Das Ich und sein Erfahrungsraum ‒ eine Mystik der Moderne

Ein kulturtheoretischer Zugang zu George Batailles „Die innere Erfahrung“

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die nun vorliegende Neuauflage von Georges Batailles Die innere Erfahrung könnte Anlass sein, der deutschen Rezeption dieses vielschichtigen Werkes nachzuspüren und dessen Einfluss auf die kulturelle Produktion zu bestimmen. Tatsächlich aber gibt es – von wenigen Ausnahmen abgesehen − keine nennenswerte Rezeption in Deutschland. Bataille spielt gegenwärtig im akademischen Betrieb kaum eine Rolle. Ohne Gerd Bergfleths rastloses Bemühen, Batailles theoretisches Werk zu übersetzen, wäre die Rezeption wohl gar nicht erst möglich, da Bataille die Sprache gerade in Die innere Erfahrung bewusst an die Grenze des Verständlichen treibt.

Wie also lässt sich Batailles so offensiv nicht-diskursives Werk in den aktuellen Diskurs einspeisen – und in welchen? Wie der zu früh verstorbene Gerhard Pretting auf Ö1 festgehalten hat:

In Zeiten wie diesen, wo jeder Raucher als Mörder, jeder, der ein Glas Wein trinkt als Selbstmörder und jeder, der ohne Helm Fahrrad fährt, als Wahnsinniger angesehen wird ‒ in solchen Zeiten ist ein Denker wie Bataille, der immer und immer wieder auf das Recht der Grenzüberschreitung pocht, der immer wieder zeigt, dass das Leben nur in seinen intensivsten Momenten lebenswert ist, wichtiger denn je.

Der derzeitigen Angestelltenkultur, dem Geist der Selbstoptimierung und des Qualitätsmanagements, in der es kein falsches Leben mehr im Richtigen gibt, widerspricht ein Denken (das als Philosophie zu klassifizieren schon eine unzulässige Systematisierung ist), das sich den Exzessen der inneren Erfahrung ebenso öffnet wie der Totalität des Selbst. Das Buch bekennt sich nicht nur offensiv zum Fragmentarischen, ist oft gekennzeichnet durch eine fast aphoristische Verdichtung, sondern bleibt bewusst unsystematisch ‒ der Eindruck eines systematischen, diskursiven oder gar dialektischen Denkens soll gar nicht erst entstehen, da die innere Erfahrung genau das Gegenteil diskursiven Denkens darstellt. So bekennt Bataille lapidar, dass eigentlich nur der zweite (und zuerst verfasste) Teil notwendig war und die anderen Teile „aus dem löblichen Bestreben heraus, ein Buch zu verfassen“ geschrieben wurden. In den bibliografischen Anmerkungen weist Bergfleth darauf hin, dass Maurice Blanchot (dessen Essay Die innere Erfahrung im Buch enthalten ist) es für unmöglich hielt, Die innere Erfahrung zu rezensieren. In seinem Essay bemüht Blanchot sich ‒ ebenfalls in einer poetisch exzessiven Sprache ‒ die Gedankengänge des Buches nachzuvollziehen. Das ist dort besser gelungen, als es hier möglich wäre, auch weil der Nachvollzug der „inneren Erfahrung“, wie Bataille sie beschreibt, kaum noch realistisch sein dürfte. Zu sehr ist sie historisches Ereignis eines Denkens im Geiste Friedrich Nietzsches im Zeitalter der Zerstörung. Teile des Buches wurden nach dem ersten Weltkrieg verfasst, die Komposition des Ganzen während des zweiten Weltkrieges geleistet ‒ immer wieder finden sich spätere Kommentare zu zuvor Geschriebenem. Manchmal ist Bataille sich offensichtlich selbst unverständlich geworden, oft ist er unzufrieden mit der Art und Weise, wie er etwas ausgedrückt hat. So gesteht er selbst noch in einem Postskriptum von 1953, er hasse die Umständlichkeit und Dunkelheit des Buches. Große Teile des Werkes sind daher besonders von zeitgeschichtlichem Interesse.

Dennoch bleibt es in hohem Maße anschlussfähig, wenn man bereit ist, sich auf ein „wildes Denken“einzulassen und nicht den Baukasten zu einer Methode sucht ‒ dass Bataille die Wissenschaft als „unterwürfig“ und „verkrüppelt“ denunziert , sollte man berücksichtigen, sich davon aber auch nicht abschrecken lassen. Hier einige Vorschläge, Bataille neu zu lesen:

1. Bataille hatte keinerlei kulturtheoretische Ambition mit Die innere Erfahrung. Dennoch lässt sich das Werk (und andere ebenso) fruchtbar machen. Ernst Cassirers systematischeres Denken vom Menschen als animal symbolicum kann den Grundton geben für eine Kulturtheorie, die sich an Clifford Geertzʼ Überlegungen zum kulturellen Deutungsgewebe orientiert. Wenn Bataille feststellt: „Was die Menschen angeht, so ist ihre Existenz an die Sprache gebunden“, so ist das genuin noch nichts Neues. Nur bewegt Bataille sich anders als seine Vor- und Nachdenker konsequent auf diese Grenzen der Sprache zu und umkreist mit der „inneren Erfahrung“ (die er auch mit den Begriffen „souveränes Denken“ und „Meditation“ zu fassen sucht) das Unaussprechliche. Er nähert sich einem Zustand reinen Seins, der jeder kulturellen Codierung vorgängig ist: „Wer nicht daran ‚stirbt‘, nur ein Mensch zu sein, wird immer nur ein Mensch sein.“ Die Bewegung eines solchen Denkens sprengt kollektive Ordnungsmuster, indem es die Individualität bis zu ihrer Negierung steigert. Die „innere Erfahrung“ wäre gerade als Erfahrung eine glaubhafte Korrektur von Cassirers Vorstellung, dass die symbolische Welterschließung unhintergehbar ist und der Mensch ihr nicht entkommen kann ‒ ebenso darf Kultur nicht als Erklärung für alles herangezogen werden. Als sprachlich bestimmte Wesen ist unser Dasein stark an kulturelle Erklärungsmuster gebunden; jedes Individuum birgt aber einen Bereich von Erfahrungen, die dem vorgängig sind und sie jederzeit transzendieren können.

