Von Knechtschaft und Panoptikon zu Resozialisation und Wiedergutmachung

Franziska Dübgens Einführung in Theorien der Strafe zeigt Perspektiven dies- und jenseits der Rechtswissenschaft

Von Mario HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Letztlich ist Franziska Dübgens Theorien der Strafe eine Denkanregung. Zum Abschluss der historischen und systematischen Einführung fällt ein Blick auf aktuelle Entwicklungen: Die gesamtgesellschaftliche Debatte bewegt sich in Richtung Prävention. Der Begriff „Sicherheitsverwahrung“ ist in der Alltagskommunikation angekommen, davon abgesehen ist die soziale, ethnische oder nationale Herkunft der Verwahrten ein bestimmender Faktor der strafrechtlichen Maßnahmen. Vor diesem Hintergrund der möglichen politischen Instrumentalisierung und Selektivität stellt die Autorin die grundsätzliche Frage:

Wie [kann] Normstabilisierung – auf Basis eines Konsenses über schützenswerte Errungenschaften wie unter anderem die Unversehrtheit des Lebens, das Recht auf Bildung und sexuelle Selbstbestimmung – bei gleichzeitiger Minimierung von Gewalt auch jenseits des Reflexes zum repressiven Strafen erreicht werden?

Dass darauf keine einfache Antwort parat ist, liegt in der Natur der Sache. Gerade deshalb eignet sich das Buch hervorragend, einen differenzierten Blick auf die unterschiedlichen Theoriekonzepte hinter dem Strafen zu werfen.

Einfach formuliert, bedeutet Strafe im juridischen Bereich eine staatliche Sanktion als Folge einer Gesetzesübertretung. Die Gründe und Rechtfertigungen für Strafe sind jedoch vielfältig. Das Eingangskapitel mit seinen unterschiedlichen historischen Positionen zu relativen und absoluten Strafzwecktheorien bietet eine grundsätzliche Orientierung. Relative Straftheorien fokussieren auf die Zukunft und den Nutzen der Strafe für die Gemeinschaft, also auf die Verhinderung neuer Verbrechen. Absolute Straftheorien hingegen setzten Werte absolut, was eine retrospektive Bestrafung für begangene Taten normativ rechtfertigt. Mit der Ausnahme eines Exkurses zum Talionsprinzip beschränkt sich das Buch auf eine Diskussion von Positionen seit dem 18. Jahrhundert beginnend mit Cesare Beccarias Schrift Dei delitti e delle pene (Von den Verbrechen und von den Strafen, 1764).

Wie unterschiedlich die Beurteilungen von Strafen ausfallen können, zeigen zum Beispiel die historischen Argumente für oder gegen die Todesstrafe. Beccaria argumentiert gegen die Todesstrafe, da seiner Ansicht nach der Mensch gar nicht über das Recht verfügt, sein eigenes Leben im Gesellschaftsvertrag aufs Spiel zu setzen und fordert daher Gefängnis oder Knechtschaft. Immanuel Kant hingegen argumentiert für die Todesstrafe, da stets Gleiches mit Gleichem vergolten werden müsse. Die allgemeine Todesstrafe bei Mord sei nur dann auszusetzen, wenn durch die vielen Tode – in der Kantʹschen Vorstellung der Wiederherstellung der Gerechtigkeit – das Fortbestehen der Nation gefährdet wäre. Georg Wilhelm Friedrich Hegel nimmt eine Zwischenposition ein, die Gefängnis vorzieht, aber auch die Todesstrafe in bestimmten Fällen befürwortet. Für Friedrich Nietzsche, dem frühen Dekonstruktivisten des Rechts, unterscheidet sich die Todesstrafe als Handlung überhaupt nicht von Mord. Mit Blick auf Beccaria und Kant, die hier Extrempositionen markieren, zeigt sich auch in diesem Zusammenhang die notwendige, differenzierte Betrachtung des Begriffs und der Epoche der Aufklärung. Und dies auch im ganz populären Sinn: Das politische Rundumschlagargument, man müsse an die „Vernunft“ appellieren und die „Werte“ der Aufklärung verteidigen, ist und bleibt in dieser Form inhaltsleer.

