Genau hinschauen, auch wenn es uns den Magen umdreht

Birgit Vanderbekes Roman „Wer dann noch lachen kann“ zieht das Thema häusliche Gewalt aus dem tabuisierten Schatten

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles im Leben steht miteinander in Verbindung. Als sich die Erzählerin in Birgit Vanderbekes neuem Roman Wer dann noch lachen kann nach einem Autounfall in die Hände des Therapeuten Monsieur Mounier begibt, erkennt dieser, was ihr vor Jahrzehnten widerfahren ist. Ihre Mutter hatte sie von Arzt zu Arzt gebracht und sie mit starken Psychopharmaka ruhiggestellt. Ihr Vater schlug sie blutig. „Vielleicht tun alle nur so, als ob das vergangen wäre, und in Wirklichkeit ist es gar nicht weit weg, sondern hier und jetzt“, erkennt die Erzählerin.

Vergangenheit und Gegenwart sind im Roman virtuos miteinander verwoben. Vanderbeke lässt ihre Leser den Schrecken einer Kindheit voller Gewalt dosiert näherkommen. Sie erlaubt es der Erzählerin, sich mahnend und kommentierend direkt an den Leser zu richten. Sie erlaubt dem Leser kurze Atempausen – jedoch nur, um ihn danach noch tiefer und intensiver zu fassen. Die einfachen Sätze, in denen sich die Erzählerin in ihre Kindheit versetzt, verstärken das Grauen. Wenn sie davon berichtet, wie es war, wenn „es losging“, der Vater die „Stoppschilder“ übersah und man leider „nicht so appetitlich“ aussieht „mit einem blauen Auge und der Platzwunde am Kinn […] und dem Blut überall“, betritt der Leser das Abteil der Seele eines Kindes, dem die Angst vor dem Tod ein alltäglicher Begleiter geworden ist. Das Kind zieht sich zurück in eine Traumwelt, in der ein „Mikrochinese“ auf dem Globus neben dem Bett sitzt und mit ihr spricht. Ängste umfangen den Verstand und legen sich über jeden Gedanken. Und an den Leser gewandt erklärt die Erzählerin: „Wenn Sie darüber nachdenken: Sie leben auch manchmal in anderen Welten.“

Sobald sich die Tür zu den anderen Welten schließt, beginnt der Horror: „Mein Vater fing auch immer erst ein bisschen an […], aber sehr oft verpasste er den Moment, wo er zur Besinnung hätte kommen und noch aufhören können.“ Ein geradezu absurdes Mitgefühl und Verständnis äußert sie für ihren Vater, der „wahrscheinlich […] gar nicht mittendrin aufhören“ könne. Kindlich-naiv überlegt die Erzählerin, dass es „zu schade und überhaupt ein Jammer“ wäre, wenn jemand erschlagen würde. Der große Bruder des Vaters, Gaston, hatte bereits „seine Frau erschlagen“. Die Grenzen verschwimmen, aus „wenig“ wird mehr, und „dann ist es wie bei einem Erdbeben“. Während der Leser das Buch in den Händen hält, steigert sich die Angst, die Angst vor der Gewaltspirale und dem möglichen Ende der Geschichte, die Angst vor der letzten ungeöffneten Schachtel, deren Inhalt den Blicken des Lesers verborgen bleiben muss. „Hörst du, das bleibt in diesen vier Wänden. Kein Sterbenswörtchen zu irgendjemandem davon. Auch nicht zu deiner Mutter“, sagte schließlich auch der Vater zu seiner Tochter.

Damals war die Erzählerin sich sicher, dass es „niemanden gab, der auf mich aufpassen würde.“ Sie wendet sich direkt an den Leser: „Und ich kann Ihnen nur versichern: Es wäre nicht schlecht, Sie wüssten das auch.“ Wie sehr hatte sie sich gewünscht, dass die Mutter einmal bei den Nachbarn klingelt. Niemand half ihr. Häusliche Gewalt ist bis heute ein tabuisiertes Thema, obwohl es gesellschaftliche Ächtung verdient, schreibt die Polizei Hessen auf ihrer Internetpräsenz und ergänzt, dass jährlich bis zu 45.000 Frauen in Frauenhäusern Schutz suchen. In einem online angebotenen Leitfaden wird betont, für eine gewalttätige Beziehung sei es symptomatisch, dass das Ausmaß und die Häufigkeit der Gewalt kontinuierlich zunehmen. Die Polizei erklärt, dass häusliche Gewalt und Gewalt im sozialen Nahraum keine Privatsache sind und „vom Staat nicht toleriert“ werden.

Doch der Staat kann nicht helfen, wenn Nachbarn weghören. Denn sie „kriegen mit, dass es nebenan ziemlich laut wird und gar nicht mehr aufhört, das Weinen oder das Bitte-nicht, und wenn jemand gegen den Schrank knallt oder einen Stuhl auf den Kopf kriegt, tut es einen dumpfen Schlag.“ Birgit Vanderbeke ruft nicht nach dem Staat, der vieles gar nicht sehen kann. Sie prangert an, dass wir uns an zu vieles gewöhnt haben und wegsehen. Sie will, dass hingehört wird; sie verlangt Aufmerksamkeit. So wie der Arzt im Roman wegsieht, von dem die Mutter die „Minipille“ für ihr Kind haben möchte. Draußen führt der Vater ein ordentliches Leben, wird befördert, macht Karriere bei Hoechst. Freudig pfeifend kommt der Peiniger von seiner Geliebten zurück ins Schlachthaus, in dem so viel Blut und Tränen vergossen werden. Wenn es dann laut wird, müsse man genau hinschauen. „Wenn man es sich anschaut, wenn man ganz genau hinschaut, dreht es einem den Magen um.“ Das sei schließlich immer so. Armut, Krieg und Gewalt drehen uns den Magen um. Also sehe man nicht so genau hin, um das Frühstück genießen zu können. Vanderbeke zieht das Thema aus dem tabuisierten Schatten, richtet einen Spot auf das Opfer und entfaltet damit eine große Wirkung. Wer dann noch lachen kann ist kein Buch, das man zuschlägt und schnell vergisst. Deshalb verdient es Beachtung.

Titelbild

Birgit Vanderbeke: Wer dann noch lachen kann. Roman.
Piper Verlag, München 2017.
159 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058391

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