Eine kopernikanische Wende

Barbara Sichtermann zeigt, dass der Prozess weiblicher Emanzipation zwar schon ein gutes Stück vorangeschritten ist, aber noch lange nicht abgeschlossen ist

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anders als der Untertitel Über den Prozess der Emanzipation erwarten lässt, bietet Barbara Sichtermann in ihrem Essay Viel zu Langsam viel erreicht nicht etwa einen historischen Abriss der feministischen Bewegung, sondern reflektiert meist über Verhältnisse und Sachverhalte, welche die weibliche Emanzipation befördern oder behindern, sowie über im Feminismus strittige Themen und Fragen. Doch finden sich in den zehn eher nebeneinander stehenden als auf einander aufbauenden Kapiteln des Büchleins auch Ausnahmen. Etwas anders ist es beispielsweise im Abschnitt über Sexualität, in dem Sichtermann die Entwicklung des Verständnisses der menschlichen Sexualität von der in den 1950er Jahren weitverbreiteten Überzeugung, weibliche Sexualität „hätte es nicht so mit der Lust, dafür mehr mit dem Kinderkriegen“, über die „einstigen Glücksversprechen“ der sexuellen Revolution zur Zeit der 68er-Bewegung und die daran anschließende Entdeckung der weiblichen Lust durch die Neue Frauenbewegung während der 1970er Jahre bis hin zum gegenwärtig „traurigen Befund“ in Sachen befriedigender und befreiender Sexualität nachzeichnet.

Auch macht sie zwei miteinander verknüpfte historische Bedingung der Möglichkeit weiblicher Emanzipation aus, die auf die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurückgehen: „die Verkündigung der Menschenrechte und die Konzentration der Gewalt beim Staat“. Die damit „in Bezug auf die Geschlechter“ erstmals möglich gewordene Realisierung „der Idee der Gleichheit“ habe bezüglich der „Lebenswirklichkeit“ von Frauen nicht weniger als eine „kopernikanischen Wende“ bedeutet. Denn erst wenn eine „ zivilisatorische Stufe“ erreicht ist, „welche die Gewalt als politische teilt, als körperliche ächtet und einhegt, beim Staat konzentriert und gegebenenfalls sanktioniert“, wird Frauenemanzipation Sichtermann zufolge zu einer realisierbaren Möglichkeit. Sollte dem so sein (und allem Anschein nach ist es tatsächlich so), würde Sichtermanns These erklären, warum es in der nahöstlichen Region um die Frauenemanzipation so miserabel bestellt ist.

Letztlich geht es der Autorin darum, die Frage zu beantworten, warum nach jahrhundertelangem Kampf noch immer nicht „alles gut“ ist und „warum der Zeitpunkt, an dem frau sich zurücklehnen kann und sagen: Die Arbeit ist getan, so fern“ scheint. Ein Grund lässt sich sofort und ohne Lektüre des Buches benennen: Emanzipation ist eben ein Prozess und kein Zustand. Auch, weil stets Gegenkräfte etwa von Väterrechtlern und anderen Maskulinisten dem entgegenwirken. Sichtermann aber begnügt sich nicht mit dieser doch eher allgemeinen Antwort, sondern schaut genauer hin, um „herauszuarbeiten, warum es eben doch unumgänglich ist, die Auflehnung gegen Spielarten fortwirkender Diskriminierung aufgrund des Geschlechts fortzusetzen“. Dabei bekommen auch der Dirndlliebhaber Rainer Brüderle oder die Herdprämie ihr wohlverdientes Fett weg. Stets bedient sie sich dabei einer gemeinverständlichen Sprache voller anschaulicher Bilder und eingängiger Metaphern, so dass sich das Buch flüssig liest.

