Revolte aufzureiben, findet ihre Entsprechung in diesem Stil.

Das führt auch zu Zumutungen, die in der heutigen Gesellschaft politisch wenig Akzeptanz finden werden. So auch in Wildenhains neuem Roman „Das Singen der Sirenen“, der soeben bei Klett-Cotta erschienen ist. Klett-Cotta statt Rotbuch? Die Zeiten haben sich geändert.

Im Kern des Romans steht ein Mann mittleren Alters, der, verheiratet, ein Kind, nach London zu einem Gastaufenthalt reist. Was wir aus seiner Vergangenheit lernen, gehört zum Tiefengrund vor allem Berliner Politik-, Szene- und Gesellschaftsgeschichte. Der Kampf gegen Neonazis, der mit Schlagstöcken und Schusswaffen geführt wird, gehört in die langen neunziger Jahre. Jörg Krippen und seine Frau Sabrina – sie ist die härtere, die militantere von beiden – stammen aus dieser Zeit. Sie ziehen sich zurück, als ein Neonazi bei einem Überfall von Sabrina niedergeschossen wird. In anderen Zusammenhängen hätte man gesagt, sie tauchen unter. In diesem Fall nicht, weil sie von der Polizei gesucht werden, sondern weil sie der Vergeltung der Neonazis entgehen wollen.

Und so geschieht es, dass aus einem militanten ein bürgerliches Leben wird, mit Heirat und Kind, dem Bemühen um ein Einkommen und dem täglichen Stress, den solche Einöden eben mit sich bringen. Sie sind weit weg, die Revolution, der gelungene Augenblick, das geglückte Leben in einer Freiheit, die sich diese beiden vielleicht erdacht haben. Sie arbeitet als Lageristin, er studiert und schreibt eine Dissertation. Das Geld ist knapp, die Karrierechancen sind vertan, es gibt viel Streit.

Das alles wird weder trotzig noch mit der subkutanen Bitte um Nachsicht geschildert, sondern als die spezielle Geschichte um diesen Mann, lakonisch einerseits, allerdings nicht im Erzählton. Denn der unterlegt diese vorgebliche Niedergangsgeschichte, die in fein abgestimmten, schnell wechselnden Stücken entwickelt wird, mit einer leichten Spur von Pathos.

Es gibt solche Leute, und sie werden sich wohl kaum dazu aufraffen, die Gewalt beim G20-Gipfel zu verurteilen oder sich über die Existenznischen von Anti-Deutschen oder Anti-Globalisierungsaktivisten aufzuregen. Ja, das ist ein Skandal, aber nicht für diese Geschichte.

Und dann fliegt dieser Jörg Krippen nach London. Womit etwas beginnt, mit dem er nicht hat rechnen können: Der Streit mit Sabrina eskaliert, eine merkwürdige junge Frau namens Mae macht sich an Krippen heran, er lernt einen Sohn kennen, den er zwölf Jahre vorher mit Maes Schwester gezeugt hat, und er muss erfahren, dass er nicht der leibliche Vater des Jungen ist, den er mit Sabrina hat. Krippen steht vor einem sich auflösenden Leben, und er scheint nicht in der Lage zu sein, etwas dagegen zu tun. Er lässt alle Verpflichtungen in London fahren, beobachtet den Jungen, der sein Sohn sein soll, schläft mit Mae oder nicht. Wird von Maes Cousin als Schreiber angeheuert, wegen seiner verheißungsvollen Anfänge als Dramatiker, die er auch schon lange wieder aufgegeben hat. Er fliegt in die USA und reist nach Dresden, beobachtet seinen Sohn und Sabrina bei einer Pegida-Demo. Er erinnert sich an Episoden seiner Vergangenheit, an die alten Kämpfe, an die Begegnung mit den Müttern seiner Söhne, an die Streitereien mit Sabrina, an die Überfälle und Aktionen, an die Bemühungen Fuß zu fassen, an seinen Sohn. Dieses Leben hat keinen Zusammenhang, keinen sinnstiftenden Grund, es ist beliebig und dennoch hängt alles zusammen, was dieser Jörg Krippen in seiner Biografie zusammenfasst.

Spätestens als Mae über den Tod der Eltern erzählt, wird erkennbar, dass diese auf den ersten Blick in unzusammenhängenden Brocken, anachronistisch erzählte Geschichte im Grunde eine hochartifizielle Liebesgeschichte ist. Der Vater, der der Mutter in den Tod folgt? Kann Liebe so groß sein? Auch in diesen Zeiten und in diesen Kreisen?

Vielleicht. Und mehr ist nicht drin. Krippen liebt die Frau, die ihn als Deckung genommen und vor den Angriffen der Neonazis geschützt hat, die ihn beschimpft und mit ihm streitet. Er liebt den Sohn, der nicht sein leiblicher ist, weil sie eine gemeinsame Geschichte haben. Er liebt den Sohn, den er erst jetzt kennenlernt, weil er seine eigene Geschichte hat. Und er liebt auch Mae, die junge Frau. Ein liebender Mann? Was soll dem noch geschehen?

Titelbild

Michael Wildenhain: Das Singen der Sirenen. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608983043

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