2. Wie schon Alfred N. Whitehead den Konflikt zwischen dem Solitär-Sein des Menschen und seiner gesellschaftlichen Konstitution als wesentlich für die Religion gesehen hat, arbeitet auch Bataille an diesem Dualismus. Die „innere Erfahrung“ ‒ wie sich unschwer denken lässt ‒ ist radikal individuell, ja strukturiert durch hoffnungslose Einsamkeit. Das Buch selbst, als notwendig scheiternder Versuch, über die Erfahrung zu sprechen, ist schon wieder Bezug auf die Gemeinschaft, um die Einsamkeit zu überwinden. Andererseits ist die Gemeinschaft unabdingbar: „für sich allein ist jedes Wesen unfähig, glaube ich, bis zum Äußersten des Seins zu gehen. Wenn es das versucht, ertrinkt es in einem ‚Besonderen‘, das nur für es selbst Sinn hat“. Allerdings ist es wiederum der Nichtsinn, der die „innere Erfahrung“ ermöglicht, da jeder Sinn eine Zielvorstellung und damit ein Projekt impliziert (als Projekt fasst Bataille zielgerichtete Denkbewegungen oder Tätigkeiten). Dennoch lässt die „innere Erfahrung“ sich nicht betreiben als wäre man der letzte Mensch: „Indessen weiß ich mich als Reflex der Menge und der Summe ihrer Ängste.“ Von hier ist es nicht weit zu Émile Durkheims Vorstellungen von der Religion als eminent gesellschaftliche Kraft. Die „innere Erfahrung“, die als „Atheologische Summe I“ präsentiert wird, ist grundsätzlich ein religiöses Unterfangen.

3. So ist der Schritt zur Mystik nicht weit. An ihr arbeitet Bataille sich vorzüglich ab. Wie kaum ein Denker des 20. Jahrhunderts nähert er sich mystischen Vorstellungen an, um doch immer wieder die Distanz zur Mystik zu betonen (die so groß, wie Bataille sie sieht, nicht ist). Er beharrt auf einer Mystik ohne Gott, dennoch gleicht die „innere Erfahrung“ in vielem der mystischen Versenkung. Bataille geht es nicht um eine unio mystica, er betont das leere Zentrum seiner Erfahrung, das die postmoderne Ästhetik erst Jahrzehnte später entdeckt, und es versäumt, sich an seinem Denken zu schulen. Sind erotische und poetische „Ergießung“, das Lachen, die Ekstase, die Trunkenheit oder das Opfer Techniken der „Meditation“, so sind damit Grenzerfahrungen bezeichnet, in denen auch die Mystiker ihr Ich bis zur Grenzenlosigkeit steigerten, in denen sie sich auflösten, verschwanden und sich als Gott neu gebaren. Wie die moderne Literatur entkommt Bataille einer Jenseitsfixierung, indem die „innere Erfahrung“ radikal als Augenblick gedacht wird ‒ eine Epiphanie, die keinen höheren Sinn aufscheinen lässt, sondern den Menschen in einem Bereich des Sinnlosen momenthaft erlöst (hier knüpfen seine Ökonomie der Verschwendung und seine Thesen über das Opfer an).

Wie bei wenigen anderen Büchern wird man sich bei Die innere Erfahrung seiner subjektiven Rezeptionsleistung bewusst. Einige Passagen bleiben völlig unverständlich und wirr; dennoch steigen aus anderen Sätzen immer wieder Ideen auf, die zuvor Durchdachtes präziser werden lassen ‒ es ist dann nur zu deutlich, dass dies eine singuläre Erfahrung ist, die nicht teil- oder auch mitteilbar ist. Das entspricht Batailles Blick auf den Menschen, der im Rausch der Erfahrung in Teilchen, Energien und Wellen zerfällt, die sich in einem Austauschprozess mit der Umwelt, den er schlicht „Kommunikation“ nennt, immer wieder neu zusammensetzen. Teile des Buches lesen sich wie ein populärer Zugang zu Theorien fernöstlicher Medizin, dem Yoga oder der Homöopathie ‒ was aber weniger dem Buch schadet, als der Plausibilität dieser Zugänge nutzt, wo sie ernsthaft verfolgt werden. Wenig verwunderlich sieht Bataille die „Lehre“ der „inneren Erfahrung“ näher an derjenigen der Yogis als der Professoren.

Die innere Erfahrung ist ein ermüdendes Buch, das bei der Lektüre intellektuell anstrengend ist, das ebenso oft anzieht wie abstößt. Gleichzeitig ist es Dokument eines (scheinbar) radikal aufrichtigen Denkens, das in seiner Bewegung präsentiert wird und das in seiner Dynamik und Reichhaltigkeit stärkeren Eingang in den gegenwärtigen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb finden sollte, der in all seinen turns durch die Überbetonung der kollektiven Konstitution des Seins die „innere Erfahrung“ marginalisiert.

Titelbild

Georges Bataille: Die innere Erfahrung. Nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953 (Atheologische Summe I).
Mit einem Essay von Maurice Blanchot.
Übersetzt aus dem Französischen von Gerd Bergfleth.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
284 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573544

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