Ziel der Emanzipationsbewegung, wie Sichtermann sie versteht, ist selbstverständlich kein utopisches Telos einer im Detail vorgedachten und entworfenen idealen Gesellschaft, sondern „ein Lebensraum frei von Herrschaft für beide Geschlechter“. Das klingt zwar einfach und fast banal, heißt aber, dass es um „viel mehr und auch etwas anderes als Gleichheit“ geht. Sichtermann erörtert die komplizierte Frage, „was nicht nur Gleichheit, sondern auch Differenz in und außerhalb von politischen, juristischen und sozialen Bezügen als Kategorien ausrichten können“. Denn gerade „eine Berücksichtigung von Ungleichheit“, so die Dialektikerin, könne „zu mehr Gleichheit führen“. Damit eröffnet sie „die anstrengende und verfängliche Debatte um die Verschiedenheit der Geschlechter bei Betonung des Gleichheitsprogramms im Sinne der Emanzipation“, welcher der gegenwärtige feministische Diskurs – so Sichtermanns Vorwurf – ausweicht, „weil er fürchtet, dass alles, was argumentativ vom Pfad der Gleichheit abweicht, zu Rückschritten führt“. In dieser „Flucht“ sieht sie die Ursache für die allgegenwärtigen „Transgender-Diskussionen“, die das feministischen Anliegen der Frauenemanzipation an den Rand drängen, da sie „die Existenz von Geschlechtern überhaupt“ infrage stellen.

Zunächst einmal aber lotet Sichtermann die Kategorien „angeborene Eigenschaften und epochentypische Erziehung, natürliche Anlagen und kulturelle Gepflogenheiten, genetische Ausstattung und gesellschaftliche Erwartungen“ aus. Keines dieser Momente sei einem anderen vorgängig. Vielmehr „ist immer zugleich alles da, eines durchdringt das andere, widerspricht ihm oder ergänzt es, bestätigt oder verändert es“. So sei auch die Natur „kulturell beeinflussbar und sozusagen dehnbar“, während umgekehrt „die Kultur von Natur abhängig“ sei.

Die unauflösbare Interdependenz von Natur und Kultur im menschlichen Dasein illustriert sie am Beispiel geschlechtsspezifischer Unterschiede im räumlichen Vorstellungsvermögen, die von der Neurobiologie auf den „unterschiedlichen Zustand neuronaler Vernetzungen“ im Gehirn von Frauen und Männern zurückgeführt werden. Zur Erklärung beider Phänomene verweist Sichtermann auf eine jahrausendelange Geschichte, in deren Verlauf Männer zunächst durch die Lande, später rund um den Globus reisten und die Welt eroberten, während Frauen auf Kirche und Küche sowie vielleicht noch den nächsten Markt oder Acker verwiesen waren. „Die Konsequenzen, die jene Raumfülle für die Männer und die Raumlosigkeit für die Frauen hatte und hat, sind gewaltig“, argumentiert sie und konstatiert fast im Sinne einiger jüngerer Thesen in der Epigenetik, dies gelte auch für die jeweiligen neuronalen Netze im Gehirn.

Ein Primat der Natur scheint Sichtermann hingegen anzunehmen, wenn sie „die These, Mutterliebe sei eine vom Patriarchat aufgezwungene Degeneration weiblicher Gefühle“, ins „Reich der Fabel“ verweist und stattdessen erklärt, „die Bezogenheit von Müttern auf ihre Kinder“ sei „natürlich und das Bedürfnis der Mutter, ihr Kind bei sich zu haben, glückshormongestützt“. Warum sie an dieser Stelle entgegen ihrer sonstigen Ausführungen plötzlich einen Kultur/Natur-Gegensatz aufmacht, bleibt unerklärlich. Wesentlich einleuchtender klingt, wenn sie einige Seiten später in anderem Zusammenhang zu der Metapher greift, „dass die Biologie in einem kulturellen Bett fließt und die Kultur sich immer mit natürlichen Bedingungen arrangieren muss.“

Zu diesem Bild findet Sichtermann im Abschnitt über Gewalt, in dem sie zwar mutmaßt, „Frauen hätten sich kaum den männlichen Vormund so lange gefallen lassen, wenn er ihnen nicht auch gefallen hätte“, jedoch versäumt, der Frage nachzugehen, warum es ihnen den gefallen haben könnte, unter Kuratel gestellt zu sein – wenn dem denn tatsächlich so gewesen sein sollte. Überzeugend ist jedenfalls ihre im gleichen Abschnitt aufgestellte und zunächst provokant anmutende These, „dass Frauen die ursprünglich zivilisierten und zivilen Wesen sind“. Sichtermann plausibilisiert dies mit dem Verweis auf die statistisch geringere weiblichen Körperkraft, die Frauen zwang, „Zivilisationstechniken“ zu entwickeln, um sich vor männlicher Gewalt zu schützen und ihre Interessen zu wahren. Frauen seien darum nicht „als Geschlechtswesen gewaltfrei“, sondern als solche „einer überlegenen männlichen Gewalt ausgesetzt, bevor sie sich noch, als Individuen, entscheiden können, ob sie sich in den elementaren kämpferischen Disziplinen […] üben wollen oder nicht“.

