Eine Ethik der Migration?

Frank Dietrichs Sammelband bietet eine nüchterne Bestandsaufnahme angelsächsischer Begründungen für den Umgang mit Migration

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Philosophie schlägt zurück – könnte ein Resümee angesichts einer Reihe von unlängst vorgelegten Publikationen zum Thema „Ethik der Migration“ lauten. Nachdem in den letzten Jahren die öffentliche Diskussion über das Thema „Flüchtlinge und Migration“ zu einem großen Teil von Panikmache, diffusen Ängsten und politischer Stimmungsmache geprägt war, liegen mittlerweile mehrere Stellungnahmen von Philosophen vor, die Argumente zu einer Rationalisierung der Debatte bieten. So schlug Konrad Ott in seinem schmalen Bändchen Zuwanderung und Moral (2016) vor, die einschlägigen Beiträge den Bereichen entweder der Gesinnungs- oder der Verantwortungsethik zuzuordnen. Julian Nida-Rümelin stellte in seinem Anfang dieses Jahres erschienenen Band Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration (2017) einer kosmopolitischen Haltung in der Migrationsfrage eine kommunitaristische gegenüber. Er spricht sich darin für eine Aufrechterhaltung von Staatsgrenzen aus. Die Grundfrage ist dabei stets: Wie sollen sich wohlhabende, westliche Gesellschaften angesichts der internationalen Flüchtlings- und Migrationskrise verhalten? Lässt sich eine Zurückweisung des Begehrens von Flüchtlingen und Migranten um Aufnahme ethisch auf eine rationale, transparente und verantwortungsvolle Weise rechtfertigen?

Der von Frank Dietrich herausgegebene Reader Ethik der Migration versammelt zehn Schlüsseltexte angelsächsischer Autoren zum Thema. Die Herkunft der Autoren und die Entstehungszeit der Beiträge (die meisten publiziert in den 1990er Jahren, keiner nach der Flüchtlingskrise 2015) sorgen für einen angenehm nüchternen und unaufgeregten Ton. Dass acht der zehn Beiträge für den Band übersetzt werden mussten, verrät viel über das Selbstverständnis unseres Landes, in dem ein rationales, ideologiefreies Nachdenken über den Umgang mit Flucht, Flüchtlingen, Migration und Einwanderung jahrzehntelang nicht stattgefunden hat. Dementsprechend fanden sich auf dem Buchmarkt auch kaum Überlegungen und Begründungen von deutschen Ethikern und Philosophen. Die zwei Texte des Bandes, die bereits in Übersetzung vorlagen, stammen von Klassikern der zeitgenössischen Philosophie: Michael Walzer und Peter Singer. Die argumentative Gegensätzlichkeit der Textsammlung verdeutlichen bereits zwei Zitate auf der Rückseite des Bandes. Dort findet sich ein Satz aus dem Beitrag von David Miller: „Ich habe dafür argumentiert, dass es kein allgemeines Recht auf Migration gibt“. Ihm hält Joseph Carens entgegen: „Wir sollten die Freiheit zu migrieren als ein Menschenrecht anerkennen.“ Wie sehen nun die Argumentationen im Einzelnen aus?

