Der Kampf der Krokodile

Ijoma Mangolds Suche nach Identität

Von Josef SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Mitte seines Lebens legt der prominente Literaturkritiker Ijoma Alexander Mangold mit Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte eine Autobiografie vor, die – gemäß seinen kokettierenden Worten – aus einem Überfluss an Zeit und dem Bedürfnis nach „freierem Schreiben“ entstand. Das Ergebnis ist ein geistreiches und sprachmächtiges Buch – allerdings kein Roman, und schon gar kein Bildungsroman, wie andernorts behauptet wird. Es fehlt schlicht an Fiktionalität, darüber kann auch nicht die Erzählung der Kindheit aus auktorialer Perspektive zum Zwecke der Distanzierung hinwegtäuschen.

Der wohlgewählte Titel Das deutsche Krokodil bezeichnet, wie der Leser bald erfährt, eine schwere Güterzuglokomotive der Deutschen Reichsbahn, die der kleine Ijoma als Märklin-Eisenbahn zu Weihnachten geschenkt bekommt. Gleichzeitig entfaltet der Titel die Dichotomie, die Mangolds Leben, vor allem die Kindheit, dominiert: deutsch (sein) versus afrikanisch(e Wurzeln). Diese Bipolarität verschärft ein bedrohlicher Gegenspieler, nämlich ein aus Ebenholz geschnitztes schwarzes Krokodil, das mitten in der deutschen Wohnstube jedem Gast die „dunkle“ Herkunft des Kindes vor Augen führt, zumindest in der Einbildung des Kindes.

Ijoma Mangold entstammt der kurzen Verbindung eines nigerianischen Medizinstudenten und einer Deutschen, die aus Schlesien geflüchtet ist. Bald trennt sich der Vater von der Familie, er hinterlässt dem Sohn jedoch sein unauslöschliches genetisches Erbe: eine dunkle Hautfarbe und krauses Haar. Und genau diese äußeren Merkmale empfindet das Kind als Abweichungen von der „deutschen Norm“. Die ständige Furcht, eben darauf angesprochen zu werden und damit das Deutschsein abgesprochen zu bekommen, halten den Jungen in ständiger Alarmbereitschaft und lassen ihn fortan teils kuriose, teils anrührende Anpassungsstrategien entwickeln. Alle gutgemeinten Versuche der Mutter, über das Offensichtliche und dessen Ursprung, das heißt den Vater und Afrika zu sprechen, blockt das Kind beharrlich ab. Ohnehin ist diese unkonventionelle Mutter – ohne Fernseher, ohne Auto, gar ohne Führerschein, ohne Mann, dazu noch „Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin“ ohne ausreichende Einkünfte – dem Sohn keine rechte Hilfe bei seiner Suche nach Orientierung, Ordnung und Normalität. Vielmehr löst ihr normverkennendes Verhalten bei ihm eine permanente Beschämung aus. Erst als Erwachsener erfährt und erkennt Mangold, dass es die Mutter gewesen ist, die ihn in seiner scheinbar rosigen Kindheit vor zahlreichen verbalen Übergriffen beschützt hat.

Die Fähigkeit des Jungen zur Dissoziation von seinem äußeren Erscheinungsbild ist erstaunlich. Als seine – aus medizinisch-hygienischen Gründen erfolgte – Beschneidung bei Mitschülern bekannt wird und Spott hervorruft, lässt er diesen gelassener über sich ergehen, nachdem geklärt ist, dass die Beschneidung nichts mit seinen afrikanischen Wurzeln zu tun hat. Diesbezüglich hilft auch der Hinweis auf die Juden, den der erleichterte Junge mit der unschlagbaren Logik eines Kindes kommentiert: „Wenn schon Ausländer, dann lieber Jude als Afrikaner“.

Die Adoleszenz Mangolds umfasst all die normalen Unwägbarkeiten der Jugend, die offenen und die subtilen Rangkämpfe in einer Schulklasse, die Aus- und Abgrenzungen, die sanften und weniger sanften Reibungen mit Autoritäten. In diesem Lebensabschnitt entdeckt und entwickelt der Autor aber auch seine Leidenschaft zum Theater, zur deutschen Musik, vor allem zu Richard Wagner, und zur deutschen Literatur, vor allem zu Thomas Mann.

Nach dem Abitur folgt ein mehrmonatiger Aufenthalt in den USA, dann der Zivildienst in München, wo Mangold anschließend sein Studium der Literaturwissenschaften und der Philosophie aufnimmt. Plötzlich drängt sich der Vater in das Leben des 22-Jährigen. Nach einigem Vorgeplänkel reist Mangold für zwei Monate nach Nigeria. Die uneingeschränkte Zuneigung seiner neuen Familie nimmt er erstaunt entgegen, aber letztlich empfindet er sich als Fremder, getrennt durch Kultur und Religion.

