Wenn Abgründe sichtbar werden

Wahrheit gegen Lüge: In ihrem neuen Roman „Everland“ konfrontiert Rebecca Hunt ihre Figuren mit existenziellen Konflikten und daraus resultierenden Wahrheiten

Von Caroline LissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Liss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Antarktis 2012: Wissenschaftlerin Brix, Feldassistentin Jess und Biologe Decker bestreiten die Expedition zur fiktiven Insel Everland. Was zunächst sehr märchenhaft klingt, erweist sich im Laufe des Romans als unberechenbares, lebensfeindliches Unterfangen, denn die Naturgewalten der Antarktis sind auch mit modernstem Equipment nicht einfach zu bewältigen.

Brix, Jess und Decker sind nicht die ersten, die sich diesem Wagnis stellen. Bereits 1913 hat eine sehr ähnliche Dreierkonstellation – Biologe Dinners, Erster Offizier Napps und Seemann Millet-Bass – sich auf das ewige Eis gewagt und ist dabei kläglich gescheitert: Nur Dinners wurde seinerzeit (lebend) gefunden und starb kurz darauf auf dem Rettungsschiff. Die Tragödie dieser ersten Exkursion wird innerhalb der Fiktion historisiert und dem zweiten Forscherteam anlässlich der 100-jährigen Jubiläumsexpedition durch einen Film gezeigt. Dieser als (vermeintlich) wahr ausgewiesenen Dokumentation liegen die Aufzeichnungen des Kapitäns Lawrence zugrunde, dessen Logbucheinträge Tatsachen bewusst verfälschen. Dies hat zur Folge, dass Dinners nachträglich zum Opfer Napps’ angeblicher Taten und als tragischer Held portraitiert wird.

Indes erklären nachfolgende Generationen Anführer Napps und Gefährte Millet-Bass zu Verrätern, die Dinners hilflos zurückließen, um ihre eigene Haut zu retten. Nun wird ein zweites Forscherteam eben jene gescheiterte Forschungsreise antreten und dem eisigen, gefährlichen Ort und dessen Geheimnissen auf die Spur kommen. Dabei stellt sich dem Leser im Anbetracht der äquivalenten Ausgangssituation die Frage, ob es Brix, Jess und Decker genauso ergehen wird wie Napps, Dinners und Millet-Bass noch ein Jahrhundert zuvor und was seinerzeit – obgleich der Ausgang der ersten Forschungsreise von vorn herein bekannt ist – wirklich auf Everland geschah.

Die Zeitebenen beider Exkursionen verlaufen eng getaktet und größtenteils parallel; im stetigen Wechsel werden die Ereignisse der Expedition von 1913 und der ‚aktuellen’ von 2012 geschildert, weshalb sich der anfängliche Eindruck, dass sich nicht nur die Charaktere der beiden Forscherteams ähneln, sondern ebenso deren Erlebnisse korrespondieren, im Laufe des Romans bestätigt. Ein Schneesturm, der durch beide Lager und Erzählebenen fegt, Dinners und Brix, die sich praktisch ‚zeitgleich’ verletzen – je stärker sich die beschriebenen Motive spiegeln, desto spannender wird es. Schließlich wird die unterbewusste Frage, ob sich die tragischen Ereignisse von damals nun wiederholen werden, immer zentraler.

Hunt zeichnet physische wie psychische Veränderungen der Figuren und ihre Beziehungen zueinander, hervorgerufen durch die Einflüsse von Isolation, Kälte, Hunger und die Ungewissheit des Überlebens, äußerst feinsinnig nach. Ohne Verwendung bereits bekannter Floskeln oder gängiger Hollywood-Klischees beschreibt sie die Charaktere klar und in einfacher Sprache, sodass man diese schon länger zu kennen glaubt, ihre Entscheidungen nachvollziehen kann und tatsächlich mit ihnen fühlt. Mittels Rückblenden und Perspektivwechsel einzelner Figuren, welche Rückschlüsse hinsichtlich Charakterzügen, Hintergründen und Motivationen selbiger zulassen, kreiert Hunt tiefgründige Figuren und gewährt dem Leser somit Einblick in deren Psyche, anstatt nur an der Oberfläche zu kratzen.

Dies hat zur Folge, dass die ganze Wahrheit den Gerüchten sowie verbreiteten Lügen der Nachwelt gegenübergestellt wird: Nach und nach lassen sich der unvollständige Handlungsstrang der damaligen Ereignisse und die Psychologie, Motivation und das Innere der einzelnen Figuren zusammensetzen und infolgedessen die vermeintlich dokumentarischen Beschreibungen aus Kapitän Lawrences Logbuch zu überraschend großen Teilen widerlegen, wodurch bis zum letzten Wort die Spannung aufrechterhalten bleibt.

Nach ihrem ersten Roman, Mr. Chartwell, in dem es um einen riesigen schwarzen Hund geht, der sich Mr. Chartwell nennt und Churchills Depressionen verkörpert, folgt mit Everland eine Geschichte, in der die Londoner Schriftstellerin und studierte Malerin Rebecca Hunt umsichtig die wahren Reaktionen von Menschen illustriert, wenn diese Extremsituationen ausgesetzt sind.

Hunts differenzierte, empathische Beobachtung zwischenmenschlicher Beziehungen und ihr elegant-akkurater Umgang mit Themen wie existenziellen Konflikten und hierarchischen Strukturen ergeben einen eindringlichen Roman, der außerordentlich gut gelungen ist und sowohl aufgrund seiner Konzeption als auch seiner erzählerischen Ausgestaltung zu lesen lohnt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Rebecca Hunt: Everland. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von pociao.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
412 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874630

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