Die Voraussetzung für Strafe ist – auch so im deutschen StGB verankert – die Schuld des Täters oder der Täterin. Was „Schuld“ dabei genau bedeutet, bleibt offen, auch im StGB. Wenn es zum Beispiel aktuell das Ziel ist, terroristische Aktionen zu verhindern, dann ist hier eine Rechtfertigungsstrategie für Strafe am Werk, die unabhängig von individueller Schuld operiert. Aber: Wo endet der Argwohn und wo beginnt der Verdacht? Diese, wie Dübgen schreibt, nach wie vor moralisch klärungsbedürftigen Interventionen Seitens des Staats richten sich am Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung aus. Davon unabhängig lässt sich die Frage nach Schuld(‑fähigkeit) auch anders stellen, anhand der philosophischen Debatte um Willensfreiheit und Determinismus, auch im Sinne neuerer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Hierin liegt eine der Stärken des Buchs, was auch mit dem prinzipiellen Konzept der Reihe Zur Einführung im Junius-Verlag zu tun hat: Das Ziel der Autorin, die unterschiedlichen Gründe und Rechtfertigungen für Strafen aufzuzeigen, beschränkt sich nicht nur auf rechtsphilosophische und ‑wissenschaftliche Perspektiven, sondern umfasst verschiedene (auch außereuropäische) Theorieentwicklungen. Neben den neurowissenschaftlichen Positionen finden auch feministische, postkoloniale, ökonomische und sozialwissenschaftliche Gehör. Ebenfalls gibt es neben dem bereits erwähnten Exkurs zum Talionsprinzip solche zur Geschichte des Panoptikons und zur südsaharischen, relationalen Ubuntu-Philosophie.

Summarisch betrachtet lassen sich die nach dem Eingangskapitel vorgebrachten, im besten Sinne diversen Positionen als Kritik am Strafen und einer Suche nach Perspektiven jenseits davon zusammenfassen, die auch radikale abolitistische miteinschließt. Leider verwandelt sich die fast durchgehend differenzierte Erörterung an manchen Stellen dabei in eine recht straffe Aufzählung; einige, eher historisch interessante Strömungen werden dagegen ausgebreitet. Zum Beispiel wird der historischen materialistischen Kritik relativ viel Platz eingeräumt, den unterschiedlichen Positionen zur transformativen Gerechtigkeit leider etwas wenig. Ein Kriterium einer Einführung und auch ihrer Bewertung kann natürlich nicht Vollständigkeit sein, jedoch wären gerade mit Blick auf die zeitgenössische Entwicklung weitere Positionen zu Konzepten, die strukturelle Bedingungen in den Blick nehmen, wünschenswert gewesen. Denn, wie Dübgen an anderer Stelle zusammenfasst: „Der prototypische Gefangene in Deutschland stammt aus einem armen Milieu […], ist männlich, zwischen dreißig und vierzig Jahre alt […] und migrantisch, wobei sich die Faktoren Race, Klasse und Gender wechselseitig verschränken.“ Erst die Faktoren „ökonomische Bedingungen“, „politische Institutionen“ und „soziale Praktiken“, die durch transformative Gerechtigkeitstheorien verstärkt in den Blick kommen, verschränkt mit dem Rechtsstaatswesen und dem demokratischen Prozess insgesamt, schaffen die nötige Basis für die Bewertung aktueller Entwicklungen.

Abschließend muss leider ein Satz in Richtung Lektorat geäußert werden: Gerade bei den Ausführungen zu Franz von Liszt und Friedrich Nietzsche fallen ein paar ungenaue Jahres- und Jahrhundertangaben auf, die im Kontext einer einführenden Darstellung verwirren könnten. Die Kritikpunkte sollen jedoch nicht überstrapaziert werden: Von diesen speziellen Einwänden abgesehen bietet die Einführung – im Rahmen des Junius-Möglichen – einen breitgefächerten, gut lesbaren und anregenden Überblick.

Titelbild

Franziska Dübgen: Theorien der Strafe zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2016.
216 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885067665

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