Typographeum versus Cyberspace

Walter Grond untersucht Kunst und Alltag der virtuellen Welt

Von Ernst GrabovszkiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ernst Grabovszki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Thema hat unzweifelbare Konjunktur: die virtuelle Welt und ihr Einfluß, zumindest ihre Beziehung zur 'realen'. Vielleicht beziehen Schlagwörter wie 'Cyberspace' oder 'virtuelle Realität' ihre Attraktivität aus ihrem Potential des Fremden und Unbekannten. Unsere 'Welt', die von Kontrasten und Gegensätzen politischer, geographischer und sozialer Natur geprägt ist und insofern definierbar ist, wird im virtuellen Raum aufgelöst in einen schwellenlosen Prozeß des Austausches und Überwindens realer Grenzen, so möchte man meinen. Aber eine offene Informationsgesellschaft hat schon Vilém Flusser als eine Utopie beschrieben, weil dazu die sozial-psychischen Voraussetzungen bei den Menschen selbst fehlen. Flussers Gedanke erscheint deshalb erfrischend, weil er die Stoßrichtung der Mediendiskussion umkehrt: die Medien formen keine sozialen Konstellationen, sondern stoßen auf solche, die trotz ihres Potentials an Veränderungsfähigkeit auf Widerstand stoßen.

Auch der österreichische Autor Walter Grond hat sich der Thematik der globalen Vernetzung angenommen. Netzwerkkultur ist für ihn eine rezeptionsästhetische Kategorie: "Netzwerkkultur beinhaltet all die prägenden Momente der Moderne und Postmoderne, verstärkt und vollendet sie - die Technisierung der Sinne, die Umgestaltung von Raum und Zeit, die Auflösung des Meisterwerks gerade im Moment, als es am meisten gilt. Was zum revolutionären Kulturwandel führt, sind aber nicht die Maschinen, sondern deren Benutzer - das Publikum, das seinen Rang einfordert".

Grond entwirft freilich keine neue Kulturtheorie, sondern bezieht sich auf theoretische Ansätze des Postkolonialismus, der Globalisierung oder postmoderner Standpunkte über die Auflösung von Autorfunktion, über Zeit- und Raumvorstellungen: die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Literatur der 'Peripherien', der Dritten Welt oder ehemaliger Kolonialländer, die mittlerweile intensiv diskutierten Gefahren der Globalisierung, die etwa die Differenz zwischen arm und reich noch radikaler hervortreten läßt oder schließlich das Verschwinden des 'Autors' im Cyberspace, der das Anrecht auf seinen Text als Besitzer und Urheber verliert, weil sein Text im grenzenlosen digitalen Raum fortgeschrieben wird. Darüber hinaus hat sich die Topographie der gegenseitigen Begegnung, haben sich die Voraussetzungen für Kommunikation verändert. 'Fremdes' und 'Eigenes' stehen infolge von Globalisierungsprozessen, aber auch infolge von gegenläufigen Tendenzen wie 'Glokalisierung' oder 'Fragmentierung' neuen Formen des Nationalismus in wechselnden Konstellationen gegenüber.

Grond differenziert den gegenwärtigen Kulturpessimismus: nicht die Kunst komme an ihr Ende, sondern die bisherige Vorstellung von der Kunst als einziger Möglichkeit, Wirklichkeit zu erkennen; vor allem die Fähigkeit der Kunst, den Erfahrungshorizont zu erweitern, werde eingeschränkt: "Was heute tatsächlich ans Ende kommt, ist die Vorstellung der Kunst als Avantgarde, als Gewissen einer politischen Kultur, und hiermit auch die Konzeption der Avantgarde als dem eigentlich Hohen, als der Kunst, die Zukunft vorwegnehme." Kunst und Alltag, Bildung und Unterhaltung stellen keine Gegensätze mehr dar. Daß sich die Sozialgeschichte der Literatur im allgemeinen, die Buchgeschichte etwa im besonderen den angedeuteten Entwicklungen stellen müssen, dürfte offenkundig sein. Der diachrone Blick relativiert und objektiviert übertrieben euphorische oder pessimistische Erklärungsansätze, was die Rolle und die Funktion der digitalen Medien betrifft. Vielleicht kann gerade damit das Verhältnis zwischen Gutenberg-Galaxis und neuen Medien neu überdacht werden. So läßt sich etwa an der im Internet entstandenen Literatur zeigen, daß sie sich kaum noch von der literarischen Gattungs- oder Formentradition ganz zu trennen vermag, man denke nur an Ilija Trojanows Text "Autopol" (1997), der in seiner elektronischen Realisierung das romantische Ansinnen eines Gesamtkunstwerks (hier Text und Bild und Ton) variierte oder an Rainald Goetz' Aufzeichnungen "Abfall für alle" (1998f.), die sich der Textsorte Tagebuch/Arbeitsjournal zuordnen lassen. Das Typographeum ist also mit dem (literarischen) Cyberspace eng verbunden.

Was trotz der Hinweise auf die gesellschaftspolitische Tragweite des medialen Umwälzungsprozesses oft unter den Tisch gekehrt wird, ist die Tatsache, daß sich dieser Prozeß nur in der westlichen Hemisphäre in dieser Intensität vollzieht, weil nur hier die technischen und ökonomischen Voraussetzungen vorhanden sind, die diesen Prozeß vorantreiben können. Das vermeintlich demokratische (oder demokratisierende) Medium Internet ist etwa für einen Einwohner Zentralafrikas oder Chinas aufgrund von Zensur oder fehlender technischer Ausstattung keinesfalls dieselbe Verheißung wie für einen Mitteleuropäer. Dan Schiller hat darauf hingewiesen, daß 1995 nur drei Prozent der Weltbevölkerung eine Zugangsmöglichkeit (sprich einen PC) zum Netz hatte, und - kaum vorstellbar - mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung habe noch niemals telefoniert! Wovor also nach wie vor zu warnen ist, ist die alte ethnographische und postkolonialistische Forderung einer einseitigen eurozentristischen Sichtweise, was angesichts der immer wieder betonten dezentralistischen und dezentralisierenden Eigenschaft gerade des Internets - oder, McLuhan zufolge, aller elektrischen Medien - naheliegen sollte. Auch Begriffe wie Digital- oder Techno-Generation sind für eine westliche bzw. amerikanisierte Gesellschaft zutreffend, können aber nicht auf alle Gesellschaften angewendet werden.

Was Gronds Essays schließlich empfehlens- und lesenwert macht, ist die Parallelisierung vieler medien- und kunsttheoretischer Ansätze nicht nur dieses Jahrhunderts. Somit entsteht ein wertvolles Konglomerat aus Medien-, Literatur- und Gesellschaftsanalyse, das den literarhistorischen Diskurs intelligent und wachsam fortschreibt.

Titelbild

Walter Grond: Der Erzähler und der Cyberspace. Essays.
Haymon Verlag, Innsbruck 1999.
160 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3852182948

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