Eine Fabel über Verblendung und Opportunismus

Irene Diwiak liefert mit „Liebwies“ ein buntes Debüt

Von Karin S. WozonigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin S. Wozonig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Schwestern aus einem märchenhaft gottverlassenen Dorf in den Bergen, die eine schön, eitel und unbegabt, die andere ein musikalisches Naturtalent, mit einer wunderbaren Stimme gesegnet und hässlich – für welche der beiden wird sich der berühmte, verwitwete Musikexperte und Mäzen aus der Stadt wohl begeistern, welche der beiden wird er wohl zu sich holen, um sie zu fördern? Durch Erpressung bringt der blind oder eher: taub in die schöne Gisela verliebte Christoph Wagenrad diese im Konservatorium des Juden Zwirbel und dort in den Gesangsstunden der Russin Kurnikova unter. Der Roman spielt in den 1920er bis 40er-Jahren und ein jüdischer Gesangslehrer, dessen Schülerinnen ihm „aus rassischen Bedenken“ den Rücken kehren, muss auf die Verirrungen des berühmten Kenners eingehen, der die begabte Karoline links liegen lässt und sich stattdessen ein Ausbildungsprogramm für die dünne Stimme Giselas überlegt.

Neben der verpassten Chance des Mr. Johnson nimmt sich allerdings die der hochbegabten Hässlichen, die nach ihrem ersten und einzigen großen Auftritt in der Dorfkirche von Liebwies aus dem Buch verschwindet, mickrig aus. Mr. Johnson erfindet im Jahr 1898 immerhin Twitter und das dazugehörige tragbare Gerät. Das Startkapital für die Umsetzung seiner Idee, das er sich ausgerechnet in der k. und k.-Monarchie bei der Streichholzfabrikantin Padinsky holen will, bekommt er aber nicht. Verweigert wird ihm die Anschubfinanzierung von Frau Padinsky in einer bizarren Verhandlung, während der die Industrielle so ganz nebenbei ihre Tochter Ida zur Welt bringt. Diese eingestreute Geschichte tut nichts weiter für die Romanhandlung, ist aber ein feines Beispiel für Irene Diwiaks Talent für kleine, bunte Skizzen, deren es mehrere in dem Buch gibt. Vom verhinderten Erfinder heißt es:

„Johnson verließ wortlos das Zimmer, wortlos das Haus, wortlos das Land. Er ließ das Erfinden und Unternehmen sein und wurde Farmer. […] In einem Sommer verlor er all sein Vermögen durch ein katastrophales Unwetter, im Herbst desselben Jahres baumelte er an einem Seil von einem Apfelbaum.“

Ida Padinsky, das so nebenbei zur Welt gebrachte Kind, bleibt anfangs in ihrer Umgebung nebensächlich. Sie ist eine farblose, langweilige Erscheinung, zeichnet sich aber durch ihre Gabe für das Komponieren aus. Sie verlobt sich Hals über Kopf und man könnte meinen, eher aus Versehen, mit dem viel älteren, frauenfeindlichen und selbstherrlichen Schriftsteller Gussendorff. Mit dieser Figur nimmt der Roman Fahrt auf; die Beschreibung seines Selbstbilds, seiner Wünsche und Gedanken gehört zu dem Gelungensten des Buchs. Gussendorff ist berühmt und eingebildet und wir erfahren über ihn: „An manchen Tagen konnte er kaum schreiben, weil ihn die Faszination für seine eigene vielschichtige Persönlichkeit davon abhielt.“ Seiner talentierten Frau verbietet er das Komponieren. Sie aber macht damit im Geheimen weiter.

Als Zwirbel und Kurnikova mit der ihnen aufgenötigten talentfreien Gisela ein Abschlusskonzert zu geben haben, verspricht ihnen Gussendorff eine geeignete Oper, ein Musikdrama mit einer bis auf ein einfaches Schlusslied stummen Hauptrolle. Dass Gussendorf gar nicht dazu fähig ist, eine Oper zu schreiben, macht nichts, denn zufällig findet er die Stücke seiner Frau und stellt sie zu einer Oper mit dem Titel „Die Gräfin der Stille“ zusammen. Gisela, die sich nach ihrem Heimatdorf Liebwies nennt, wird durch diese Partie über Nacht zum Star, ihre Ausstrahlung und ihre Schönheit genügen dafür.

Irene Diwiak verbindet in ihrem Roman die teils skurrilen Figuren und Handlungsstränge mit dem Aufstieg der Nazis. Leichtfüßig, nicht immer makellos, aber eingängig präsentiert die Autorin ihr Panoptikum. Ein bemerkenswertes Debüt, das von einer seltenen Freude am Fabulieren zeugt.

Titelbild

Irene Diwiak: Liebwies. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2017.
335 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783552063471

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