Im Abschnitt „Liebe“ wiederum setzt die Autorin die zur Zeit der Romantik gepflegte Vorstellung über dieses vielleicht stärkste aller Gefühle wieder in ihr Recht und wartet mit der überraschenden These auf, dass nicht Frauen, sondern Männer „das gefühlsstärkere Geschlecht sind“, denn „die Vielfalt an Erfahrungen, die Männer in aller Regel den Frauen voraus haben“, trage dazu bei, „dass sich auch ihre Gefühle, Affekte und Leidenschaften ausfächern, dass ihr gesamtes Innenleben sich variantenreich entwickelt“.

Getrennt von der Liebe behandelt die Autorin im anschließenden Kapitel die Sexualität beziehungsweise den Sex, den sie auf die „Faustformel“ bringt, er sei „zugleich sublim und animalisch“. Fehle eines dieser beiden Momente, werde er „nicht gut, sondern nur anstrengend“. Zudem erinnert sie im Zusammenhang mit dem vor knapp einem halben Jahrhundert hart ausgetragenen Kampf um die Abschaffung des § 218, an die „Absurdität, die darin lag, dass in wallende Soutanen gewandete hässliche alte Männer, die nach den Regeln ihres Vereins niemals Sex gehabt hatten, die Lebenswege schöner junger Frauen durchkreuzen konnten“. Ihre Erklärung, dass das Christentum in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg an Relevanz gewann, weil „die Leerstelle“ gefüllt werden musste, „die von der diskreditierten Naziideologie hinterlassen worden war“, und die christliche Religion „ein paar Rituale“ zu bieten hatte, bei denen sich die Deutschen „feierlich fühlen“ konnten, klingt hingegen etwas schlicht.

Dafür wird Sichtermann hochaktuell, wenn sie am Ende des der Erwerbsarbeit geltenden Kapitels beklagt, dass die Politik „versäumt, auf das vor-neuzeitliche Frauenbild von Zuwanderern einzuwirken“. Gegen „das Einschleppen der patriarchalischen Gehorsamskultur“ gelte es, eine „Anpassung an unsere Werte zu verlangen“. Mit anderen Worten, Sichtermann fordert von Zugewanderten – zumindest in dieser Hinsicht – nicht nur Integration, sondern Assimilation. Vor allem die „westlichen Frauen“ dürften dies erwarten. Schließlich hätten sie lange für die nun erreichte Unabhängigkeit kämpfen müssen. Man sollte ihnen also nicht zumuten, „jetzt wieder von Male-Chauvinisten scheel angesehen zu werden, weil sie arbeiten gehen oder kinderlos bleiben wollen“. Im Übrigen sei der „gleichberechtigte Status“ der Frauen natürlich nicht nur gegen „rückständige Neubürger resolut zu verteidigen“, sondern ebenso sehr gegen „die Ewiggestrigen in unseren westlichen Gesellschaften, die es immer noch gibt und die mit dem Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien Rückenwind verspüren“.

Sichtermanns Positionen liegen in mancher Hinsicht quer zu den Frontverläufen zwischen Radikalem Feminismus und Queeraktivismus, der EMMA- und der Missy Magazine-Redaktion oder – um es einmal zu personalisieren – der Haltung Alice Schwarzers und derjenigen von Anne Wizorek, neigen aber doch eher den jeweils ersteren zu. Wird man auch nicht jeden einzelnen Standpunkt der Autorin übernehmen wollen, so doch etliche. Und wenn sie ihr Essay mit dem Fazit beschließt, gerade in dieser Zeit gelte es, für die wieder „fragilen“ Frauenrechte „einzutreten, sie auszugestalten, für die Zukunft anzureichern und immer wieder oben auf die Prioritätenliste zu setze“, lässt sich das nur unterschreiben.

Titelbild

Barbara Sichtermann: Viel zu langsam viel erreicht. Über den Prozess der Emanzipation.
zu Klampen Verlag, Springe 2017.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866745568

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