Um den Umgang von Staaten mit Flüchtlingen zu vergleichen, sucht Michael Walzer in dem hier abgedruckten Auszug aus seinen berühmten Sphären der Gerechtigkeit nach Analogien für den Staat und dessen Aufnahmepolitik. Eine solche Analogie vermeint er, im Wesen von Vereinen zu erblicken: So wie diese darüber bestimmen dürfen, wen sie aufnehmen, so gehöre es auch zu den ureigensten Souveränitätsrechten von Staaten, darüber zu befinden, wie sie die Auswahlprozesse für die Aufnahme neuer Bürger gestalten. Für Walzer sind Staaten mit ihren Wesensmerkmalen (Territorium, Volk, Grenzen) unabdingbar und alternativlos, denn sie bürgten im Gegensatz etwa zu einem Weltstaat für die innere Kohärenz ihrer Bevölkerungen. Eine solche Kohärenz, die für ihn eine besondere lokale oder nationale Kultur bedeutet, könne es aber nur geben, wenn sie eine Grenze, eine Abgeschlossenheit besitze. Daher sei es legitim, im Fall einer großen Zahl von Flüchtlingen eine Auswahl zu treffen, damit sich das Aufnahmeland nicht selbst in seinen Distinktionsmerkmalen gefährde. Dementsprechend müsse das Auswahlkriterium, so Walzer recht schwammig, dasjenige der engeren Beziehung zu unserer eigenen „Lebensweise“ sein. Walzer schlägt sich somit, wenn eine Gegenüberstellung von „Interessen einer Staatsbevölkerung“ versus „Interessen von Flüchtlingen“ aufgestellt wird, eindeutig auf die Seite der Staatsbevölkerung, was er letztlich mit deren legitimem Recht auf die Wahrung ihrer eigenen (und von Walzer als einheitlich wahrgenommenen) Lebensweise begründet.

Peter Singers Argumentation bedient sich utilitaristischer Topoi, wenn er zuerst in einem Gedankenexperiment fragt, wie man sich verhalten würde, wenn man sich in einem sicheren unterirdischen Bunker befände, während draußen eine große Menschenmenge um Einlass bittet, um dem sicheren Tod zu entgehen. Hat man die Pflicht, diesen Migranten Einlass zu gewähren? Singer macht sich die Antwort nicht einfach, wägt er doch sowohl eine Reihe von Interessen der Staatsbürger als auch der Flüchtlinge ab. Solange die Nachteile einer Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten für die aufnehmende Gesellschaft gering und verkraftbar seien, hätte man die Pflicht zur Grenzöffnung. Erst wenn eine übermäßig große Belastung durch eine ungebremste Einwanderung zu erwarten ist, dürfe man die Aufnahme im Interesse der Eingesessenen verweigern, so Singer am Ende seiner utilitaristischen Gratwanderung.

Wie lässt sich nun, nach diesen zwei doch gewichtigen und kritischen Stimmen hinsichtlich einer ungehinderten und ungebremsten Migration, dennoch zugunsten eines Menschenrechts auf Migration argumentieren? Joseph Carens, Professor für Ethik in Toronto, plädiert eindeutig dafür, dass „Grenzen prinzipiell offen sein sollten und es den Menschen normalerweise freistehen sollte, ihren Heimatstaat zu verlassen und sich in einem anderen niederzulassen“. Um seine These zu begründen, vergleicht er die heutigen Staatsbürgerschaften westlich-wohlhabender Staaten mit den feudalen Privilegien des Mittelalters. Schließlich verbürgten sie einen ererbten Status, in den man heute hineingeboren werde und der die Lebenschancen des Besitzers deutlich erhöhe. Die rechtliche Beschränkung der Mobilität in der Moderne sei wie die gesellschaftliche Schranke einer Ständegesellschaft in früheren Zeiten, die damals nur sehr wenige überwinden konnten und die zu überwinden auch heute beinahe unmöglich sei. Soziale Ordnungen (wie etwa Staaten oder Staatsbürgerschaften) seien jedoch keine natürlichen Gegebenheiten, sondern von Menschen erschaffen worden, mithin veränderbar, argumentiert Carens. Zudem sei selbstverständlich davon auszugehen, dass alle Menschen den gleichen moralischen Wert haben. Aus diesem Grund bedarf die Beschränkung der menschlichen Freiheit (etwa durch Staatsgrenzen) einer moralischen Rechtfertigung. Denn die staatliche Kontrolle über Einwanderung begrenze die Freizügigkeit (und somit eine grundlegende menschliche Freiheit) und unterbinde durch das Kriterium der Staatsbürgerschaft die menschliche Chancengleichheit. Schließlich sei das allgemein anerkannte und gut geheißene Bekenntnis zum gleichen moralischen Wert aller Menschen auch ein Bekenntnis zu ökonomischer, sozialer und politischer Gleichheit – zumindest als wünschenswertes Ziel, behauptet Carens. Die Freizügigkeit über Staatsgrenzen hinweg sei daher genauso als ein Menschenrecht anzuerkennen, wie die Freizügigkeit innerhalb eines Staates bereits als ein solches gilt. Nicht die Ausübung einer Freiheit bedürfe der Rechtfertigung, sondern ihre Beschränkung.

