War is not dead

Robert Prosser dringt mit dem beeindruckenden Roman „Phantome“ ins Schattenreich des Balkankrieges von 1992 ein

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Emir hütet sein Kassettengerät wie einen Schatz. Aus den Kopfhörern sind harte Rhythmen zu vernehmen, mit Vorliebe Punks not dead von The Exploited. Doch die brachialen Klänge übertönen das Gedröhn des Krieges nur zwischendurch. In der Wiener Turnhalle, die zu einer provisorischen Flüchtlingsunterkunft umgenutzt wurde, hält es Emir mit all den anderen Bosnienflüchtlingen nicht aus; er will wieder zurück an die Front. Sein Gerät lässt er zurück. Anisa wird es finden und sich seine Musik anhören.

Emir ist eine Nebenfigur in Robert Prossers Roman Phantome – ein Phantom des Balkankrieges von 1992, das nach Bosnien zurückkehrt und dort vielleicht verloren geht. Anisa trägt die Erinnerung an ihn weiter. Wie Emir hat sie Dinge gesehen, die sich nicht leicht aus dem Gedächtnis löschen lassen. Täglich nimmt Anisa eine kleine Inventur ihrer Habseligkeiten vor, um sich ihrer selbst zu versichern. Unter diesen Dingen befindet sich eine „retournierte Rot-Kreuz-Nachricht“ an den Vater. Von ihm wie auch von ihrem serbischen Freund Jovan hat sie seit der Flucht nichts mehr gehört.

Prosser dringt in seinem Roman bis zur Front in dieses gespenstische Grauen ein. „Krieg der Psychopathen“ titelte damals der Spiegel. Das ist die eine Seite, die der Roman schildert. Ihr antwortet der „Krieg“ der Opfer, den diese gegen ihre schrecklichen Erfahrungen und bösen Erinnerungen auszutragen haben, sowie gegen die Ungewissheit, wo ihre Kinder, Eltern, Geschwister, Nachbarn geblieben sind. Robert Prosser, der 1992 ein Junge von neun Jahren war, nähert sich dem Stoff über die nach und nach verbleichende Erinnerung von Betroffenen an. Der erste der drei Teile  des Romans lässt einen jungen Mann erzählen, der sich 2015 in der Graffiti-Szene umtreibt. Seine Freundin Sara, Tochter der erwähnten Anisa, nimmt ihn mit nach Bosnien und vermittelt ihm fragmentierte Einblicke in den vergangenen Krieg. Sein „Hunger nach Nervenkitzel“ ist nicht mit der Lust der Kriegsgurgeln von damals zu vergleichen. Dies macht ihm spätestens die Gedenkfeier „Srebrenica ne jamais oublier“ deutlich, an der er teilnimmt. Er erkennt, wie im heutigen Bosnien zwanzig Jahre später „ein fortlaufender Widerstand geschieht, gegen die Politik und die Propaganda und für die eigene Würde“. Wie belanglos erscheint dagegen ein simples Graffiti, das nur öffentlich seine Anwesenheit kundtut: „Ich.War.Da“. Und dennoch, sagt sich der Erzähler, bekundet dieses „Ich.War.Da“ wenigstens seine „rebellische Einstellung“. Dieser Erzähler ist vielleicht auch der Autor des mittleren und längsten Teils des Romans.

Im Zentrum dieser historischen Rückblende steht das bosnisch-serbische Liebespaar Anisa und Jovan. Wechselweise wird erzählt, wie die beiden durch die gewaltsamen Ereignisse einander verlieren. Anisa flieht in die Wälder, schlägt sich in den Ruinen von Zvornik durch, überquert schließlich die Front und gelangt nach Wien, wo sie eine Weile braucht, um zu akzeptieren, dass ihr künftiges Leben hier stattfinden wird. Derweil wird Jovan in die Armee eingezogen und verliert jäh seinen Traum von der Malerei. Er desertiert nach Belgrad, wird wieder aufgegriffen und an die Front zurückgebracht. Zur Strafe teilt ihn der Kommandant einem Sonderkommando zu, das bosnische Männer exekutieren muss. Der Blick seines Gegenübers wird ihn vier lange Jahre im Fronteinsatz unter der Fuchtel der Tschetniks, denen keine Quälerei zu grausam ist, verfolgen.

Wie Emir findet auch Jovan Trost durch ein Kassettengerät, mit dem er, der serbische Soldat, sich bosnische „Sevdahs“, Bluesmelodien, anhört und sie auswendig lernt. Die Fronten sind nur in den Köpfen der Ideologen und Idioten scharf gezogen. Nochmals begegnen wir Jovan, dieses Mal als Ich-Erzähler, im kurzen dritten Teil, der wie der erste im Jahr 2015 spielt. Er verbringt seine letzten Tage im Knast und rekapituliert, wie er noch immer gegen „die fast leeren Augen“ in seiner Erinnerung ankämpft.

Im ersten und dritten und zu weiten Teilen auch im zweiten Teil des Romans verlässt sich Robert Prosser mit großer Anschaulichkeit und Anteilnahme auf die vermittelte Wiedergabe von Erinnerungen ans Kriegsgeschehen. Im coolen Szenejargon des Sprayers wird im ersten Teil ein Bosnien erfahrbar, das zwischen Trauer und Aufbruch schwankt. Eine junge Generation kifft, feiert und sprayt wie der Erzähler selbst. Doch über allem liegt der schwere Schatten der Vergangenheit, den die Erzählung von Jovan und Anisa im Mittelteil etwas lüftet. Mit feiner Wahrnehmung wechselt Prosser hierfür den Stil, um mit seinen beiden Figuren, insbesondere mit Jovan, direkt ins Kriegsgeschehen einzutauchen. Der Erzähler bleibt nahe an dessen Wahrnehmung, die sich verdunkelt, wenn Jovan unter der Fülle der Grausamkeiten in eine Bewusstlosigkeit abtaucht. Das ist mit bemerkenswerter Dichte und Eindringlichkeit beschrieben. Die Unmittelbarkeit des Bürgerkriegs und Völkermords wirkt in diesen Passagen spektakulär und beweist Robert Prossers Sprachkraft. Dabei scheut sich der Autor nicht vor grellen Schilderungen, die, so ein kleiner Vorbehalt, mitunter sehr effektvoll wirken.

Die Berichte und Erinnerungen Anisas, die das Grauen (dem Erzähler wie den Lesern) nur vermitteln, behalten mit ihrer Trauer und Ungewissheit zuletzt größere Eindringlichkeit. In einer Nachbemerkung weist der Autor darauf hin, dass „mein Bosnien“ eines sei, das „durch die berührenden, aufwühlenden, unvergesslichen Erfahrungen und Begegnungen existiert, die ich machen durfte“.

Der geringe Einwand ändert nichts daran, dass Prosser mit Phantome ein ausgesprochen mutiges und bewegendes Buch gelungen ist, das kundtut, wie sich eine jüngere Generation mit den Gespenstern der Vergangenheit konfrontiert, ohne sich davon die eigene Zukunft verdüstern zu lassen. Es ist die Kernaufgabe jeder Generation, für die Würde und die Hoffnung zu kämpfen und sich dafür eine rebellische Einstellung zu bewahren.

Titelbild

Robert Prosser: Phantome. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2017.
336 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783961010097

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