Ein Plädoyer für Liebe und Demut

Michael Köhlmeiers Novelle „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ macht aus einem entrückten Heiligen einen Zeitgenossen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade einmal elf Monate nach seinem Tod wurde er heiliggesprochen. Das war Rekord im Jahre 1232. Und es betraf einen Mann, der am Ende seines Lebens gar nicht so sehr auf Rekorde aus war. Denn er hatte begriffen, dass es auf dieser Welt nicht darum geht, immer der Bessere, Belesenere, Coolere zu sein, sondern dass es das Leben an sich ist, das zählt. Oder um es mit dem österreichischen Schriftsteller Michael Köhlmeier und einem der zentralen Abschnitte aus seiner neuen Novelle Der Mann, der Verlorenes wiederfindet auszudrücken: „Sein ganzes Leben lang habe er gewünscht und gewünscht und gewünscht. Als wäre nicht genug, was ist. Ihm bange davor, dass wir Gott missverstanden haben. Was, wenn das Leben alles war, was er uns zu bieten hatte?“

Der heute 68-jährige Köhlmeier hat sich im Laufe seiner Karriere schon mit vielen Figuren aus der klassisch-griechischen Mythologie und der Welt von Bibel und Religionsgeschichte auseinandergesetzt. Über Telemach und Kalypso schrieb er Romane. Für das Radio erzählte er die bekanntesten Geschichten aus der antiken Sagenwelt sowie dem Alten und Neuen Testament nach. Hinzu kamen Neuerzählungen des Nibelungenliedes, der bekanntesten Shakespeare-Stücke von König Lear bis Wie es euch gefällt sowie von Märchen und Sagen aus seiner Heimat. Und natürlich stecken auch seine Novellen, Erzählungen und Romane, die sich vordergründig mit eher gegenwärtigen Themen beschäftigen, voller Anspielungen und Verweise auf die klassischen Texte, die er so gut kennt wie kein zweiter Schriftsteller heute.

Nun also Der Mann, der Verlorenes wiederfindet – womit natürlich kein Fundbüro-Mitarbeiter gemeint ist, sondern jener Heilige, dem von jeher eine solche Beredsamkeit nachgesagt wurde, dass ihm einmal sogar die Fische bei Rimini gelauscht haben sollen. Einer, der auf den Spuren des Franz von Assisi wandelte, als junger Augustiner-Chorherr gelegentlich aneckte mit seiner demonstrativ zur Schau gestellten Belesenheit und nach seinem Übertritt in den Franziskanerorden seines großen Vorbilds den Namen Antonius annahm, obwohl er in einer gutsituierten Lissaboner Adelsfamilie als Fernando Martim de Bulhões e Taveira Azevedo das Licht der Welt erblickte.

Köhlmeier erzählt die Geschichte des heiligen Antonius von dessen Lebensende her. Erschöpft macht der vom Volk Verehrte auf seiner letzten Reise in Arcela bei Padua Halt. Hier liegt er auf einer Trage auf dem Klostervorplatz. Essen und Trinken, die man ihm reichen will, lehnt er ab und bereitet sich innerlich auf eine letzte Rede vor, die er den dreitausend Gläubigen halten will, die zusammengeströmt sind, um den Mann, dem zahlreiche Wunder schon zu Lebzeiten nachgesagt werden, noch einmal zu sehen und – vor allem – zu hören. Es soll eine Art Credo werden, eine Zusammenfassung all dessen, was das Leben und das Studium zahlloser Bücher ihn gelehrt haben.

Und so holt er, während um ihn herum die Erregung wächst, innerlich weit aus, denkt an seine Kindheit in Portugal zurück, die Schul- und Studienjahre in Lissabon und Coimbra, die Versuchungen, denen er ausgesetzt war, und immer wieder an das Böse in der Welt und seine Ursachen. Hat er genug getan, um es zu bekämpfen? Reichen Reden überhaupt dazu, Habgier und Gewalt, Bosheit, Neid und Eifersucht in ihre Schranken zu weisen? Hat der Herr zu viel getan, als er Hiob wegen einer Wette zwischen sich und dem Teufel nacheinander alles wegnahm, was dessen irdisches Glück ausmachte? Und ist der Glauben des Menschen stark genug, ihn von allen Versuchungen fernzuhalten?

Ein Schlüsselerlebnis, das auch noch einmal in einem letzten Traum des Antonius wiederkehrt, ist dabei seine Liebe zu Bassima, der Tochter einer Schwarzen, die sein Großvater Gonçalo Mendes, der im Leben sein großes Vorbild war, schon kurz nach dem Tod seiner ersten Frau zu sich genommen hat, um fortan in einem von der Geistlichkeit nicht tolerierten, freien Verhältnis mit ihr zu leben. Aber der 14-Jährige ist nicht stark genug, um diese Liebe nach dem Tod des Großvaters gegen die Familie zu verteidigen. Wie dieser – „er war einer, der gern liebte und gern dachte und lachte, aber nicht gern kämpfte“ – harte Entscheidungen eher meidend, muss Fernando zusehen, wie Bassima und ihre Mutter aus dem Haus gejagt werden und er selbst bei den Augustiner-Chorherren landet.

Von Köhlmeier wird die aus Heiligenlegenden und Kalendergeschichten sattsam bekannte Geschichte des Antonius von Padua auf ganz neue Art erzählt. Der Zweifel, der seinen Helden ein Leben lang begleitet und noch auf dem Totenbett quält, wird dabei geschickt akzentuiert. Mal dienen unterschiedliche Blickwinkel der Relativierung – von den seiner letzten Rede Lauschenden meinen die einen, er habe über die Liebe, andere hingegen, er habe über den Hass gepredigt –, mal werden Wunder auf Träume zurückgeführt. „Erzähl, Chronist! – Erzähl uns aus seinem Leben!“, heißt es zu Beginn eines der ersten Kapitel, womit nicht nur ungeduldige Zuhörer imaginiert werden – später nimmt diese Ungeduld sogar noch zu, wenn man den Erzähler mit „Also sag’s uns endlich, Chronist! Wie war es gewesen“ bedrängt –, sondern auch die Erzählsituation etwas Archaisch-Ursprüngliches bekommt, etwas Vor-Literarisches, Mündliches.

Man fühlt sich als Leser, als säße man zusammen mit anderen im Kreis um den die letzten Tage des Antonius und das Leben, das auf diese Tage hinführte, Erzählenden. Einwürfe sind erlaubt, Zweifel an bestimmten Aussagen nicht verboten. Andererseits lauscht man aber auch nicht einem allwissenden, jeden Irrtum oder Zweifel ausschließenden Chronisten, sondern einem, dem durchaus klar ist, dass er sich aus unterschiedlichen, zum Teil einander widersprechenden Quellen bedient.

In Der Mann, der Verlorenes wiederfindet entsteht das Bild eines Mannes, der denjenigen, für die seine Geschichte erzählt wird, viel näher rückt, als das für einen Heiligen eigentlich opportun ist. Köhlmeiers Novelle holt Antonius von Padua vom Podest, macht aus einer Gestalt, die die Legende unserem Alltag weit entrückt hat, einen Zeitgenossen. Einen, der zweifelt, einen, der auch unbequeme Fragen stellt, einen ganz und gar Unruhigen, nicht mit sich und nicht mit den Verhältnissen in der Welt Zufriedenen bis zu seiner letzten Stunde. Und natürlich einen, der erkannt hat, dass statt Hoch- und Übermut Liebe und Demut dem Menschen besser zu Gesicht stehen.

Titelbild

Michael Köhlmeier: Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. Novelle.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
157 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256453

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