Mit Carensʼ Position ist die wichtigste Stimme vorgestellt, die für ein Menschenrecht auf uneingeschränkte Mobilität plädiert. Die schwerwiegendsten Argumente der Gegenseite wurden mit Walzers und Singers Texten vorgestellt, diesen fügen einige der anderen Autoren nur im Detail Neues hinzu. So unterstreicht David Miller einmal mehr, dass Staaten souverän sein müssten und diese Souveränität das Recht auf Exklusion beinhalte, welches Recht auch nicht durch die Rechte von Immigranten außer Kraft gesetzt werden könnten. Jedoch dürften die Staaten nicht untätig bleiben, wenn Menschenrechte an vielen Orten der Welt gefährdet würden. Auch schuldeten sie den Immigranten eine „faire Begründung“, wenn sie ihnen die Einreise verweigerten. Dabei sei der kulturelle Hintergrund der Immigranten weitgehend irrelevant und nicht zu beachten, es sei denn, er könnte eine große Auswirkung auf die „nationale Identität der aufnehmenden Gesellschaft“ haben. Unterm Strich bleibe jedoch das Fazit, dass es kein allgemeines Recht auf Migration gebe. Relevant an Millers Argumentation sind somit seine wiederholten Hinweise auf die „nationalen Werte“ beziehungsweise Identität, die bei Walzer, dessen Ansichten er nahesteht, so deutlich nicht vorkommen.

Spannend und die Diskussion auf einer anderen Ebene bereichernd ist der Beitrag von Gillian Brock, die nach der (ethischen und finanziellen) Verantwortung von Emigranten fragt. Dabei geht es im Unterschied zu den bisherigen Texten um jene Personen, die gewöhnlich um eines finanziell oder sozial besseren Lebens willen ihr Heimatland verlassen, weil sie in der Fremde bessere Arbeits- und Lebensbedingungen vorfinden. Brock betont einerseits, dass es nicht die Schuld der Individuen ist, dass sie an einem Ort geboren wurden, an dem sie ihre persönlichen Talente nicht voll entfalten können. Andererseits hätten die Bürger reicher Staaten durchaus eine Pflicht, arme Gesellschaften zu unterstützen, etwa indem sie jene (gut qualifizierten) Personen aufnehmen, die einwandern wollten. Die Emigration verursacht allerdings mehrfach Nachteile im Land, dem die Emigranten den Rücken gekehrt haben. So müssen dort weniger Menschen die vorhandenen Lasten teilen, es entsteht ein Einnahmeverlust durch fehlende Abgaben und Konsumausgaben und die vorherigen Investitionen des Staates in die Ausbildung der Individuen kommen nicht derjenigen Gesellschaft zugute, welche die Mittel für diese Ausbildung aufbrachte. Die Kompensation der Verluste solle, so Brock, durch die aufnehmende Gesellschaft – denn sie profitiere ja von der Ankunft ausgebildeter Kräfte – und durch die Emigranten selbst geschehen. Letztere könnten etwa verpflichtet werden, vor ihrer Auswanderung eine Zeit lang im sie ausbildenden Land zu arbeiten oder sich von dieser Arbeit gegen eine nicht allzu geringe Gebühr freizukaufen. „Letzten Endes“, merkt auch hierzu passend Michael Blake im letzten Aufsatz des Bandes an, „stellt der Brain-Drain eine Art moralischer Tragödie dar; […] es gibt keine Lösungen, die gleichzeitig wirksam und gerecht sind“.

