Deutscher als die Deutschen

Emilia Smechowskis „Wir Strebermigranten“ erzählt autobiografisch grundiert von einer kollektiven Erfahrung

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich wurde sie im August 1983 als Emilka Elźbieta Śmiechowska im polnischen Wejherowo unweit von Danzig geboren. Dort hatten sich ihre Eltern als junge Ärzte am Krankenhaus kennengelernt und kurz vor der Aufhebung des 1981 über Polen verhängten Kriegsrechts geheiratet. Aber der Sozialismus war „grau und stank nach Kohle“, die Läden waren nicht ganz leer, sahen aber aus „wie Läden heute aussehen, bevor sie dichtmachen“, und Emilkas Eltern dachten, es „würde sich eh nichts ändern, […], außer sie änderten es selbst.“ Also verließen sie 1988 ihre Heimat und suchten als Migranten in Westberlin ihr Glück. Sie machten den „polnischen Abgang“, wie die heute als Journalistin arbeitende Emilia Smechowski in ihrem ersten Buch Wir Strebermigranten schreibt.

Der aus einem mehrfach prämierten Essay hervorgegangene Text thematisiert ein Ankommen in der Fremde, welches sich im Zeichen des Nicht-auffallen-Wollens vollzog. Aus Emilka wurde Emilia, aus Elźbieta Elisabeth, aus Śmiechowska Smechowski. Nicht Wejherowo stand mehr in den Pässen der Smechowskis als ihr Geburtsort, sondern „Neustadt in Westpreußen“, und auf dem Pass prangte statt des polnischen weißen Adlers nun einer in Schwarz.

Doch auch was die Dinge des alltäglichen Lebens betrifft, versucht sich die anfänglich vierköpfige Familie – Vater, Mutter und zwei Töchter, zu denen später noch eine dritte hinzukommt – ihrer neuen Umgebung so schnell wie möglich anzupassen. Polnische Gerichte sind tabu, statt Piroggen kommen am Sonntag deutsche Kartoffelklöße auf den Tisch. War es in Polen üblich, nicht mehr als eine Geburts- und eine Heiratsurkunde zu besitzen – „Beide legte man in einen Karton und vergaß sie“ –, wird nun ein Ordner angeschafft, um alles Schriftliche, was die Familie betrifft, fein säuberlich abzuheften. Und auch fast 30 Jahre später hat die sich an ihre erste Zeit in Deutschland zurückerinnernde Autorin noch jenes „Psst!“ im Ohr, mit dem die Eltern jedesmal reagierten, wenn die Schwestern in der Öffentlichkeit Polnisch miteinander sprachen.

Wir Strebermigranten ist der Bericht über eine „Assimilation im Zeitraffer“, wie sie Hunderttausende polnischer Migranten – die zweite Migrantengeneration nach jener der 50er-Jahre – Ende der 80er-/Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts vollzogen. Dass inzwischen fast zwei Millionen polnischstämmiger Menschen in Deutschland lebten, bemerkte man deshalb damals kaum. Anders als etwa Türken, Libanesen, Syrer oder Russlanddeutsche bildeten sie von Anfang an kein „Wir“-Gefühl aus.

Im Gegenteil: Um den Traum von einem besseren Leben nicht zu gefährden, aus Angst, den einmal erreichten Status wieder zu verlieren, ging ihre Anpassung an die deutschen Verhältnisse bis zur Selbstaufgabe. Assimilation bedeutete für Menschen wie Emilia Smechowskis Eltern nicht anzukommen, sondern sich zu verstecken, so gut es ging. Niemand sollte ihnen mehr ihre Herkunft ansehen oder anhören. Damit stellten diese Menschen in der Tat freiwillig etwas dar, was auch angesichts der aktuellen Einwanderungsproblematiken nicht selten von Seiten der politischen Klasse als Forderung zu hören ist. Die Autorin drückt es zugespitzt so aus: „Wir sind die Wirklichkeit gewordene Phantasie eines rechtskonservativen Politikers, dem zufolge Einwanderer sich der neuen Gesellschaft anpassen müssen, die ihrerseits aber bleibt wie zuvor.“

Allein Smechowskis Bericht aus dem Inneren einer Einwanderungsgruppe, die wie keine andere darauf bedacht war, unsichtbar zu bleiben, nicht aufzufallen, deutscher als die Deutschen selbst zu erscheinen, ist auch die Geschichte einer Abnabelung. Die älter werdende Protagonistin gerät in immer stärkere Konflikte mit ihren Eltern und der Generationserfahrung, die sich in deren Anschauungen widerspiegelt. Sie versucht, sich dem Druck, der von dieser Seite permanent auf sie ausgeübt wird, zu entziehen, indem sie früh von zu Hause auszieht, in der Schule rebelliert, eine Opernsängerinnenkarriere anstrebt und wieder abbricht, um schließlich als Journalistin und mit einer eigenen Tochter, die zweisprachig aufwächst, ihr Glück zu finden. In genau dieser Weise hat inzwischen eine ganze Generation begriffen, dass man Heimat nicht einfach abstreifen kann mit dem Wechsel von einem Land in ein anderes. Mit Erstaunen und Erleichterung wird plötzlich wahrgenommen, dass Polnisches inzwischen „nicht mehr versteckt, sondern stolz hergezeigt“ wird: „Polnisches ist plötzlich cool geworden, und wir unsichtbaren Polen, Einwanderer der zweiten Generation, die mit ihren Eltern in den 1980er Jahren kamen, stehen etwas verwundert daneben und schauen zu.“

Wir Strebermigranten beginnt und endet mit einem Kapitel, das in Polen spielt, in Wejherowo. Ist es am Anfang der Schmerz darüber, sich von ihrem Kinderfreund Tomek nicht mehr verabschiedet zu haben, den die fünfjährige Emilka empfindet, als sie sich gemeinsam mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester auf einen Weg macht, von dem es kein Zurück gibt, sitzt sie am Ende wieder mit jenem Tomek zusammen und man resümiert. Die eine ist gegangen, der andere ist geblieben. Sie hat inzwischen einen Freund und eine Tochter, ihre Eltern sind im Westen wohlhabend geworden, aber inzwischen geschieden. Er hat geheiratet, eine geordnete Existenz aufgebaut, eigentlich genau das getan, was ihre Eltern sich immer von ihr gewünscht hatten. Unterschiedliche Lebensläufe – und doch aus ein und derselben Kindheit in Polen hervorgegangen, die immer noch verbindet, auch wenn ihnen inzwischen in einer kleiner gewordenen Welt alle Wege offenstehen. Aber Heimat ist eben doch mehr als das altmodische Konzept von einem Ort, um den ein Zaun zu bauen ist, damit er nicht verlorengeht: „Heimat ist, wo meine Zugehörigkeit nicht hinterfragt wird.“ Und das kann auch in der Fremde sein.

Titelbild

Emilia Smechowski: Wir Strebermigranten.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
223 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256835

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