„Blut ist dicker als Wasser.“ „Und auch ich würde sagen: Blut ist mächtig.“ Solche Aussagen prägen das Nigeria-Kapitel. Neben der primär intendierten Familienzugehörigkeit beinhalten in Afrika solche Feststellungen allerdings eine weitere Konnotation, denn auch die Clan- und Stammeszugehörigkeiten definieren sich über das Blut. Was daraus entstehen kann, hat nicht nur das blutreichste Exempel Ruanda gezeigt. Es ist befremdlich, wie Mangold über diese primitive Blutideologie einfach so hinwegzuschreiben vermag, zumal als geschichtsbewusster Deutscher. Er zieht aus diesen Feststellungen auch keine Folgen für seine eigene Identität. Ganz anders ist er aus den USA zurückgekehrt. Denn von dort hat Mangold ein Gefühl der „Zugehörigkeit zu einer mir bis dahin unbekannten [i.e. schwarzen] Erfahrungsgemeinschaft“ mitgebracht, von dem er sich in Deutschland stets distanziert hat.

Den Plan des Vaters, den nach dem Tod zweier jüngerer Söhne nun einzigen Stammhalter als seinen Nachfolger zu installieren, als Häuptling des Dorfes und als Verwalter seines Lebenswerks, eines Krankenhauses, sitzt Mangold mit der in der Kindheit eingeübten Passivität und der Verweigerung weiterer Nigeria-Besuche aus, bis der Vater nach elf Jahren sein beharrliches Werben ohne Klage aufgibt.

Im folgenden, mit Obama überschriebenen Kapitel, dem zweifellos bedeutsamsten des Buches, reflektiert Mangold seine Erfahrungen als Dunkelhäutiger in der deutschen Gesellschaft und benennt nun auch erfahrenen Rassismus. Sein Fazit fällt dennoch positiv aus. Luzide arbeitet er sich am Begriff der Assimilation ab, um – vorhersehbar – zu dem Ergebnis zu gelangen, dass in seinem Falle Assimilation gar nicht möglich war und ist. Denn infolge der Absenz des Vaters gab es keine nichtdeutsche Kultur zu dissimilieren. Bei allem Verständnis bleibt Mangold hier zu sehr auf sich selbst zentriert. Ohne Schwierigkeiten hätte er aufbauend auf seinen Erfahrungen und Beobachtungen, mit seinem Intellekt und seiner Medienpräsenz einen erheblichen gesellschaftspolitischen Beitrag entwickeln können.

Ein kleines literarisches Denkmal setzt Ijoma Mangold anschließend seiner Mutter, indem er die letzten Reisen mit ihr schildert und anrührend erzählt, wie er die krebskranke Frau die letzten Wochen bis zum Tod in seiner Wohnung begleitet. Der Text ist eine einzige Liebeserklärung an sie.

Das Schlusskapitel aber gebührt der jüngsten Schwester aus Nigeria, inzwischen zu einer extravaganten Hutdesignerin herangereift, die mit ihrer fulminanten Präsenz Berlin bereichert und den geliebten Bruder zu Heirat und rechtem Glauben zu bewegen sucht. Ein grandioser Abschluss.

Die Kritik meint es gut mit dem deutschen Krokodil. Doch nicht alles ist Mangold gelungen. Über einige unreflektierte Formulierungen (zum Beispiel „innerer Reichsparteitag“) und subjektive Generalisierungen, die das Buch durchziehen, mag man hinwegsehen, nicht jedoch über die Episode um den Besuch der berüchtigten Odenwaldschule im Jahre 1985.

Zu beanstanden ist zunächst die geschilderte Begegnung mit Fritz von Weizsäcker, dem jüngsten Sohn des damaligen Bundespräsidenten, der 1985 angeblich dort Schüler gewesen ist. Doch die Begegnung hat nachweislich nicht stattgefunden. Eine Verwechslung mit dem älteren Bruder Andreas ist ebenfalls ausgeschlossen, da dieser die Schule spätestens 1976 verlassen hat. Für die Aufklärung dieses Erinnerungsirrtums kann nur Mangold selbst sorgen.

Unverzeihlich ist die Formulierung zum Vater des geradezu angehimmelten Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker: „Sein Vater war zwar ein Nazi, aber Staatssekretär im Außenamt war jedenfalls nicht piefig.“ Eine solche Aussage ist dem jugendlichen Mangold nachzusehen, aber keinesfalls dem erwachsenen Autor. Er hätte wissen müssen, zumindest aber nachlesen können, dass der hochrangige Diplomat und SS-Mann Weizsäcker an Deportationen französischer Juden nach Auschwitz beteiligt war und deswegen in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt wurde. Ein Urteil übrigens, das der Bundespräsident, der seinen Vater in Nürnberg als Jurist unterstützte, zeit seines Lebens anzuerkennen nicht bereit war.

Was der 14-jährige Mangold in Begleitung seines ephebophilen Mentors nicht zwingend wissen, was ihm aber später nicht entgehen konnte und was er als Autor auf keinen Fall hätte verschweigen dürfen: Von 1972-1985 herrschte an der vermeintlich reformpädagogischen Odenwaldschule der pädosexuelle Verbrecher Gerold Becker, der zusammen mit anderen Tätern Schutzbefohlene regelmäßig sexuell missbrauchte. Dies im Rückblick nicht zu erwähnen und gleichzeitig den eigenen Aufenthalt in jugendlich-naiven Tönen zu schildern, kann nur als Verhöhnung der Opfer empfunden werden.

Trotz dieser Kritik ist Mangolds Geschichte insgesamt kurzweilig und interessant, amüsant und ernsthaft, vielschichtig und tiefgründig – und damit unbedingt lesens- und empfehlenswert.

Titelbild

Ijoma Mangold: Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
345 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498044688

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