Das Zitat könnte gleichzeitig als Fazit der im Sammelband angestellten Überlegungen zu einer Ethik der Migration gelten: „es gibt keine Lösungen, die gleichzeitig [und sofort, F. H.] wirksam und gerecht sind“. Was beim Lesen deutlich wird, ist, dass es wohl keine einzelne, allumfassende Ethik der Migration gibt, sondern allenfalls mehrere Ethiken, die jedoch, zumindest in ihren hier vorgestellten Begründungen, nicht vollkommen überzeugen können. Das liegt im Falle dieses Sammelbands zum einen daran, dass offenbar alle Arten von Migrationen in einen Topf (oder besser gesagt: in einen Band) geworfen werden. Ist es aber gerechtfertigt und moralisch zulässig, das „Einlassbegehren“ (welch ein Euphemismus!) von Kriegsflüchtlingen mit dem von gut ausgebildeten Ärzten im gleichen Atemzug zu bewerten?

An die Seite von kommunitaristischen Philosophen wie Walzer oder Miller, die der „Lebensweise“ (Walzer) oder den „nationalen Werten“ (Miller) einer Gemeinschaft das Wort reden, lässt sich die Frage stellen, ob sie hier nicht ein undefinierbares und als einheitlich ausgegebenes Konstrukt als etwas Festes und Gegebenes ausgeben. Beide konstruieren nämlich eine monolithische (nationale/ethnische) Gemeinschaft der Aufnahmegesellschaft und stellen dieser eine als genauso einheitlich postulierte Flüchtlingsgesellschaft gegenüber. Aus demokratischer und liberaler Perspektive lässt sich hingegen mit Berechtigung fragen, ob nicht vielmehr von Individuen gesprochen werden soll, damit keine ungerechtfertigten Kollektivzuschreibungen und keine Benachteiligung aufgrund ethnisch-nationaler Kriterien erfolgen.

Auf der anderen Seite lässt sich an Carensʼ Gedankenführung etwa bei seiner Folgerung einhaken, ein Bekenntnis zum gleichen moralischen Wert von Individuen bringe ein „Bekenntnis zu ökonomischer, sozialer und politischer Gleichheit mit sich“. Hier kann sowohl die suggerierte Kausalität als auch die Aussage hinsichtlich der sozialen und ökonomischen Gleichheit hinterfragt werden. (Jedoch könnte man auch bezweifeln, ob denn wirklich sowohl Eingesessene als auch Neuankömmlinge sofort eine politische Gleichbehandlung etwa hinsichtlich des Wahlrechts genießen sollten.) So stark das Argument von Carens ist, dass wenn die Freizügigkeit innerhalb eines Landes ein Menschenrecht sei, sie auch international eines sein müsse, so wenig nachvollziehbar ist seine Behauptung, ein Bekenntnis zum gleichen moralischen Wert der Menschen bedeute auch deren soziale und ökonomische Gleichheit. Denn trotz aller struktureller Ungleichheit kann die tatsächlich existierende soziale Ungleichheit zum Teil auch mit vorhandenen beziehungsweise erbrachten Leistungen in Beziehung gesetzt werden. Warum sollte man dann davon ausgehen, dass die Menschen, nur weil sie moralisch den gleichen Wert haben, auch sozial oder ökonomisch den gleichen Wert haben sollten? Die Aussage über den gleichen moralischen Wert impliziert mitnichten die soziale und ökonomische Gleichheit der Menschen, womit jedoch eine Prämisse in Carensʼ Argumentation wegfällt. Doch selbst wenn die ökonomische, soziale und politische Gleichheit der Individuen als gegeben angenommen würde, so wurde noch nicht zweifelsfrei begründet, warum jene Gleichheiten am selben Ort verwirklicht werden müssten.

Die Aufsätze beziehungsweise Ethiken des Bandes vermögen somit nicht restlos zu überzeugen und liefern auch keine einheitliche Ethik der Migration wie es der Titel suggeriert. Der Sammelband bietet aber fraglos ein breites Panorama an unterschiedlichen Erklärungsansätzen für den Umgang mit Migration. Je nachdem, für welche Art der Migration der Leser sich interessiert, findet er hier unterschiedliche Argumentationen. Die Aufsätze sind allesamt gut lesbar und verständlich, weshalb dem Band eine große Verbreitung zu wünschen ist.

Titelbild

Frank Dietrich (Hg.): Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
270 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518298152

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch