Auf leisen Sohlen

Ein neu herausgegebener Bildband von Henri Cartier-Bresson lehrt die Betrachter die Sprache der Fotografie

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas und Pablo RamacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pablo Ramacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Essenz der Fotografie, schrieb Henri Cartier-Bresson einmal, sei es, „ohne Zögern und in Sekundenbruchteilen einen Sachverhalt zu erkennen und die visuell wahrnehmbaren Formen, die diesen Sachverhalt wiedergeben und mitteilen, streng zu organisieren“. Dabei müssen „Verstand, Auge und Hertz […] auf eine Linie gebracht werden“, eine Maxime, die der berühmte und vielseitige Künstler stets befolgte.

1992 erstmals bei Schirmer/Mosel erschienen, stellte Cartier-Bresson in einer Auswahl von 155 Schwarz-Weiß-Fotografien die aus seiner Sicht wichtigsten Werke aus fünf Jahrzehnten in einem Band zusammen. Dieses seit Langem vergriffene Buch ist nun glücklicherweise wieder vom Verlag aufgelegt worden, wodurch das Hauptwerk des französischen Fotokünstlers, der als einer der bedeutendsten des 20. Jahrhundert bezeichnet werden kann und als Gründungsmitglied der Fotoagentur Magnum fotojournalistische Maßstäbe setzte, wieder einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird.

Wie vermutlich nur wenige andere Fotografen vermochte es Cartier-Bresson, die Einzigartigkeit des Augenblicks zu erkennen und festzuhalten, um dessen Essenz im Spannungsfeld von Dauer und Vergänglichkeit, Geometrie und Kontingenz, Geordnetem und Ungeordnetem, Konstruktion und Flüchtigkeit freizulegen. So scheint sich die Zeit in seinen Bildern gleich den Gezeiten zurückzuziehen, um einen seltenen Einblick in das zeitlose Dasein der Dinge zu gewähren. Damit sind weniger und seltener die pompösen Momente großer Reisen, die perfekten Szenen eines vollkommenen Lebens oder die Hervorhebung besonderer feierlicher Momente gemeint – gerade im Alltäglichen gelingt Cartier-Bresson die Aufhebung des Banalen, indem gewohnte Situationen, Orte oder Gegenstände durch ein unerwartetes, aus dem Rahmen fallendes Ereignis, einen ungewohnten Blickwinkel, Bildausschnitt oder kontrastreiche Lichtverhältnisse in einen neuen Bedeutungszusammenhang überführt werden. So etwa eine Fotografie aus dem Jahr 1933 am Strand von Arsila in Spanisch-Marokko, in welcher der weite, lichterfüllte Strand nahezu das ganze Bild einnimmt und die unterbelichteten, dunklen Silhouetten von Kindern bei einem Ballspiel zwischen Ankern und Schiffstauen schemenhaft zu erkennen sind. Oder wie in einem Bild aus den letzten Tagen des Koumintang-Regimes 1948 in Peking, in dem eine schweigende, dunkle Menschenmasse auf einem weiten Platz, der weiteren politischen Entwicklung harrend, einem einzelnen Wachmann gegenüber steht, während im Hintergrund palastartige Bauten des Jahrtausende alten China im Dunst zu erkennen sind.

Auf diese Weise sind Bilder entstanden, die den Betrachter mit den Grundlagen der Wahrnehmung und deren Grenzen konfrontieren und ihm die Möglichkeiten unseres Erkenntnisvermögens zur Erfassung der uns umgebenden Umwelt, im Wechselspiel von sinnlicher und verstandesmäßiger Erkenntnis, vor Augen führen. Hierbei ist Cartier-Bresson stets die Natürlichkeit der Darstellung von großer Bedeutung, die nach seinen eigenen Worten dem Künstler „Konzentration, Sensibilität und Sinn für Geometrie“ sowie eine gewisse „Selbstverleugnung“ abverlangen. Entsprechend ist jedes seiner Bilder von einer einfühlsamen, nahezu dokumentarischen Zurückhaltung gezeichnet, in dem Bewusstsein der Darstellungstranszendenz der Welt und der Tatsache, dass eine zwanghafte, voreingenommene Positionierung letztlich das Gesagte korrumpiert. So bleibt das Einfangen des flüchtigen Momentes, trotz aller Strenge in der Organisation der wahrnehmbaren Formen, in letzter Instanz jenseits von Konstruktion.

Dabei steht im Mittelpunkt seines Werkes immer wieder der Mensch und seine Umwelt. In einem Bild aus dem Jahr 1948 sind Frauen aus Srinagar, Kaschmir, in ihren traditionellen langen Tuniken, zwei von ihnen sitzend, zwei stehend, eine von ihnen in einer andachtsvollen Haltung die beiden Arme auf Gesichtshöhe haltend, am Rande eines besiedelten Tales vor dem Hintergrund einer eindrücklichen in Wolken liegenden Bergkette zu sehen, auf einem anderen Bild aus dem Jahr 1933 in den Trümmern einer Straße Sevillas spielende Kinder, eines davon auf Krücken, während wiederum ein weiteres Bild aus dem Jahre 1949 die sakrale Anmut dreier balinesischer TänzerInnen in einer Darbietung auf einem Dorfplatz zur Schau stellt. Hierbei gelingt es Cartier-Bresson, auch Bilder von leisem Humor einzufangen, wie die 1926 geschossene Aufnahme eines dunkelgekleideten Paares auf einem hellen Kieselstrand in Dieppe, das unter einem schwarzen Schirm, der die Gesichter verdeckt, liegt, wobei der Mann die überkreuzten Beine auf lustige Weise in die Höhe streckt, oder auch von subtiler Trauer, wie in einem Bild aus dem Jahr 1959, aufgenommen in Ivry-sur-Seine. Es ist die Fotografie eines alten, auf Klappstühlen an einem breitem Baumstamm sitzenden Paares, das ernst vor sich hin blickt und den Rücken einer Flusslandschaft mit modernen Industriegebäuden zuwendet.

Neben den inhaltlichen Entfaltungen, die das Nachdenken über die abgebildeten Geschehnisse und deren zeitlicher Einordnung anregen, ist das Werk Cartier-Bressons von einer konstruktiven Vielfalt durchzogen, die das kunsthistorisch geschulte Auge nicht übersehen kann. Abgesehen von den klaren kubistischen Einflüssen erinnern viele der Fotografien auch an die nicht zuletzt auch aus der Fotografie hervorgegangenen zahlreichen Strömungen der modernen Kunst. So etwa lassen manche Landschaftsaufnahmen strukturell an die Abstraktionsleistung eines Jackson Pollock denken, einige Porträts an die ausdrucksstarke und doch nüchterne Zurückhaltung des Neuen Realismus; immer wieder ist neben dem klassischen Fall des offenen Bildrahmens auch das Spiel mit der am Bildrand perfekt abgeschlossenen Konstruktion des Gemäldes vor der Geschichte der Fotografie vorzufinden, ohne diese jedoch lächerlich zu machen. Stets ist dem betrachtenden Auge mit einer Geometrie gedient, die sich für die mögliche Deutung der Fotografien als wegweisend herausstellt und sich zugleich wie eine abstrahierende Schicht über das Bild legt und dabei vom Bedeutungszusammenhang ablöst, um ihre volle ästhetische Wirkkraft zu entfalten. Dabei changiert die Fotografie zwischen der Auswahl und Planung des Künstlers, der in einem Moment die Entscheidung für einen Bildausschnitt fällt, und der Kontingenz des Ereignisses, das sich in die Fotografie einschleicht wie ein kleines Wunder, das nun für die Augen der zukünftigen Betrachter konserviert wurde.

Die Bilder spielen so auch mit dem Betrachter als Voyeuristen – ohne ihn zu verurteilen – und zuweilen mit ihrem eigenen ontologischen Status als Fotografie. Die Rahmung eines Ereignisses, der Blick der Menschen in die Kamera oder stolz an ihr vorbei oder ein Kind, das ein gerahmte Fotografie auf offener Straße trägt: All das wusste Cartier-Bresson einzusetzen. Seine berühmten Aufnahmen von Salvador Dalí oder auch Pablo Picasso sind dabei den Aufnahmen anonymer Gesichter ebenbürtig. Es gibt kein abgestuftes Podest für die Dargestellten und auch der Fotograf scheint bescheiden hinter dem Apparat zu stehen, fast so, als sei ihm das alles einfach irgendwie geschehen und als wäre Fotografie die einfachste Sache der Welt. Zurückhaltung ist das Motto des Künstlers:

Man nähert sich auf leisen Sohlen, auch wenn es sich um ein Stillleben handelt. Auf Samtpfoten muss man gehen und ein scharfes Auge haben. […] Kein Blitzlicht, das versteht sich wohl, aus Rücksicht vor dem Licht, selbst wenn es dunkel ist. Andernfalls wird der Photograph unerträglich aggressiv. Das Handwerk hängt stark von den Beziehungen ab, die man mit den Menschen herstellen kann. Ein Wort kann alles verderben, alle verkrampfen und dicht machen.

Aber auch eindeutige ethische Positionierungen finden sich in den Bildern des Fotokünstlers, wie in einem 1950 in Indien aufgenommenem Bild. Zu sehen ist ein ausgehungertes Kind auf dem Arm seiner Mutter am Straßenrand, das den Betrachter mit einem strengen, fast feindseligen Blick ansieht, während im Hintergrund das brusthohe Rad eines Pferdewagens zu sehen ist – ein hinduistisches Sinnbild für das Rad der Zeit, Kala Chakra, und der wahren Natur des Geistes, Manas Tattva. Oder in dem Bild eines Laboraffens aus dem Jahr 1967, der zum Zweck neurowissenschaftlicher Untersuchungen in Berkeley, Kalifornien, in einer Apparatur sitzend festgehalten wird, die in etwa die eine Bildseite einnimmt, seine eigentlich freien Arme und Hände fest an eine Plexiglasplatte krallend, während sein Kopf unbeweglich an eine Elektrode fixiert ist, die mit einer entsprechenden technischen Gerätevorrichtung, die die andere Bildhälfte einnimmt, verbunden ist.

Doch gerade weil Cartier-Bresson sich bei seinen Aufnahmen in Zurückhaltung übt, haben seine Fotografien unabhängig vom jeweiligen politischen, moralischen und sozialen Kontext Bestand. Gerade in einer Zeit, in der Bild und Ton überpräsent sind, strahlen seine Bilder aus einer Zeit, in der noch große Teile der Erde fotografisch nicht erschlossen waren, eine große Ruhe aus und vermögen so dem Betrachter, sich und seine Umwelt wieder auf kontemplative Weise vor Augen zu führen und dabei zugleich einen Zustand eingehender Reflexion zu evozieren. Auch deshalb mag sich dem Betrachter der Fotografien eher ein zufälliges Aufschlagen der Seiten anbieten, um in diesen einzigartigen Bilderkosmos einzutauchen. Der Bildband verfügt dabei anders als in anderen Ausgaben neben den hervorragend gedruckten Fotografien über Angaben zu Ort und Aufnahmejahr. Unabhängig von diesen wertvollen Informationen ist es jedoch immer das Bild, das bleibt, ganz getreu dem Ausspruch Man Rays: „Natürlich wird es immer diejenigen geben, welche nur auf die Technik schauen und fragen ‚wie‘, während andere, neugieriger Natur, fragen werden, ‚warum‘. Persönlich habe ich immer Inspiration vor der Information bevorzugt.“ Bei Cartier-Bresson wird beides in einem geleistet.

Titelbild

Henri Cartier-Bresson: Die Photographien. Die vom Künstler selbst ausgewählten Hauptwerke aus den Jahren 1929 bis 1979.
Mit einem Text von Yves Bonnefoy.
Schirmer/Mosel Verlag, München-Bogenhausen 2016.
344 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783829607766

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